Urteil des OLG Hamm vom 14.03.2007

OLG Hamm: ärztliche kontrolle, umkehr der beweislast, ärztliche untersuchung, lege artis, befund, hebung, entlastung, wahrscheinlichkeit, ausbildung, abend

Oberlandesgericht Hamm, 3 U 54/06
Datum:
14.03.2007
Gericht:
Oberlandesgericht Hamm
Spruchkörper:
3. Zivilsenat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
3 U 54/06
Vorinstanz:
Landgericht Paderborn, 3 O 419/04
Tenor:
Auf die Berufung des Klägers wird das am 23.01.2006 verkündete Urteil
des Einzelrichters der 3. Zivilkammer des Landgerichts Paderborn
abgeändert.
Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger ein Schmerzensgeld in Höhe
von 10.000,00 Euro nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über
dem jeweiligen Basiszinssatz ab dem 09.11.2004 zu zahlen.
Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger alle
künftigen materiellen und immateriellen Schäden zu ersetzen, die auf
Grund der verspäteten Faszienspaltungsoperation am 23.01.2003
entstehen, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger
oder sonstige Dritte übergehen.
Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Beklagte.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe:
1
I.
2
Der am 26.02.1956 geborene Kläger verlangt von dem beklagten Krankenhausträger
Schadensersatz aufgrund des Vorwurfs, dass nach Durchführung einer valgisierenden
Umstellungsosteotomie am 20.01.2003 im St. Vincenzhospital C die Ausbildung eines
Kompartmentsyndroms in seinem rechten Bein nicht rechtzeitig erkannt und behandelt
worden sei, wodurch der Peronaeusnervs in diesem Bein geschädigt worden sei.
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Wegen der Einzelheiten des Sachverhalts wird zunächst gemäß § 540 ZPO auf die
Feststellungen in dem angefochtenen Urteil verwiesen.
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Mit der Berufung vertieft der Kläger seine Behauptung, dass die bei ihm aufgetretene
Symptomatik schon zu einem früheren Zeitpunkt auf ein Kompartmentsyndrom
hingedeutet habe. Insbesondere hätten erhebliche Schmerzen bestanden, die –
entgegen den Ausführungen des Sachverständigen Dr. N – auf diese Erkrankung
hingedeutet hätten. Aufgrund der fehlerhaften Behandlung leide er weiterhin
erheblichen Schmerzen und Behinderungen.
5
Der Kläger beantragt,
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das am 23.01.2006 verkündete Urteil des Einzelrichters der 3. Zivilkammer des
Landgerichts Paderborn abzuändern und
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1.
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die Beklagte zu verurteilen, an ihn ein angemessenes Schmerzensgeld
(Vorstellung: 10.000,00 Euro) zuzüglich 5 % Zinsen über dem jeweiligen
Basiszinssatz seit dem 09.11.2004 zu zahlen,
9
2.
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festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, ihm alle künftigen materiellen und
immateriellen Schäden zu erstatten, die aufgrund der Behandlungen im Zeitraum
vom 17.01.2003 bis zum 04.04.2003 entstehen, soweit die Ansprüche nicht auf
Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergehen.
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Die Beklagte beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Sie verteidigt das angegriffene Urteil und wiederholt ihre Behauptung, dass die
Behandlung des Klägers lege artis erfolgt sei. Ferner sei selbst bei rechtzeitiger
Diagnose und Dekompression eines Kompartmentsyndroms ein Dauerschaden nicht
immer vermeidbar.
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Der Senat hat den Kläger sowie Dr. I als ärztlichen Vertreter der Beklagten angehört und
Beweis erhoben zunächst durch ergänzende Anhörung des Sachverständigen Dr. N
sowie durch Einholung eines weiteren Gutachtens des Sachverständigen Prof. Dr. N3
gemäß § 412 ZPO und durch ergänzende Anhörung dieses Sachverständigen. Wegen
der Ergebnisse der Parteianhörung wird auf die Berichterstattervermerke zu den
Senatsterminen vom 20.09.2006 und vom 14.03.2007, wegen der Einzelheiten des
Berufungsvorbringens auf die in der Berufungsinstanz gewechselten Schriftsätze nebst
Anlagen verwiesen. Ferner wird wegen der Ergebnisse der Anhörung des
Sachverständigen Dr. N ebenfalls auf den Berichterstattervermerk vom 20.09.2006 und
der Anhörung des Sachverständigen Prof. Dr. N3 auf den Berichterstattervermerk vom
14.03.2007, schließlich wegen der Ergebnisse der schriftlichen Begutachtung des
Sachverständigen Prof. Dr. N3 auf sein schriftliches Gutachten vom 04.12.2006 (Bl. 255
GA) verwiesen.
