Urteil des OLG Hamm vom 04.05.2006

OLG Hamm: gerichtshof für menschenrechte, untersuchungshaft, vollzug, rechtliches gehör, dringender tatverdacht, verhinderung, fluchtgefahr, haftbefehl, beschleunigungsgebot, pflichtverteidiger

Oberlandesgericht Hamm, 2 Ws 111/06
Datum:
04.05.2006
Gericht:
Oberlandesgericht Hamm
Spruchkörper:
2. Strafsenat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
2 Ws 111/06
Vorinstanz:
Landgericht Bochum, 8 KLs 46 Js 97/05
Tenor:
Die Beschwerde wird auf Kosten des Angeklagten als unbegründet
verworfen.
Gründe
1
I.
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Gegen den Angeklagten ist zur Zeit beim Landgericht Bochum ein Verfahren u.a. wegen
schweren Bandendiebstahls anhängig. Das Verfahren richtet sich gegen sechs
Angeklagte. Die Anklage der Staatsanwaltschaft Bochum vom 16. September 2005 legt
dem Angeklagten sieben Diebstahlstaten in einem besonders schweren Fall zur Last,
die er in der Zeit von Januar 2005 bis zum 04. Mai 2005 als Mitglied einer Bande
begangen haben soll. Ferner werden ihm eine gefährliche Körperverletzung sowie eine
Verabredung zu einem Verbrechen (Bandendiebstahl) vorgeworfen. Nachdem zunächst
Juweliergeschäfte die bevorzugten Tatobjekte gewesen sein sollen, soll sich die Bande
später auf Geldausgabeautomaten und Geldtresore verlegt haben.
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Wegen dieser Vorwürfe hat das Amtsgericht Bochum am 04. Mai 2005 einen Haftbefehl
gegen den Angeklagten erlassen. Der Angeklagte ist an diesem Tag festgenommen
worden und befindet sich seitdem wegen Fluchtgefahr in Untersuchungshaft. Durch
Beschluss der 8. großen Strafkammer des Landgerichts Bochum vom 17. Oktober 2005
sind die vorgenannten Haftbefehle neu gefasst und den - damals noch -
Angeschuldigten am 20. Oktober 2005 verkündet worden. Die Hauptverhandlung vor
dem Landgericht Bochum hat am 1. Februar 2006 begonnen.
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In der Sitzung vom 5. April 2006 hat der Angeklagte beantragt, den Haftbefehl
aufzuheben, hilfsweise den Haftbefehl außer Vollzug zu setzen. Zur Begründung führt er
aus, es bestehe zum einen keine Fluchtgefahr und zum anderen sei der weitere Vollzug
der Untersuchungshaft nicht mehr verhältnismäßig, da das Verfahren nicht mit der
gebotenen Beschleunigung gefördert worden sei. Diesen Antrag hat die Strafkammer
mit Beschluss vom 12. April 2006 zurückgewiesen. Sie hat weiterhin den Haftgrund der
Fluchtgefahr bejaht und außerdem einen Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot
verneint. Gegen diesen Beschluss hat der Angeklagte Beschwerde eingelegt. Die
Strafkammer hat dieser nicht abgeholfen und die Akten durch Vermittlung der
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Generalstaatsanwaltschaft dem Senat vorgelegt, bei dem sie am 26. April 2006
eingegangen sind.
Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, die Haftbeschwerde als unbegründet zu
verwerfen.
6
II.
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Die zulässige (Haft)Beschwerde hat in der Sache keinen Erfolg.
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Insbesondere ist der weitere Vollzug der Untersuchungshaft auch unter
Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 2 Abs. 2
Satz 2 GG nicht unverhältnismäßig.
9
1.
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Es besteht nach wie vor "dringender Tatverdacht" im Sinne des § 112 Abs. 1 Satz 1
StPO gegen den Angeklagten. Insoweit steht dem Senat im Übrigen auch nur ein
eingeschränkter Prüfungsmaßstab zu (vgl. BGH StraFo 2004, 135 = StV 2004, 143).
