Urteil des OLG Köln vom 21.09.1999

OLG Köln: wichtiger grund, untersuchungshaft, haftbefehl, persönliche freiheit, fortdauer, fluchtgefahr, anklageschrift, zustellung, anschluss, akte

Datum:
Gericht:
Spruchkörper:
Entscheidungsart:
Schlagworte:
Normen:
Leitsätze:
Tenor:
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Aktenzeichen:
Oberlandesgericht Köln, HEs 165/99 - 203 -
21.09.1999
Oberlandesgericht Köln
2. Strafsenat
Beschluss
HEs 165/99 - 203 -
Haftbefehl; Verhältnismäßigkeit; Überlastungsanzeige
StPO § 120
Führt die verzögerliche Anzeige der Überlastung dazu, dass das
Präsidium erst verspätet über Entlastungsmaßnahmen befinden kann,
kann dies zur Aufhebung des Haftbefehls wegen Unverhältnismäßigkeit
führen.
Der Haftbefehl des Landgerichts Aachen (61 KLs 32 Js 269/96 - 31/98)
vom 14. Januar 1999 wird aufgehoben.
G r ü n d e
I.
In dem seit dem Jahre 1996 anhängigen Ermittlungsverfahren hat die Staatsanwaltschaft
Aachen unter dem 21. Dezember 1998 Anklage erhoben. Gegenstand der Anklageschrift
sind dreißig Fälle des Betruges und vierzehn Fälle des gefährlichen Eingriffs in den
Straßenverkehr, in zwei Fällen in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung; der
Angeklagte soll zwischen Juli 1991 und Juli 1996 absichtlich Verkehrsunfälle provoziert
haben, um Ansprüche gegen die Versicherungsgesellschaften der Unfallgegner
durchzusetzen.
Zugleich mit der Anklageerhebung hat die Staatsanwaltschaft beantragt, gegen den bis
dahin auf freiem Fuß befindlichen Angeklagten Haftbefehl zu erlassen; dies u. a. mit der
Begründung, dieser werde nunmehr erstmalig mit dem Beweisergebnis des
Ermittlungsverfahrens konfrontiert. Die zunächst mit dieser Sache befasste 1. große
Strafkammer des Landgerichts Aachen (61 KLs 31/98) hat entsprechend diesem Antrag am
14. Januar 1999 Haftbefehl, gestützt auf den Haftgrund der Fluchtgefahr, erlassen. Der
Angeklagte ist am 10. März 1998 festgenommen worden und befindet sich seit dieser Zeit
in dieser Sache ununterbrochen in Untersuchungshaft. Nach der Verkündung des
Haftbefehls ist die Anklageschrift am 12. März 1999 mit einer Erklärungsfrist von einer
Woche zugestellt worden.
Unter dem 28. Juni 1999 hat der Vorsitzende der 1. großen Strafkammer angezeigt, dass
eine Terminierung derzeit nicht möglich sei, da von Ende Juli 1999 bis voraussichtlich
mindestens Januar 2000 vor dieser Strafkammer eine anderweitige Umfangssache
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verhandelt werde. Die Sache ist durch Beschluss des Präsidiums des Landgerichts
Aachen vom 28. Juli 1999 auf die 3. große Strafkammer dieses Gerichts übertragen
worden. Diese hat mit Beschluss vom 16. August 1999 (63 KLs 7/99) das Hauptverfahren
eröffnet. Beginn der Hauptverhandlung ist nunmehr auf den 22. Oktober 1999 bestimmt.
Die Akten sind dem Senat zur Entscheidung über eine Fortdauer der Untersuchungshaft
nach §§ 121, 122 StPO vorgelegt worden.
II.
Dem Antrag auf Haftfortdauer kann nicht entsprochen werden. Der Haftbefehl ist
aufzuheben (§ 121 Abs. 2 StPO), weil die Voraussetzungen für eine Fortdauer der
Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus nach § 121 Abs. 1 StPO nicht vorliegen.
1.
Der Angeklagte ist allerdings der ihm zur Last gelegten Taten aufgrund der in der
Anklageschrift vom 21. Dezember 1998 im Einzelnen aufgeführten Beweismittel dringend
verdächtig.