15
II.
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Die zulässige Berufung ist begründet. Dem Kläger steht ein Schadensersatzanspruch
gegen die Beklagte gemäß §§ 280, 831, 253 Abs. 2 BGB zu. Nach dem Ergebnis der
ergänzenden Beweisaufnahme steht zur Überzeugung des Senates fest, dass der
Kläger im Krankenhaus der Beklagten fehlerhaft behandelt wurde (dazu 1.). Dadurch ist
das rechte Bein des Klägers dauerhaft geschädigt worden (dazu 2.). Aus diesem
Grunde war sowohl der Schmerzensgeldvorstellung des Klägers wie seinem
Feststellungsbegehren zu entsprechen (dazu 3.).
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Bei der Beurteilung des medizinischen Sachverhaltes folgt der Senat den Ausführungen
des Sachverständigen Prof. Dr. N3. Der Sachverständige, der dem Senat aus
zahlreichen Verfahren als zuverlässig und kompetent bekannt ist, hat auch im
vorliegenden Verfahren ein in jeder Hinsicht nachvollziehbares und schlüssiges
Gutachten erstattet. Seine Ausführungen beruhen auf einer sorgfältigen Auswertung der
Krankenunterlagen wie der einschlägigen medizinischen Fachliteratur. Die
Einwendungen der Beklagten gegen sein schriftliches Gutachten vermochte er bei
seiner Anhörung überzeugend zu entkräften. Die Richtigkeit seiner Ausführungen wird
auch nicht durch die entgegenstehenden Bewertungen des zuvor tätigen
Sachverständigen Dr. N sowie der Kommissionsgutachter Prof. Dr. L/Dr. D und Dr. T
erschüttert. Ihre Gutachten beruhen sämtlich auf einer unvollständigen Auswertung des
maßgeblichen Sachverhaltes. So hat keiner dieser Gutachter gesehen und gewürdigt,
dass bei dem Kläger bereits am 21.01.2003 erstmals eine Fußheberschwäche und
damit eine neurologische Störung als möglicher Hinweis auf ein beginnendes
Kompartmentsyndrom in den Krankenunterlagen dokumentiert ist. Auf diesem wichtigen
Gesichtspunkt beruhen jedoch maßgeblich die Beurteilungen des Sachverständigen
Prof. Dr. N3. Ebenso hat dieser Sachverständige als einziger dem histologischen
Befund vom 03.03.2003 Beachtung geschenkt und hieraus – überzeugend –
Folgerungen gezogen. Die Ausführungen des Sachverständigen Dr. N ließen darüber
hinaus jegliche Überzeugungskraft vermissen, weil dieser Gutachter nach eigenem
Eingeständnis weitgehend unvorbereitet zu seiner Anhörung vor dem Senat erschienen
war, die ihm erneut übersandten Krankenunterlagen nicht mehr eingesehen hatte und
daher Vorgänge wie etwa das Erfolgen des neurologischen Konsils nicht mehr
einordnen konnte. Schließlich zog er entgegen allen anderen ärztlichen
Stellungnahmen einschließlich der eigenen Einschätzung der Beklagten das Vorliegen
eines Kompartmentsyndroms in Zweifel, ohne andererseits erklären zu können, wie es
dann zu der Schädigung des Peronaeusnervs beim Kläger kommen konnte.
18
1.
19
Die Behandlung des Klägers im Krankenhaus der Beklagten war fehlerhaft, wofür die
Beklagte als Krankenhausträger gemäß §§ 278 Satz 1, 831 BGB einzustehen hat. So
erfolgte seit dem Abend des 21.03.2003 eine unzureichende klinische Überwachung
des Beins und wurde auf die am Morgen des 23.01.2003 aufgetretenen und schon für
5.30 Uhr dokumentierten Schmerzen bei Schwellung des Unterschenkels verspätet
reagiert. Soweit der Sachverständige Prof. Dr. N3 darüber hinaus – durchaus
nachvollziehbar – weitere Zweifel hatte, dass die am Vormittag des 23.01.2003
durchgeführte Kompartmentspaltung selbst fachgerecht durchgeführt wurde, kann diese
Frage letztlich dahin stehen, da sich die Haftung der Beklagten jedenfalls aufgrund der
übrigen Versäumnisse ergibt.