Maßgeblich ist bei einer Haftbeschwerde – wie hier – während laufender
Hauptverhandlung, ob der Inhalt der angefochtenen Haftentscheidung grob fehlerhaft ist
und diese den dringenden Tatverdacht aus Gründen bejaht, die in tatsächlicher und
rechtlicher Hinsicht nicht vertretbar sind (OLG Jena StV 2005, 559), wobei das bisherige
Ergebnis der Beweisaufnahme berücksichtigt werden kann. Die Nachprüfung durch das
Beschwerdegericht ist darauf beschränkt, ob das vom Haftgericht gewonnene Ergebnis
auf Tatsachen gestützt ist, die im Zeitpunkt der Entscheidung zur Verfügung standen,
sowie darauf, ob das mitgeteilte Ergebnis auf einer vertretbaren Bewertung dieser für
und gegen den dringenden Tatverdacht sprechenden Umstände beruht (OLG Schleswig
SchlHA 2003, 188; ebenso Senat im Beschluss vom 28. Juni 2004, 2 Ws 175/04,
www.burhoff.de). Auf der Grundlage dieses Prüfungsmaßstabs ist die landgerichtliche
Entscheidung nicht zu beanstanden.
11
2.
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Es liegt auch weiterhin der Haftgrund der Fluchtgefahr im Sinne des § 112 Abs. 2 Nr. 2
StPO vor. Der Senat nimmt insoweit zwecks Vermeidung von Wiederholungen Bezug
auf die zutreffenden Ausführungen in dem angefochtenen Beschluss des Landgerichts
Bochum sowie auf seinen anlässlich der Haftprüfung gemäß §§ 121, 122 StPO
ergangenen Beschluss vom 21. November 2005 – 2 OBL 72/05 OLG Hamm. Mildere
Mittel als der Vollzug der Untersuchungshaft erscheinen dem Senat nicht geeignet, der
Fluchtgefahr wirksam zu begegnen.
13
3.
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Der weitere Vollzug der Untersuchungshaft ist auch nicht unverhältnismäßig. Das
Verfahren ist mit der in Haftsachen gebotenen Beschleunigung gefördert worden.
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Die Sachbehandlung sowohl bei der Staatsanwaltschaft als auch durch die 8.
Strafkammer des Landgerichts Bochum ist im Wesentlichen nicht zu beanstanden.
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Nach der Festnahme des Angeklagten am 04. Mai 2005 hat die Staatsanwaltschaft
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Bochum nach umfangreichen Ermittlungen bereits am 16. September 2005 Anklage vor
der 8. großen Strafkammer des Landgerichts Bochum erhoben, die sich gegen sechs
mutmaßliche Täter richtet und die immerhin 62 Seiten umfasst. Unter dem 28.
September 2005 hat der Vorsitzende der zuständigen 8.Strafkammer die Zustellung der
Anklage verfügt und eine Stellungnahmefrist von zwei Wochen gewährt. Durch
Beschluss vom 17. Oktober 2005 hat die Strafkammer u. a. den Haftbefehl gegen den
Beschwerdeführer neu gefasst und ihm diesen am 20. Oktober 2005 verkündet.
Nachdem den Verteidigern der weiteren fünf Angeklagten nochmals Akteneinsicht
gewährt worden war, hat der Vorsitzende der 8. Strafkammer zur Vorbereitung der
Terminierung unter dem 16. November 2005 die sechs Verteidiger der insgesamt sechs
Angeklagten angeschrieben und um Mitteilung bis zum 25. November 2005 gebeten,
wann sie in der Zeit vom 16. Januar 2006 bis zum 31. März 2006 über freie Sitzungstage
verfügen. Nachdem die Verteidiger schriftsätzlich jeweils ihre freien Sitzungstage
angegeben hatten, wandte sich der Vorsitzende der 8. großen Strafkammer mit
Schreiben vom 29. November 2005 erneut an die Verteidiger und teilte diesen mit, dass,
"wie bei der großen Zahl der Verteidiger fast zu erwarten war, in dem genannten
Zeitraum überhaupt nur 11 Tage vorhanden sind, an denen keiner der Verteidiger
verhindert ist." Es handelte sich dabei um den 25. Januar, 01., 15., 16. 17. Februar, 08.,
15., 16., 17., 30. und 31. März 2006. Der Vorsitzende bat um entsprechende
Reservierung dieser Termine.
