Urteil des OLG Hamm vom 16.06.1999

OLG Hamm: berechnung des invaliditätsgrades, versicherer, avb, maler, berufsunfähigkeit, erblindung, zusatzversicherung, begriff, unfallversicherung, lebensstellung

Oberlandesgericht Hamm, 20 U 32/99
Datum:
16.06.1999
Gericht:
Oberlandesgericht Hamm
Spruchkörper:
20. Zivilsenat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
20 U 32/99
Vorinstanz:
Landgericht Bochum, 3 O 53/97
Tenor:
Die Berufung der Beklagten gegen das am 23. November 1998
verkündete Urteil der 3. Zivilkammer des Landgerichts Bochum wird
zurückgewiesen.
Das erstinstanzliche Urteil wird in seinem ersten Absatz wie folgt neu
gefaßt:
Es wird festgestellt, daß die Beklagte verpflichtet ist, ab Februar 1997
über die frei-willig gezahlte monatliche Invaliditätsrente von 70 % hinaus
weitere 30 % Invalidi-tätsrente bedingungsgemäß an den Kläger zu
zahlen.
Die Beklagte trägt die Kosten der Berufung.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Entscheidungsgründe
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Der Kläger nimmt die Beklagte aus einer Invaliditäts-Zusatzversicherung - vereinbart
sind die Besonderen Bedingungen für die Invaliditäts-Zusatzversicherung (Bl. 21 d. A.) -
auf Gewährung bedingungsgemäßer Leistungen ab Februar 1994 in Anspruch. Nach §
1 Ziffern 1 und 2 AVB ist die Beklagte bei einer Invalidität von mindestens 75 % ganz,
von mindestens 25 % entsprechend dem Grad der Invalidität zur Gewährung der
versprochenen Leistungen (Rentenzahlung und Beitrasgsbefreiung) verpflichtet.
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Der Kläger macht geltend, seit Dezember 1994 in seinem Beruf als selbständiger
Malermeister (Ein-Mann-Betrieb) aufgrund einer Erblindung seines linken Auges sowie
orthopädischer Beschwerden zu mindestens 75 % invalide zu sein.
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Aufgrund einer mit dem Kläger getroffenen Vereinbarung (Bl. 49 d.A.) hat die Beklagte
bedingungsgemäße Leistungen für die Zeit vom 1.1.1995 bis 28.2.1996 in vollem
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Umfang erbracht. Für die Folgezeit hat sie - zunächst ebenfalls aufgrund mit dem Kläger
getroffener Vereinbarungen, ab 07.01.1997 aufgrund eines bedingungsgemäßen
Anerkenntnisses (Bl. 40 d. A) - die Rentenzahlung und Beitragsbefreiung zu 50 %
fortgeführt.
Mit der Klage begehrt der Kläger die Feststellung, daß die Beklagte verpflichtet ist, ihm
ab Februar 1997 über die freiwillig monatlich gezahlte Invaliditätsrente von 50 % weitere
50 % Invaliditätsrente zu zahlen. Darüber hinaus begehrt er die Verurteilung der
Beklagten zur Rentenzahlung (50 %-Anteil) für die Zeit von März 1996 bis Januar 1997
sowie die Rückzahlung des 50 %-Anteils der für diesen Zeitraum entrichteten Beiträge.
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Die Beklagte hat sich zunächst auf den Standpunkt gestellt, ein höherer Invaliditätsgrad
als 50 % sei nicht nachweisbar. Nachdem der gerichtliche Sachverständige Dr. in
seinem neurologisch/neurophysiologischen Gutachten vom 4.7.1998 (Bl. 152 ff d. A.)
einen Invaliditätsgrad von 70 % genannt hatte, hat die Beklagte anerkannt, nach diesem
erhöhten Invaliditätsgrad leistungsverpflichtet zu sein, und entsprechende
Nachzahlungen geleistet.
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Durch das angefochtene Urteil hat das Landgericht die Beklagte zur vollen
Leistungserbringung verurteilt. Die hiergegen gerichtete zulässige Berufung der
Beklagten hatte bis auf die im Tenor aufgeführte Klarstellung keinen Erfolg. Der
Versicherer ist dem Kläger zur Erbringung der bedingungsgemäßen Leistungen im
ausgeurteilten Umfang verpflichtet.