20
a)
21
Der Sachverständige Prof. Dr. N3 hat zunächst überzeugend dargelegt, dass es –
entgegen der Bedenken des Sachverständigen Dr. N – ohne jeden Zweifel bei dem
Kläger zum Entstehen eines Kompartmentsyndroms im Unterschenkel des rechten
Beins gekommen ist. Er hat dies insbesondere aus dem pathologischen Befund vom
04.03.2003 (Bl. 40 der Krankenunterlagen) gefolgert, der in dem am 03.03.2003
entnommenen Resektat ausgedehnte frische, areaktive Nekrosen der Skelettmuskulatur
feststellt. Gerade dieser Befund – den der Sachverständige zur Absicherung seiner
Ausführungen nochmals nachbefunden ließ – beweist, dass es zu einer
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Ischämie des Muskelgewebes gekommen sein muss, welches daraufhin teilweise
abstarb. Aufgrund der im Mikroskop erkennbaren feingeweblichen Veränderungen
konnte ausgeschlossen werden, dass eine andere Ursache, insbesondere die die
Revisionsoperation vom 03.03.2003 bedingende bakterielle Infektion, die Nekrose
ausgelöst hat. Die Ischämie des Muskelgewebes war schlüssig nur durch eine
Einlagerung von Flüssigkeit zwischen den Zellen des Muskelgewebes als Folge eines
Kompartmentsyndroms zu erklären. Daher spricht auch die Beschreibung des bei der
Faszienspaltung am 23.01.2003 vorgefundenen Befundes im Operationsbericht,
wonach sich weder größere Mengen Flüssigkeit aus der eröffneten Muskelloge entleert
haben, noch eine Hämatomansammlung zu bemerken war, daneben auch die Färbung
des Muskels unauffällig erschien, nicht gegen das Auftreten eines
Kompartmentsyndroms. Der Sachverständige Prof. Dr. N3 hat auch insofern plausibel
darauf hingewiesen, dass allein der subjektive Eindruck eines Operateurs bei der
Faszienspaltung für die Beurteilung nicht maßgeblich sein kann, da das betroffene
Muskelgewebe makroskopisch unauffällig erscheinen kann, tatsächlich jedoch bereits
irreversibel geschädigt ist.
23
b)
24
Die Behandlung des Klägers war in mehrfacher Hinsicht fehlerhaft.
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Der Sachverständige Prof. Dr. N3 hat überzeugend dargelegt, dass bereits der am
21.01.2003 – wohl abends - in den Krankenunterlagen dokumentierte Befund einer
Fußheberschwäche bei starker Schmerzhaftigkeit des rechten Beins und dem Vorliegen
einer Schwellung zu einer engmaschigen Überwachung des Beins hätte Anlass geben
müssen. Nach der Überprüfung des Beins im Anschluss an die Umstellungsosteotomie
am 20.01.2003, die eine intakte Durchblutung, Motorik und Sensibilität ergeben hatte,
war auszuschließen, dass durch diese Operation eine Schädigung des für die
Fußhebung verantwortlichen Nervs eingetreten sein konnte. Die daher am 21.01.2003
neu aufgetretene schwellungsbedingte Nervenfunktionsstörung musste daher für die
Ärzte der Beklagten die Möglichkeit der Ausbildung eines Kompartmentsyndroms nahe
legen. Weil bei einem Kompartmentsyndrom nur bei raschem Handeln und früher
Entlastung dauerhafte Schäden regelmäßig vermeidbar sind, war daher eine
engmaschige, wenn auch nicht unbedingt stündliche klinische Überwachung geboten.