Mit Beschluss vom 15. Dezember 2005 hat die 8. Strafkammer des Landgerichts
Bochum die Eröffnung des Hauptverfahrens beschlossen und die Hauptverhandlung
entsprechend den von den Verteidigern mitgeteilten Daten bestimmt auf den 1. Februar
2006 mit neun Fortsetzungsterminen, Beginn jeweils 9. 00 Uhr.
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Die Hauptverhandlung gegen die Angeklagten hat am 1. Februar 2006 begonnen.
Weitere Hauptverhandlungstage fanden bislang statt an den vorgesehenen Tagen,
nämlich am 15., 16. 17. Februar, 08., 15., 16., 30.und 31. März 2006; der für den 17.
März 2006 bestimmte Sitzungstag wurde in der Hauptverhandlung vom 16. März 2006
aufgehoben, was nicht zu beanstanden ist. Die Strafkammer hat hierzu ausgeführt:
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"Der Termin vom 17.3.2006 wurde aufgehoben, weil die Kammer vor der
maßgeblichen Vernehmung des Zeugen T zur Auswertung der retrograden
Verbindungsdaten zunächst über den zwei Tage zuvor erhobenen Widerspruch der
Verteidigung gegen die Verwertung der Erkenntnisse aus der TKÜ entscheiden
musste. Angesichts der erheblichen Bedeutung der TKÜ-Erkenntnisse als
Beweismittel im vorliegenden Verfahren und des Umfangs der TKÜ-Maßnahmen
mit zahlreichen zu überprüfenden Beschlüssen des Amtsgericht Bochum war es
angemessen, wenn sich die Kammer ausreichend Zeit für die Beurteilung und
abschließende Beratung – unter Berücksichtigung auch der Stellungnahme der
Staatsanwaltschaft – nimmt. Ein alternatives Konzept für die sinnvolle anderweitige
Nutzung dieses Verhandlungstages war in der Kürze der Zeit nicht zu realisieren."
20
Im April 2006 fand die Hauptverhandlung am 5. April 2006 statt und konnte sodann
wegen des Osterurlaubs einiger Verteidiger erst wieder am 26. April 2006 fortgesetzt
werden. Insbesondere hatte auch die Verteidigerin des Beschwerdeführers bereits mit
Schriftsatz vom 06. Dezember 2005 auf ihren zweiwöchigen Osterurlaub hingewiesen;
mit Schriftsatz vom 22. Februar 2006 hat sie dann wiederum mitgeteilt, dass sie den für
April 2006 geplanten Erholungsurlaub auf den Zeitraum 05. Mai bis einschließlich 29.
Mai 2005 verlegt habe. Die durchschnittliche Hauptverhandlungsdauer hat - bis zum 26.
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April 2006 - rund drei Stunden betragen.
In Absprache mit den Verteidigern wurden vier weitere Fortsetzungstermine für den
Monat Mai und bereits sechs weitere Fortsetzungstermine für Juni 2006 festgelegt.
Allerdings war die Strafkammer bei der Festlegung dieser Termine nicht gänzlich frei, da
sie am 25. April 2006 mit der Hauptverhandlung in einer weiteren Haftsache gegen vier
Angeklagte begonnen hat mit festgelegten Fortsetzungsterminen am 27. April, 02., 04.,
11., 19., 22., 30. Mai, 13. und 19. Juni 2006.
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Dieser Verfahrensgang lässt den weiteren Vollzug des Haftbefehls noch nicht als
unverhältnismäßig erscheinen und führt demnach nicht zur Aufhebung des Haftbefehls.