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1.
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Von den Parteien unerörtert ist die Frage, ob die erste Leistungszusage der Beklagten
vom 19.6.1995 (Bl. 49 d.A.) als bindendes Anerkenntnis im Sinne des § 5 AVB gewertet
werden kann. Immerhin hat der Versicherer für ein Jahr volle Leistungen versprochen
und auch erbracht. Bis zum 19.06.1995 bestand ausreichend Zeit zur Leistungsprüfung,
weil der Kläger bereits unter dem 16.02.1995 einen ausführlichen schriftlichen
Leistungsantrag (Bl. 50 ff d.A.) gestellt hatte und auch der augenärztliche Befundbericht
Prof. G am 22.03.1995 (Bl. 65 f d.A.) eindeutig war. Der im Schreiben der Beklagten vom
26.11.1996 (Bl 35 f d.A.) aufgezeigte Gesichtspunkt, der Invaliditätsgrad könne aufgrund
eines gewissen Gewöhnungsprozesses bezüglich der Augenerkrankung "nach
gegebener Zeit" sinken, rechtfertigt das Absehen von einem Anerkenntnis im Sinne des
§ 2 Abs. 3 AVB nicht.
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Ob gleichwohl in Anbetracht der Tatsache, daß die Leistungszusage vom 19.06.1995
nicht einseitig vom Versicherer abgegeben, sondern mit dem Kläger vereinbart worden
ist, entscheidend gegen die Anerkenntnisqualität des Schreibens spricht, kann indes
offenbleiben. Auch nach den allgemeinen Regeln ist die Beklagte nämlich zur
Gewährung bedingungsgemäßer Leistungen in Höhe von 100 % verpflichtet.
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2.
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Durch welche gesundheitlichen Einschränkungen der Kläger in seiner beruflichen
Tätigkeit als selbständiger Malermeister (ohne Mitarbeiter) behindert ist, ist in der
Berufungsinstanz unstreitig:
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- Im Vordergrund steht die komplette Erblindung auf dem linken
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Auge, die zu einer Aufhebung des räumlichen Sehvermögens sowie
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zu einer Einschränkung des gesamten Gesichtsfeldes führt.
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- Hinzu kommen orthopädische Beschwerden, die durch eine
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Gonartharose und Retropatellararthrose beidseits ausgelöst
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werden.
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In dem von beiden Parteien akzeptierten orthopädischen Gut-
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achten Dr. M vom 6.7.1996 (Bl. 67 ff d.A.) wird be-
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stätigt, daß aufgrund der röntgenologisch dargestellten Auf-
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braucherscheinungen im Bereich beider Kniegelenke die vom
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Kläger geklagten Gelenkschmerzen bei Belastung glaubhaft sind.
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Sie behindern ihn bei der Ausübung seines Berufs, insbesondere
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bei Tätigkeiten wie dem Steigen auf Leitern und Gerüste sowie
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bei Fußbodenarbeiten.
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Zu Recht ist das Landgericht der vom gerichtlichen Sachverständigen vorgenommenen
Bezifferung des Invaliditätsgrades auf (lediglich) 70 % nicht gefolgt. Der Gutachter hat
sich dabei offensichtlich an der Gliedertaxe der AUB 88 orientiert, die für den Verlust
eines Auges einen Invaliditätsgrad von 50 % vorsieht. Hinzugerechnet hat er dazu die
orthopädischen Beeinträchtigungen, die im Gutachten Dr. Menge mit einem
Invaliditätsgrad von 10 % bewertet worden sind, sowie eine "denkbare zusätzliche
Einschätzung durch den Ausfall es Gleichgewichtsapparates".