Eine derartige Überwachung ist jedoch nicht erfolgt. Aufgrund des Umstandes, dass
derartige regelmäßige Kontrollen in den Krankenunterlagen entgegen der aus
medizinischen Gründen folgenden Verpflichtung hierzu nicht dokumentiert wurden,
spricht eine Vermutung für das Unterbleiben regelmäßiger Kontrollen. Der
Sachverständige hat überzeugend darauf hingewiesen, dass zwar nicht jede Kontrolle
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und jeder unauffällige Befund zu dokumentieren seien, jedoch durch regelmäßige
Dokumentationen die Entwicklung des Zustands des Beins für einen anderen Arzt
nachzuvollziehen sein muss. Die allein dokumentierte ärztliche Kontrolle am Abend des
22.03.2003 gegen 21.30 Uhr war daher nicht aus-reichend. Zudem ist die Richtigkeit der
dort gewonnenen Einschätzung in Zweifel zu ziehen. Zwar wurden bei dieser Kontrolle
Durchblutung, Motorik und Sensorik (DMS) als intakt beschrieben und ein
Kompartmentsyndrom ausdrücklich verneint, jedoch spricht die gesamte Entwicklung
beim Kläger gegen die Verlässlichkeit dieser Beobachtungen. Der Sachverständige
konnte insbesondere nicht nachvollziehen, dass am 21. und am 23.01.2003
Schwellungen und neurologische Ausfälle vorhanden waren, diese aber am 22.01.2003
vollständig abgeklungen gewesen sein sollten. Auch die weiter dokumentierte
Anordnung der Gabe von Eis und Hochlage-rung des rechten Beines am Abend des
22.01.2003 spricht gegen einen unauffälligen Zustand des Beines, sondern für das
weitere Vorhandensein einer Schwellung. Aus diesen Gründen besteht auch kein
Anlass, statt an der Richtigkeit der Eintragung vom 22.01.2003 etwa an derjenigen vom
21.01.2003 zu zweifeln, wonach bereits zu diesem Zeitpunkt eine Fußheberschwäche
aufgefallen war. Die aus der fehlenden Dokumentation folgende Vermutung ist von der
Beklagten auch nicht erschüttert worden.
Die Überwachung des rechten Beines des Klägers war aber darüber hinaus auch
deshalb fehlerhaft, weil nach der abendlichen Kontrolle am 22.01.2003 bis zum Morgen
des 23.01.2003 keine weiteren ärztlichen Kontrollen erfolgt sind. Der Sachverständige
hat nachvollziehbar dargelegt, dass aufgrund der Befundlage nach dem 21.01.2003
weitere klinische Kontrollen um Mitternacht und am frühen Morgen des 23.01.2003
geboten waren. Die ärztliche Kontrolle am 23.01.2003 um 7.30 Uhr erfolgte verspätet.
Denn schon für 5.30 Uhr sind erneut Schmerzen, die Schwellung des Unterschenkels
und die Erfolglosigkeit der am Vortag verabreichten Medikation (Voltaren) dokumentiert.
Jedenfalls zu diesem Zeitpunkt wären die unverzügliche Hinzuziehung eines Arztes, die
Durchführung einer erneuten klinischen Diagnostik und bei Erhärtung des nahe
liegendenVerdachts eines Kompartmentsyndroms die unverzügliche Durchführung der
Kompartmentspaltung geboten gewesen. Dass dies unterblieb, beruht entweder auf
dem Versäumnis, die für die Pflege des Klägers verantwortliche Krankenschwestern auf
die Gefahr eines Kompartmentsyndroms beim Kläger hinzuweisen und sie anzuweisen,
bei jeder Verschlechterung sofort einen Arzt zu rufen, oder, soweit eine derartige
Anweisung erfolgt wäre, auf einem Versäumnis des Pflegepersonals, welches der
Beklagten ebenfalls zuzurechnen wäre.