23
Ein Verstoß gegen das für Haftsachen geltende Beschleunigungsgebot liegt bei der
gegebenen Sachlage nicht vor. Die Strafkammer hat durch ihre Verfahrensweise nicht in
unzulässiger Weise in das sich aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG ergebende
Freiheitsgrundrecht des Betroffenen eingegriffen. Die vom Bundesverfassungsgericht
aufgestellten Grundsätze sind von ihr hinreichend beachtet worden. In diesem
Zusammenhang ist von Bedeutung, dass die 2. Kammer des 2. Senats des
Bundesverfassungsgerichts erst mit Beschluss vom 5. Dezember 2005 – also zeitlich
nach der Terminsvorbereitung durch den Strafkammervorsitzenden – die Anforderungen
an die Durchführung der Hauptverhandlung unter Beachtung des in Art. 2 Abs. 2 Satz 2
GG verankerten Beschleunigungsgrundsatz insbesondere bei Verfahren, in denen die
Untersuchungshaft mehr als ein Jahr bis zum Beginn der Hauptverhandlung dauert,
präzisiert hatte (vgl. außer der Entscheidung vom 5. Dezember 2005 in 2 BvR 1964/05,
StV 2006, 73 = NJW 2006, 672 auch noch die - soweit ersichtlich - letzten
Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zu diesem Komplex vom 16. März
2006 in 2 BvR 170/06 und 04. April 2006 in 2 BvR 523/06 jeweils mit weiteren
Nachweisen aus dessen Rechtsprechung). Den Gerichten ist eine - wenn auch kurze -
Übergangszeit zuzubilligen, innerhalb derer sie die vom Bundesverfassungsgericht
aufgestellten strengen Grundsätze u.a. durch - über die bisherigen Anstrengungen noch
hinausgehende - organisatorische Maßnahmen in die Praxis umsetzen können.
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Auf der Grundlage der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist davon
auszugehen, dass sich das Gewicht des Freiheitsanspruchs des
Untersuchungsgefangenen gegenüber dem
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Strafverfolgungsinteresse des Staates mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft
verstärkt. Vor diesem Hintergrund ist im Rahmen der Abwägung zwischen dem
Freiheitsanspruch und dem Strafverfolgungsinteresse in erster Linie auf die durch
objektive Kriterien bestimmte Angemessenheit der Verfahrensdauer abzustellen, die
etwa von der Komplexität der Rechtssache, der Vielzahl der beteiligten Personen oder
dem Verhalten der Verteidigung abhängig sein kann. Dies bedingt eine auf den
Einzelfall bezogene Analyse des Verfahrensablaufs. Verfahren, in denen sich der
Beschuldigte bzw. Angeklagte in Untersuchungshaft befindet, sind mit der
größtmöglichen Beschleunigung zu führen (vgl. dazu auch noch Senat in 2 OBL 57/05
und Beschlüsse vom 5. Januar 2006 in 2 Ws 2/06, StV 2006, 191, und vom 30. März
2006 in 2 Ws 71/06). Sie haben grundsätzlich Vorrang vor der Erledigung anderer
Strafverfahren (BVerfG StV 2006, 73 = NJW 2006, 672 mit weiteren Nachweisen; OLG
Hamm StraFo 2001, 32 = wistra 2001, 35). Es ist danach nicht nur auf die
Hauptverhandlungsdauer abzustellen, sondern auch darauf, dass ausreichend
Hauptverhandlungstage stattfinden. So geht z.B. der Europäische Gerichtshof für
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Menschenrechte davon aus, dass ein Verstoß gegen Art. 5 Abs. 3 MRK vorliegt, wenn
nur an einem Tag in der Woche bzw. im Monat an weniger als vier Tagen eine
Hauptverhandlung stattfindet (vgl. StV 2005, 136, 138), wobei allerdings in
Ausnahmefällen, wie z.B. Krankheit und Urlaub von Verfahrensbeteiligten,
vorübergehend eine geringere Anzahl von Hauptverhandlungstagen zulässig sein kann.
In dem Zusammenhang ist auch von Bedeutung, ob das Gesamtgefüge der bei der
jeweiligen Strafkammer anhängigen Verfahren berücksichtigt ist. Der Vorrang von
Haftsachen zwingt nämlich dazu, dass diese vorrangig vor Nichthaftsachen verhandelt
werden. Vor denen haben dann auch noch Verfahren Priorität, in denen ein Haftbefehl
lediglich außer Vollzug gesetzt worden ist.
