Urteil des OLG Stuttgart vom 30.07.2015

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OLG Stuttgart Beschluß vom 30.7.2015, 1 Ausl 218/15
Rechtshilfeersuchen eines türkischen Gerichts: Vernehmung einer in der Türkei
angeklagten deutschen Staatsangehörigen bei bereits rechtskräftiger
Verurteilung in Deutschland
Leitsätze
Die Leistung von Rechtshilfe in Form der Vernehmung eines in der Türkei
angeklagten, in Deutschland lebenden deutschen Staatsangehörigen ist auch dann
zulässig, wenn dieser wegen Taten, denen derselbe Sachverhalt zugrunde liegt, in
Deutschland bereits rechtskräftig verurteilt wurde.
Tenor
Es wird festgestellt, dass die Voraussetzungen für die Leistung von Rechtshilfe
aufgrund des Ersuchens des Schwerstrafgerichts Bakirköy-Istanbul, 11. Kammer, vom
28. Juli 2014
v o r l i e g e n .
Gründe
I.
1 Das türkische Generalkonsulat in Stuttgart hat mit Schreiben vom 18. November
2014 ein Rechtshilfeersuchen des Schwerstrafgerichts Bakirköy-Istanbul, 11.
Kammer, vom 28. Juli 2014 übermittelt. Dem Ersuchen liegt ein Strafverfahren
gegen mehrere Angeklagte, darunter gegen die deutsche Staatsangehörige H.
zugrunde. Mit Anklageschrift der Hauptstaatsanwaltschaft zu Bakirköy vom 13.
März 2013 (Az. 2013-749) wird der Angeklagten und 15 weiteren Personen zur
Last gelegt, bis zum 26. Juni 2005 als Mitglieder einer Organisation, die zum
Zwecke der Begehung von Taten des Exports von Betäubungsmitteln gegründet
wurde, mit Betäubungsmitteln Handel getrieben zu haben. Die Angeklagte H. wird
beschuldigt, in der Zeit von Februar 2005 bis April 2005 in mehreren Fällen bei in
der Türkei wohnhaften Mitangeklagten Heroin gekauft zu haben. Das
Schwerstrafgericht Bakirköy-Istanbul, 11. Kammer, bittet im Wege der Rechtshilfe
um Vernehmung der in Deutschland lebenden Angeklagten zu der gegen sie
erhobenen Anklage.
2 Das Landgericht Tübingen hat am 26. November 2014 die Rechtshilfe bewilligt und
die Sache mit Schreiben vom 26. Januar 2015 an das für die Vornahme der
Rechtshilfehandlung zuständige Amtsgericht Reutlingen übersandt.
3 Das Amtsgericht Reutlingen hat am 8. Juni 2015 beschlossen, die Sache gemäß §
61 Abs. 1 IRG dem Oberlandesgericht zur Entscheidung vorzulegen. Es vertritt die
Auffassung, dass die Leistung von Rechtshilfe unzulässig sei. Die Vernehmung
der Angeklagten würde gegen das Doppelbestrafungsverbot verstoßen, da die
Angeklagte aufgrund derselben Vorwürfe bereits durch Urteil des Amtsgerichts
Reutlingen vom 19. Dezember 2005 zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei
Jahren und sechs Monaten verurteilt wurde. Darüber hinaus laufe die erbetene
Rechtshilfe ins Leere, weil eine spätere Auslieferung der Angeklagten aufgrund
ihrer deutschen Staatsangehörigkeit nur im Rahmen des § 80 Abs. 1 Nr. 1 IRG in
Betracht käme, was zu einer neuerlichen Strafvollstreckung in Deutschland und
damit faktisch eben doch zu einer Doppelbestrafung führen würde.
4 Die Generalstaatsanwaltschaft Stuttgart hat mit Schreiben vom 1. Juli 2015 die
Akten vorgelegt und erklärt, dass vor dem Hintergrund des § 9 IRG und dem
Umstand, dass eine Auslieferung wegen der deutschen Staatsangehörigkeit der
Angeklagten weder zur Strafverfolgung noch zur Strafvollstreckung zulässig sein
dürfte, die Zulässigkeit der beantragten Beschuldigtenvernehmung zumindest
fraglich sein dürfte.
II.
5 Die Vorlage der Sache durch das Amtsgericht Reutlingen ist nach § 61 Abs. 1 Satz
1 IRG zulässig. Entgegen der Auffassung des Amtsgerichts liegen die
Voraussetzungen für die Leistung von Rechtshilfe vor.
1.
6 Rechtsgrundlage für die Gewährung von Rechtshilfe ist vorliegend Art. 1 Abs. 1
EuRhÜbK, vgl. § 1 Abs. 3 IRG. Unter diese Rechtshilfeverpflichtung fällt auch die
Vernehmung einer deutschen Staatsangehörigen, gegen die in der Türkei Anklage
erhoben wurde, durch einen deutschen Richter (vgl. OLG Celle, Beschluss vom 5.
Februar 2013, 1 Ausl 60/12, juris Rn. 9; OLG Karlsruhe, NJW 1990, 2208, zitiert
nach juris; OLG Köln, Beschluss vom 12. Februar 2004, Ausl 25/04, zitiert nach
juris).
2.