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Schließlich war es fehlerhaft, im Anschluss an die ärztliche Untersuchung vom
23.01.2003 um 07.30 Uhr, bei welcher der Verdacht des Kompartmentsyndroms
aufgrund der starken Schmerzen, der Schwellung des Unterschenkels und der
Unfähigkeit des Klägers, den Fuß hoch zu ziehen, gestellt wurde, nochmals rund drei
Stunden abzuwarten, bis die Entlastung des Kompartments durch die Faszienspaltung
endlich erfolgte. Der Sachverständige hat überzeugend dargelegt, dass aufgrund der
Gefahr des Absterbens von Muskelgewebe und von Nervschädigungen innerhalb
weniger Stunden unmittelbarer Handlungsbedarf bestand, zumal davon auszugehen
war, dass die Situation jedenfalls um 5.30 Uhr bereits pathologisch gewesen sein
musste. Aufgrund der hohen Gefährlichkeit eines Kompartmentsyndroms für Gewebe,
Nerven und die Extremität insgesamt konnten auch die mit der Entlastung verbundenen
Operationsrisiken nicht mehr entscheidend ins Gewicht fallen. Ebenso war es nicht
mehr vertretbar, die Entlastungsoperation hinaus zu schieben, um zuvor noch das
Vorliegen einer Thrombose abzuklären. Insofern hat der Sachverständige Prof. Dr. N3
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überzeugend darauf hingewiesen, dass das Vorhandensein neurologischer Ausfälle in
der Fußhebung entscheidend gegen das Vorliegen einer Thrombose sprach und den
begründeten Verdacht eines Kompartmentsyndroms nahe legte. Schließlich ist auch
anzunehmen, dass sowohl um 5.30 Uhr als auch um 7.30 Uhr die räumlichen und
personellen Möglichkeiten für eine Entlastungsoperation bestanden hätten, weshalb
auch im Übrigen keine nachvollziehbaren Gründe für die zeitliche Verzögerung bei der
Entlastungsoperation erkennbar sind.
2.
29
Infolge der fehlerhaften Behandlung des Klägers ist es bei dem Kläger
vermeidbarerweise zu Muskelnekrosen und zu einer Schädigung des Peronaeusnervs
mit Störung der Fußhebung gekommen. Auch diese Feststellung trifft der Senat
aufgrund der überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. N3. Zwar
vermochte auch dieser Sachverständige wie die übrigen Gutachter nicht mit letzter
Sicherheit auszuschließen, dass es auch bei einer frühzeitigen Entlastung des
Kompartmentsyndroms gleichwohl zu einer derartigen Schädigung gekommen wäre.
Die verbleibende Ungewissheit im Kausalverlauf geht jedoch nicht zu Lasten des
Klägers, sondern der Beklagten. Denn ihr oblag die Beweislast dafür, dass ein
Zusammenhang zwischen dem Behandlungsfehler und dem eingetretenen Schaden
gänzlich unwahrscheinlich ist. Die Umkehr der Beweislast zu ihren Lasten beruht
darauf, dass die von der Beklagten zu verantwortenden Versäumnisse als grobe
Behandlungsfehler einzustufen sind. Darüber hinaus greifen auch die von der
Rechtsprechung entwickelten Regeln einer Beweislastumkehr bei
Befunderhebungsversäumnissen zugunsten des Klägers ein.
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Der Sachverständige Prof. Dr. N3 hat überzeugend ausgeführt, dass das ärztliche
Management auf Seiten der Ärzte der Beklagten angesichts des sich aufdrängenden
Verdachts auf ein Kompartmentsyndrom insgesamt nicht mehr verständlich gewesen
sei, gegen elementare Behandlungsregeln verstoßen hat und schlechterdings nicht
unterlaufen durfte. Damit liegen die Voraussetzungen eines groben Behandlungsfehlers
vor. Der Senat hat keine Bedenken, auch insofern dem Sachverständigen zu folgen,
nachdem dieser die erheblichen Verdachtsmomente für ein Kompartmentsyndrom im
vorliegenden Fall herausgearbeitet hat und auf die möglichen Konsequenzen bis hin
zum Verlust der Extremität bei der verspäteten Erkennung und Behandlung eines
Kompartmentsyndroms hingewiesen hat.
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Darüber liegt auch ein Verstoß gegen die Befunderhebungspflicht vor. Jedenfalls am
Morgen des 23.01.2003 um 5.30 Uhr war eine klinische Untersuchung des Beins des
Klägers geboten, aber unterblieben. Nach den Ausführungen des Sachverständigen
Prof. Dr. N3 ist ferner davon auszugehen, dass zu diesem Zeitpunkt mit
Wahrscheinlichkeit bereits ein pathologischer Zustand festgestellt worden wäre, der
unmittelbar Anlass zur Durchführung einer Entlastungsoperation hätte geben müssen.
Wäre die Entlastungsoperation bereits zu diesem Zeitpunkt erfolgt, hätte auch eine
realistische Chance zugunsten des Klägers bestanden, das Eintreten von
Muskelnekrosen und die Schädigung des Peronaeusnervs zu vermeiden.
32
3.