Diese Maßstäbe, die - so das Bundesverfassungsgericht in seiner ständigen
Rechtsprechung - zu einer effizienten Verfahrensplanung und -durchführung zwingen,
sind von der Strafkammer beachtet worden.
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Nachdem die Staatsanwaltschaft bereits unter dem 16. September 2005 Anklage
erhoben hatte, beschloss das Landgericht sodann nach einer Einarbeitung in den
Prozessstoff am 15. Dezember 2005 die Eröffnung des Hauptverfahrens und begann am
1. Februar 2006 mit der Hauptverhandlung gegen die Angeklagten. Diese
Einarbeitungszeit und Prüfungsdauer sind angemessen. Das Hauptverfahren ist
innerhalb von zwei Monaten nach Eingang der Anklage beim Landgericht eröffnet
worden, die Hauptverhandlung hat hiernach innerhalb von sechs Wochen begonnen.
Das ist, da insoweit starre Grenzen - auch nach der Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts - nicht bestehen, nicht zu beanstanden (vgl. dazu auch die
Entscheidung des Senats vom 2. März 2006 in 2 Ws 56/06).
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Die Hauptverhandlung ist dann auch so zügig und beschleunigt durchgeführt worden,
dass der Verfahrensgang den vom Bundesverfassungsgericht in seiner ständigen
Rechtsprechung aufgestellten Grundsätzen entspricht.
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Zwar hat die Strafkammer seit Beginn der Hauptverhandlung am 1. Februar 2006
bislang lediglich an insgesamt 11 Tagen Hauptverhandlungstermine durchgeführt, was
vier Hauptverhandlungsterminen pro Monat entspricht und was grundsätzlich zu
beanstanden wäre. Vorliegend besteht aber die Besonderheit, dass dieser Umstand
ausschließlich im Verantwortungsbereich der Verteidiger liegt. Weitere Sitzungstage als
die letztlich stattgefundenen ließen sich nämlich wegen der Verhinderung der
Verteidiger durch die Wahrnehmung anderer Verteidigungen vor Gericht nicht finden.
Diesem Umstand – nämlich der Verhinderung der Verteidiger durch die Wahrnehmung
anderer Mandate – hat die Strafkammer jedoch zwischenzeitlich dadurch Rechnung
getragen, dass teilweise weitere Pflichtverteidiger bestellt worden sind, um so die
Problematik der Terminsabstimmung zu entspannen.
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Soweit die Verteidigerin des Beschwerdeführers rügt, dass zugegebenermaßen zwar
die Termine mit den Verteidigern von sechs Angeklagten abgesprochen werden
mussten, wegen "der sich bezüglich der Terminsabsprachen abzeichnenden
Schwierigkeiten hätte aber mit der Bestellung jeweils eines zweiten Pflichtverteidigers
mit entsprechend günstiger Terminslage begegnet werden können", kann sie damit
nicht durchdringen.
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Es war dem Landgericht weder möglich noch war es erforderlich, die Hauptverhandlung
früher zu bestimmen. Zwar hat ein Angeklagter aufgrund des besonderen
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Beschleunigungsgebotes in Haftsachen einen Anspruch darauf, dass die
Hauptverhandlung möglichst bald durchgeführt wird. Diesbezüglich hat aber auch das
Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss vom 5. Dezember 2005 in 2 BvR
1964/05 im Regelfall einen Zeitraum von längstens drei Monaten zwischen dem
Eröffnungsbeschluss und dem Beginn der Hauptverhandlung als dem
Beschleunigungsgebot noch entsprechend bezeichnet (vgl. BVerfG, a.a.O.). Diese Frist
ist vorliegend eingehalten; zwischen Eröffnungsentscheidung und Beginn der
Hauptverhandlung liegen sechs Wochen. Eine enger zusammenhängende
Terminierung, die zwar durchaus wünschenswert gewesen wäre, ist nach den
unbestrittenen Darlegungen in dem angefochtenen Beschluss und auch ausweislich der
in den Akten vorhandenen Vermerke aber ausschließlich an der Verhinderung der
Verteidiger gescheitert. Im Hinblick auf das berechtigte Interesse der Angeklagten, in der
Hauptverhandlung von ihren bisherigen Verteidigern vertreten zu werden, war es noch
hinnehmbar, diesem Umstand durch die weiträumige Terminierung Rechnung zu
tragen. Die Einarbeitung eines anderen Verteidigers hätte länger gedauert.
Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts wird jedoch zukünftig dazu führen,
zwischen dem Recht des Angeklagten, in der Hauptverhandlung von dem Verteidiger
seines Vertrauens vertreten zu werden, sowie seinem Recht, dass der Vollzug der
Untersuchungshaft nicht länger als unbedingt nötig andauert, sehr sorgsam abzuwägen.
Dieser Konflikt lässt sich nach der Auffassung des Senats nur dadurch lösen, dass das
Gericht die möglichen Hauptverhandlungstermine schon bei der Anklagezustellung
weitestgehend vorgibt und dass bei Verhinderung des gewählten Verteidigers dessen
Beiordnung aufzuheben bzw. – soweit eine Beiordnung beabsichtigt wird – diese
abzulehnen und ein anderer Verteidiger zu bestellen ist, der die vom Gericht
vorgeschlagenen Termine wahrnehmen kann. Keinesfalls kann - wie die Verteidigerin
des Beschwerdeführers meint - verlangt werden, dass dem Angeklagten von vornherein
zwei Pflichtverteidiger zu bestellen sind, um so Terminskollisionen "in den Griff zu
bekommen". Dem ursprünglich vom Angeklagten gewählten Verteidiger, der wegen
nachhaltiger Verhinderung als Pflichtverteidiger nicht in Betracht kommt, bleibt es
unbenommen, weiterhin als Wahlverteidiger tätig zu werden, um so die Rechte seines
Mandanten wahrzunehmen. Das von ihm in diesem Fall eingegangene Kostenrisiko
seines Honorars kann nicht dem Staat überbürdet werden.
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Der gewählte Verteidiger ist dann in seiner Zeiteinteilung frei. Als vom Staat zu
bezahlender Pflichtverteidiger kann aber nur ein Verteidiger beigeordnet werden, der
gewährleisten kann, dem Verfahren mit seiner Arbeitskraft weitestgehend zur Verfügung
zu stehen (vgl. hierzu auch Beschlüsse der 1. Kammer des Zweiten Senats des
Bundesverfassungsgerichts vom 2. März 2006 in 2 BvQ 10/06 und des Vorsitzenden
des 6. Strafsenats des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 7. Februar 2006 (III-VI
10/05). Andernfalls führte es zu der Konsequenz, dass der Angeklagte möglicherweise
nur deshalb aus der Untersuchungshaft entlassen werden müsste, weil der von ihm
gewählte Verteidiger keine Zeit für die Hauptverhandlung hat (vgl. hierzu auch OLG
Köln, Beschluss vom 29. Dezember 2005 – HEs 37-41/05, STV 2006, 145, 146 =
StraFO 2006, 111, 112). Der Vorsitzende des Gerichts wird seine "Terminshoheit"
gemäß § 213 StPO dahin ausüben müssen, dass er die Termine vorgibt. Die
Terminierung ist Sache des Vorsitzenden. Zwar hat ein Angeklagter grundsätzlich das
Recht, sich in einem Strafverfahren von einem Rechtsanwalt seines Vertrauens
verteidigen zu lassen (BGH StV 1992, 53 mwN). Daraus folgt aber nicht, dass bei jeder
Verhinderung des gewählten Verteidigers eine Hauptverhandlung gegen den
Angeklagten nicht durchgeführt werden könnte; allerdings ist der Vorsitzende gehalten,
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über Anträge auf Verlegung des Termins nach pflichtgemäßem Ermessen unter
Berücksichtigung der eigenen Terminsplanung, der Gesamtbelastung des
Spruchkörpers, des Gebots der Verfahrensbeschleunigung und der berechtigten
Interessen der Prozessbeteiligten zu entscheiden (vgl. BGH NStZ 1998, 311). In der
Regel mag zwar eine Absprache des Hauptverhandlungstermins mit dem Verteidiger
zweckmäßig und sinnvoll sein, der Vorsitzende ist aber nicht verpflichtet, den
Prozessbeteiligten insoweit rechtliches Gehör zu gewähren (vgl. hierzu Meyer-Goßner,
StPO, 48. Aufl.,§ 213 m.w.Nachw.).