Zum Haftgrund der Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO) erscheint jedoch schon die
Begründung in dem Haftbefehl vom 14. Januar 1999 nicht bedenkenfrei. Die Strafkammer
geht selbst davon aus, dass keine Anzeichen dafür bestehen, dass der Angeklagte im
Verlauf des Ermittlungsverfahrens versucht hat, sich diesem zu entziehen. Richtig ist zwar
sodann, dass der Angeklagte nach Anklageerhebung erstmals "konkret" mit dem
Beweisergebnis und mit der Vielzahl und Schwere der Tatvorwürfe konfrontiert wird; damit
musste er jedoch - wenn er die ihm vorgeworfenen Taten wie in dem angeklagten Umfang
tatsächlich begangen hat - ohnehin rechnen. Soweit die Strafkammer in dem
Haftprüfungstermin vom 11. Mai 1999 zur Begründung der Fluchtgefahr auch darauf
abgestellt hat, der Angeklagte verkrafte die Haftsituation nicht, kann eine
Auseinandersetzung hiermit - der Senat verfügt nicht über den persönlichen Eindruck von
dem Angeklagten, den die Mitglieder der Strafkammer gewonnen haben - ebenso
dahinstehen wie mit der Frage des Gesundheitszustandes und der Haftfähigkeit des
Angeklagten. Der Haftbefehl muss nämlich jedenfalls aus den Gründen nachstehend zu 2.
aufgehoben werden.
2.
Die Untersuchungshaft darf nach § 121 Abs. 1 StPO über sechs Monate hinaus nur dann
aufrechterhalten werden, wenn die besondere Schwierigkeit oder der besondere Umfang
der Ermittlungen oder ein anderer wichtiger Grund ein Urteil noch nicht zulassen und die
Fortdauer der Haft rechtfertigen. An einem solchen wichtigen Grund fehlt es.
a)
Wie in der Rechtsprechung anerkannt ist (vgl. u. a. BGH NStZ 91, 546;
Senatsentscheidung MDR 91, 662, 663 und ständige Rechtsprechung des Senats) und
vom Bundesverfassungsgericht gerade in neuerer Zeit nochmals nachhaltig betont wurde
(BVerfG StV 91, 307 = NStZ 91, 397; NStZ 91, 397, 398; StV 98, 557, 558; vgl. auch
BVerfGE 46, 194, 195), ist die Anordnung und Fortdauer der Untersuchungshaft nur dann
zulässig, wenn und soweit der legitime Anspruch der staatlichen Gemeinschaft auf
vollständige Klärung der Tat und rasche Bestrafung des Täters nicht anders als durch
vorläufige Inhaftierung des Verdächtigen gesichert werden kann. Dabei erlaubt die
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Vorschrift des Art. 2 Abs. 2 GG den Eingriff in die persönliche Freiheit einer Person nur so
lange, wie es zur Durchführung des Strafverfahrens unumgänglich notwendig ist. Gerichte
und Strafverfolgungsbehörden haben deshalb alle zumutbaren Maßnahmen zu ergreifen,
um die Ermittlungen so schnell wie möglich zum Abschluss zu bringen und eine
gerichtliche Entscheidung über die dem Beschuldigten vorgeworfenen Taten
herbeizuführen. Versäumnisse der Strafrechtspflege dürfen selbst dann nicht zu Lasten
eines Beschuldigten gehen, wenn dieser schwerer Straftaten dringend verdächtig ist (vgl.
BGH NStZ 91, 546; dem folgend auch die Rechtsprechung des Senats, vgl. etwa Senat StV
92, 524).
Dabei folgt aus dem grundrechtlichen Schutz des einem nicht verurteilten Beschuldigten
zustehenden Freiheitsrechts aus Art. 2 Abs. 2 GG sowie aus der Geltung des
Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, der der Untersuchungshaft auch unabhängig von der zu
erwartenden Strafe Grenzen setzt, die Notwendigkeit, dass die Vorschrift des § 121 Abs. 1
StPO als Ausnahmeregelung grundsätzlich eng auszulegen ist (BVerfG StV 92, 123; BGH
NStZ 91, 546, 547).
b)
Diesen Anforderungen wird - wie dies auch die Antragsschrift der
Generalstaatsanwaltschaft nicht verkennt - die Verfahrensweise in der vorliegenden Sache
zwischen dem Eingang der Anklage vom 21. Dezember 1998 und der
Überlastungsanzeige des Vorsitzenden der 1. Strafkammer vom 28. Juni 1999 nicht
gerecht.