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Aufgrund der vermeidbaren Schädigung des Muskelgewebes und des Peronaeusnervs
mit Störung der Fußheberschwäche war dem Kläger ein Schmerzensgeld in Höhe von
34
10.000,00 Euro gemäß § 253 Abs. 2 BGB als Ausgleich für die erlittenen
Beeinträchtigungen zuzusprechen. Die Störung der Fußhebung bei dem Kläger ist
dauerhaft und führt zu erheblichen Beeinträchtigungen beim Bewegungsablauf. Dies
wirkt sich insbesondere auch auf die Berufstätigkeit des Kläger aus, da der Kläger als
Koch seine Arbeit überwiegend stehend und gehend verrichtet. Darüber hinaus war zu
berücksichtigen, dass aufgrund der Fehlerhaftigkeit der Behandlung mit
überwiegender Wahrscheinlichkeit im Sinne des § 287 ZPO jedenfalls der negative
Verlauf der Wundinfektion im Operationsgebiet der Faszienspaltung wegen der
Nekrosen als Sekundärschädigung begünstigt wurde, welche mit weiteren erheblichen
Beschwerden, einer erheblichen Verzögerung der Wundheilung, einem weiteren
Krankenhausaufenthalt vom 09.04. bis zum 19.05.2003 im Brüderkrankenhaus St. Josef
Paderborn und mehreren Revisionsoperationen am 03.03., 11.04., 12.04., 14.04., 17.04.,
22.04. und 28.04.2003 verbunden war. Insofern hat der Sachverständige Prof. Dr. N3
dargelegt, dass aufgrund der vermeidbar entstandenen Muskelnekrosen eine Störung
bei der Granulationsbildung eingetreten war, wodurch sich ein guter Nährboden für
Bakterien ergab. Bei gut durchbluteten Verhältnissen hätte sich mit Wahrscheinlichkeit
nur eine oberflächliche Infektion gebildet, die leicht zu beherrschen gewesen wäre und
nicht zu einer operativen Revision geführt hätte. Auch wenn weiterhin davon
auszugehen ist, dass die Ausbildung des Kompartmentsyndroms selbst eine
schicksalhafte Komplikation der Operation vom 20.01.2003 war, hinsichtlich derer die
Beklagte kein Verantwortung trifft, dem Kläger daher die Faszienspaltung und die
Deckung der hierdurch verursachten Wunde mit Spalthaut nicht hätte erspart bleiben
können, ferner weder die neuerlich aufgetretene Osteitis noch das Ulkusgeschwür am
Oberschenkel mit Wahrscheinlichkeit durch die Verzögerung bei der
Kompartmentspaltung verursacht wurden, rechtfertigen die erheblichen
Beeinträchtigungen, die als Folge der fehlerhaften Behandlung festzustellen sind,
bereits die Zuerkennung des Schmerzensgeldes in der von dem Kläger vorgestellten
Höhe von 10.000,00 Euro.
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Der Zinsanspruch des Klägers beruht auf §§ 280, 286 BGB.
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Darüber hinaus war auch dem Feststellungsantrag des Klägers zu entsprechen, da die
Möglichkeit einer weiteren Verschlechterung der gesundheitlichen Situation als Folge
der verspäteten Kompartmentspaltung ebenso wenig auszuschließen ist wie das
Entstehen künftiger materieller Schäden. Bei der Formulierung des Feststellungstenors
war jedoch dahin klarzustellen, dass die Beklagte nicht für sämtliche weiteren Folgen
der streitgegenständlichen Behandlung haftet, sondern nur für diejenigen Folgen, die
auf die vorwerfbare Verzögerung bei der Kompartmentspaltung zurückzuführen sind.
Folgeschäden, die auf die Umstellungsosteotomie oder die unvermeidbar gewordene
Kompartmentspaltung selbst zurückzuführen sind, sind schicksalhaft und von der
Beklagten nicht auszugleichen.
37
4.
38
Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1 ZPO, die Entscheidung über die
vorläufige Vollstreckbarkeit ergeht gemäß §§ 708 Nr. 10, 713 ZPO.
39
Die Zulassung der Revision gemäß § 543 ZPO war nicht geboten. Die Entscheidung
des Senats betrifft einen Einzelfall, der keine grundsätzliche Bedeutung besitzt. Von
Entscheidungen anderer Oberlandesgerichte oder des Bundesgerichtshofs ist der Senat
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nicht abgewichen.
Das Urteil beschwert die Beklagte mit weniger als 20.000,00 Euro.
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