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Eine derartige Berechnung des Invaliditätsgrades ist unbrauchbar, weil es hier der
Sache nach nicht um eine Invalidität im Sinne der privaten Unfallversicherung sondern
um eine Berufsunfähigkeit geht. Aus der Anspruchsdefinition des § 2 AVB ergibt sich,
daß der hier verwendete Begriff der "Invalidität" mit dem der "Berufsunfähigkeit" im
Sinne der MB-BUZ 1990 identisch ist. Entscheidend ist deshalb, ob der Kläger aus
gesundheitlichen Gründen seine bisherige Berufstätigkeit als Malermeister nicht mehr
zu mindestens 75 % ausüben kann. Mit dem Landgericht ist auch der Senat der
Auffassung, daß aufgrund der unstreitigen körperlichen Beeinträchtigung des Klägers
sein Restleistungsvermögen in seinem Hauptberuf 25 % nicht übersteigt.
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Selbst wenn man zu Gunsten des Versicherers annehmen wollte, daß der Kläger bei
seinen Malerarbeiten nicht dauernd auf Gerüsten und ähnlich unsicherem Boden
arbeiten mußte, schlägt der vom gerichtlichen Sachverständigen herausgestellte
Gesichtspunkt der eingeschränkten Ausübung feinmotorischer Tätigkeiten die
besondere Anforderungen an das Sehvermögen stellen, durch:
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Ein Maler, der nicht mehr in der Lage ist, dünne Pinselstriche zu ziehen oder Tapeten
korrekt "auf Stoß" zu kleben, ist in seinem Beruf nicht mehr in nennenswertem Umfang
einsetzbar. Ohne derartige feinmotorische Fähigkeiten ist das Restleistungsvermögen
des Klägers in seinem konkreten Beruf nicht mehr sinnvoll einsetzbar.
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3.
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Die von der Beklagten vorgenommene Verweisung des Klägers auf den
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Vergleichsberuf "Fachberater in der Farben-bzw. Tapetenabteilung eines Baumarktes
oder in der Einkaufsgenossenschaft des Maler- und Lackiererhandwerks" ist
unbegründet. Insoweit kann offenbleiben, ob der Kläger aufgrund seiner Kenntnisse und
Fähigkeiten trotz seiner gesundheitlichen Einschränkungen zur Ausübung dieser
Vergleichberufe in der Lage ist. Wie im Senatstermin bereits erörtert, hat die Beklagte es
nämlich versäumt, substantiiert darzulegen, wie das Anforderungs- und Belastungsprofil
dieser beruflichen Tätigkeiten beschaffen ist. Es ist unrichtig, daß - wie in der
Berufungsbegründung vorgetragen - die Vergleichsberufe "im einzelnen" beschrieben
worden sind. Von einem "Aufzeigen" im erforderlichen Umfang (vgl. BGH VersR 1994,
1095; r+s 1995, 78) kann keine Rede sein. Mitgeteilt wird lediglich, daß das übliche
Einkommen in den genannten Vergleichstätigkeiten die vom Kläger bei seiner Tätigkeit
als selbständiger Malermeister erzielten Einkünfte übersteige. Das reicht nicht aus, um
die bedingungsgemäß erforderliche Prüfung vornehmen zu können, ob die
Verweisungsberufe vom Kläger aufgrund seiner Kenntnisse und Fähigkeiten ausgeübt
werden können und seiner bisherigen Lebensstellung entsprechen.
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Das Landgericht hat zwar im angefochtenen Urteil von Amts wegen Vorstellungen zu
den genannten Vergleichstätigkeiten entwickelt. Das war prozessual unzulässig und
reicht überdies für ein dem Versicherer obliegendes sachgerechtes "Aufzeigen" längst
nicht aus. Insbesondere vermag der Senat aufgrund des aus den Akten ersichtlichen
Sach- und Streitstandes nicht zuverlässig zu beurteilen, ob das Aneignen der für die
Ausübung der in Rede stehenden Fachberatertätigkeit erforderlichen kaufmännischen
und computertechnischen Kenntnisse das Ausmaß einer zumutbaren Einarbeitung nicht
übersteigt oder ob es bereits als Umschulung gewertet werden muß.
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Die Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 97 Abs. 1, 708 Nr. 10, 711 und 713 ZPO.
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Die Beschwer der Beklagten beträgt 29.000,00 DM.
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