7 Grundsätzlich umfasst der Sachverhalt, aufgrund dessen die Angeklagte -
zusammen mit ihrem damaligen Ehemann V. H. - vom Amtsgericht Reutlingen am
19. Dezember 2005 wegen jeweils zehn Verbrechen des gemeinschaftlichen
unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in
Tateinheit mit je einem Verbrechen des gemeinschaftlichen unerlaubten Besitzes
von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge, wobei die Taten aufgrund von
Betäubungsmittelabhängigkeit begangen wurden, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe
von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt wurde, auch die Taten, die -
hinsichtlich der Angeklagten H. - der Anklageschrift der Hauptstaatsanwaltschaft
zu Bakirköy vom 13. März 2013 zugrunde liegen. Entscheidend ist insoweit der
gleiche Lebenssachverhalt und nicht die jeweils unterschiedliche rechtliche
Würdigung der Ereignisse nach deutschem und nach türkischem Recht. Der
Strafklageverbrauch steht der Leistung von Rechtshilfe vorliegend aber nicht
entgegen.
8 Nach deutschem Recht verbürgt Art. 103 Abs. 3 GG den Grundsatz der
Einmaligkeit der Strafverfolgung (vgl. Schomburg in
Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 5.
Auflage, Exkurs vor Art. 54 SDÜ, Rn. 5, S. 1667), verwehrt wird hierdurch
grundsätzlich allerdings nur eine mehrmalige Verurteilung eines Straftäters durch
deutsche Gerichte (BVerfGE 75, 1, juris Rn. 37; BVerfG, Beschluss vom 15.
Dezember 2011, 2 BvR 148/11, juris Rn. 32). Art. 103 Abs. 3 GG i.V.m. § 59 Abs. 3
IRG hindert die Leistung von Rechtshilfe daher nicht, da vorliegend nicht das
Verhältnis zwischen deutschen Gerichten betroffen ist. § 59 Abs. 3 IRG soll
gewährleisten, dass die gesetzlichen Beschränkungen, die für innerdeutsche
Verfahren gelten (wie die Einschränkungen bei Zwangsmaßnahmen,
Beschlagnahmeverbote, Beachtung des Steuergeheimnisses u. ä.), auch bei der
Leistung von Rechtshilfe für ausländische Staaten Beachtung finden (vgl. Lagodny
in Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner, a.a.O., § 59 IRG, Rn. 31). Daraus kann
jedoch nicht abgeleitet werden, es sei nur für solche ausländischen Verfahren
Rechtshilfe zu leisten, die der deutschen Strafprozessordnung entsprechen (OLG
Frankfurt, Beschluss vom 18.10.2000, 2 Ausl II 25/00, juris Rn. 6). Im
Rechtshilferecht entscheidet über die Wirksamkeit eines Verfahrensaktes vielmehr
das Recht, in dessen Geltungsbereich dieser Verfahrensakt vorgenommen wurde
(OLG Celle, a.a.O., juris Rn. 11). Dies ist vorliegend das türkische Recht, auf
dessen Grundlage das Schwerstrafgericht Bakirköy-Istanbul, 11. Kammer,
entschieden hat, die Angeklagte in Deutschland richterlich vernehmen zu lassen.
Diese Entscheidung - sowie die spätere Verwertbarkeit dieser Vernehmung - ist
der Nachprüfung durch deutsche Stellen entzogen (OLG Celle, a.a.O., juris Rn.
11).
9 Eine umfassende Geltung des Grundsatzes ne bis in idem war bei Inkrafttreten des
Grundgesetzes nicht anerkannt; vielmehr bezog sich dieser Grundsatz
ausschließlich auf innerstaatliche Sachverhalte (BVerfG, Beschluss vom 4.
Dezember 2007, 2 BvR 38/06, juris Rn. 11f.). Eine entsprechende Regel des
Völkerrechts im Sinne des Art. 25 Satz 1 GG ist auch heute nicht feststellbar
(BVerfGE 75, 1, juris Rn. 59; BVerfG, Beschluss vom 4. Dezember 2007, 2 BvR
38/06, juris Rn. 21; BVerfG, Beschluss vom 15. Dezember 2011, 2 BvR 148/11,
juris Rn. 31; OLG Nürnberg, Beschluss vom 19. März 2014, 2 Ws 98/14, juris Rn.
26; Schomburg in Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner, a.a.O., Art. 54 SDÜ, Rn. 3).
Vielmehr sehen Staaten gerade die Ausgestaltung und Ausübung ihrer Strafgewalt
als wesentliches souveränes Recht an (BVerfG, Beschluss vom 4. Dezember
2007, 2 BvR 38/06, juris Rn. 30).
3.
10 Von der Frage der Zulässigkeit der Rechtshilfeleistung in Form der Vernehmung
der Angeklagten durch ein deutsches Gericht ist die (sich möglicherweise
anschließende) Frage der Auslieferung der Angeklagten an die Türkei zu
unterscheiden. Hierfür gelten gesonderte Vorschriften, insbesondere Art. 9
EuAlÜbk, der einer Mehrfachverfolgung durch beide Vertragsstaaten in Form eines
Auslieferungshindernisses entgegenwirken soll, wenn der Verfolgte wegen
derselben Tat im ersuchten Staat bereits rechtskräftig abgeurteilt wurde (OLG
Karlsruhe, Beschluss vom 17. April 1985, 1 AK 15/08, zitiert nach juris). Dieses
Auslieferungshindernis hat allerdings seinen Ursprung eher in dem Anspruch des
Individualstaates, Entscheidungen der eigenen Justiz von äußeren Einflüssen
freizuhalten und eigene Staatsangehörige vor einem Zugriff fremder
Justizordnungen zu schützen (Schomburg in Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner,
a.a.O., Exkurs zu Art. 54 SDÜ, Rn. 10, S. 1668).