Nachdem zunächst schon unter dem 14. Januar 1999 der beantragte Haftbefehl erlassen
worden war und die Akten unter dem 18. Januar 1999 der Staatsanwaltschaft zur weiteren
Veranlassung zugeleitet wurden, kam es aus Gründen, die der Akte nicht zu entnehmen
sind, erst am 10. März 1999 zu der Festnahme des Angeklagten in dessen Wohnung.
Diese Verzögerung erfolgte zwar zu einem Zeitpunkt, da sich der Angeklagte noch in
Freiheit befand. Sie hat aber dennoch Auswirkung auf die Dauer der späteren
Untersuchungshaft, weil es ihretwegen erst am 12. März 1999 zur Zustellung der Anklage
im Anschluss an die Haftbefehlsverkündung kam und von daher der weitere Zeitablauf
beinflusst wurde, der letztlich am 28. Juni 1999 die Überlastungsanzeige des Vorsitzenden
der 1. großen Strafkammer veranlasste.
Nachdem unter dem 12. März 1999 die Zustellung der Anklage mit einer Erklärungsfrist von
nur einer Woche veranlasst worden war, sind in der Hauptsache verfahrensfördernde
Maßnahmen bei der 1. Strafkammer bis zu der Überlastungsanzeige vom 28. Juni 1999
nicht mehr festzustellen. Der Beschluss vom 29. März 1999 über die vorläufige Entziehung
der Fahrerlaubnis und die Durchführung des Haftprüfungstermins vom 11. Mai 1999
betrafen ebensowenig Entscheidungen in der Sache selbst im Hinblick auf eine zukünftige
Hauptverhandlung wie die ansonsten der Akte noch zu entnehmenden
Briefbeschlagnahmen. Obwohl die Strafkammer mit dem Haftbefehl vom 14. Januar 1999
sogar dringenden Tatverdacht bejaht hatte, ist nach Ablauf der Erklärungsfrist im Anschluss
an die Zustellung der Anklage ein - nur hinreichenden Tatverdacht erfordernder -
Eröffnungsbeschluss nach § 203 StPO durch die 1. Strafkammer nicht ergangen. Auch der
Verteidigerwechsel (von Rechtsanwalt S. auf Rechtsanwältin St. - in der Zeit zwischen 31.
März 1999 und dem 29. April 1999 -) hatte auf die Verfahrensweise keinen Einfluss.
Hat es somit seit Eingang der Anklage bei der 1. Strafkammer (die ausweislich der
Zweitakte spätestens am 29. Dezember 1998 erfolgte) sechs Monate gedauert, ehe die
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Überlastungsanzeige vom 28. Juni 1999 erfolgte (ohne dass bis dahin eine Eröffnung des
Hauptverfahrens oder frühere Terminierungsversuche festzustellen wären), so hat dies im
Ergebnis dazu geführt, dass die bis zu dieser Überlastungsanzeige schon mehr als drei
Monate andauernde Untersuchungshaft bis zum nunmehr vorgesehenen Beginn der
Hauptverhandlung mehr als sieben Monate andauern würde. Zwar haben nämlich der
Präsidiumsbeschluss des Landgerichts Aachen vom 28. Juli 1999 und der sich dem
sogleich anschließende Eröffnungsbeschluss der nunmehr zuständig gewordenen 3.
Strafkammer dem in Haftsachen geltenden besonderen Beschleunigungsgebot nunmehr
Rechnung getragen. Es hat dies aber dazu geführt, dass wegen nunmehriger Verhinderung
des Verteidigers im September und Oktober 1999 (die nicht zu Lasten des Angeklagten
berücksichtigt werden darf, zumal seitens des Vorsitzenden der 3. Strafkammer nach
Übertragung der Sache erst im August 1999 der Versuch von Terminsabsprachen
unternommen werden konnte) Termin zur Hauptverhandlung nicht vor dem 18. Oktober
1999 hätte bestimmt werden können.
Unter diesen Umständen liegt aufgrund des Verfahrensablaufs seit Ende Dezember 1998
insgesamt kein wichtiger Grund vor, der nach dem Ausnahmetatbestand des § 121 Abs. 1
StPO eine Fortdauer der Untersuchungshaft auch noch Ablauf der sechs-Monats-Frist
rechtfertigen würde.