Überdies lässt sich auch aus der zeitlichen Dauer der einzelnen
Hauptverhandlungstermine – die durchschnittliche Dauer betrug rund drei Stunden – ein
Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot nicht herleiten. So hat die Strafkammer in
dem angefochtenen Beschluss Folgendes ausgeführt:
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"Die kürzere Verhandlungsdauer der ersten beiden Termine ist darauf
zurückzuführen, dass im Vorfeld mehrfach mögliche Einlassungen, insbesondere
auch des Angeklagten C2, in Aussicht gestellt wurden. Erst am 2. Verhandlungstag
haben die Angeklagten – mit Ausnahme von L und W – die (endgültige)
Entscheidung getroffen, keine Angaben zur Sache zu machen. Auch der
Angeklagte W war nach Verlesung einer Erklärung durch den Verteidiger zu
weiteren Angaben in der Sache nicht bereit. Im Hinblick auf die angekündigten
Einlassungen hatte der Vorsitzende die auf den 15.2.2006 geladenen Zeugen
indes zunächst abgeladen (vgl. Vermerk vom 14.2.2006, Bl. 1578 R Bd. IV d.A.).
Nach Auffassung der Kammer würde es den Beschleunigungsgrundsatz
überspannen, wenn – ungeachtet angekündigter Einlassungen bei immerhin sechs
Angeklagten – dennoch die vorsorgliche Ladung von Zeugen gefordert würde.
Auch im übrigen war es nach Ansicht der Kammer kaum möglich, für jeden
Verhandlungstag Alternativkonzepte bereitzuhalten, falls etwa ein geladener
Zeuge nicht erscheint oder die Vernehmung einzelner Zeugen wider Erwarten
weniger Zeit in Anspruch nimmt. Insoweit war insbesondere der komplexe
Verfahrensstoff zu beachten, der im Interesse der Übersichtlichkeit für alle
Verfahrensbeteiligten eine strukturierte Durchführung der Beweisaufnahme
erfordert."
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Im Hinblick hierauf ist nicht zu beanstanden, dass die durchschnittliche
Hauptverhandlungsdauer relativ gering war. Die Strafkammer hat, obwohl kein Termin
länger als drei Stunden und vierzig Minuten gedauert hat, die Beweisaufnahme straff
durchgeführt. Nachdem die ersten beiden Verhandlungstage für die angekündigten
Einlassungen der Angeklagten "reserviert" worden waren, was in keiner Weise zu
beanstanden ist, sind am dritten Verhandlungstag sechs, am vierten Verhandlungstag
fünf, am fünften und sechsten Verhandlungstag jeweils sechs, am siebten
Verhandlungstag fünf und am achten Verhandlungstag vier Zeugen vernommen
worden. Ausweislich des Hauptverhandlungsprotokolls kam es darüber hinaus zu
zahlreichen Inaugenscheinnahmen und zur Verlesung zahlreicher Urkunden. Am
zehnten Verhandlungstag ist sodann damit begonnen worden, die Aufzeichnungen aus
der Telefonüberwachung in Augenschein zu nehmen.
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Hinsichtlich der Intensität und Effizienz der Hauptverhandlung bestehen von daher in
organisatorischer Hinsicht keine Bedenken. Im Übrigen ist zu berücksichtigen, dass
jeder Sitzungstag einer gründlichen Vor- und Nachbereitung bedarf, so dass sich die
Arbeit der Strafkammer nicht lediglich in der reinen Sitzungstätigkeit erschöpft, sondern
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ein weiterer Schwerpunkt der richterlichen Tätigkeit außerhalb der Hauptverhandlung
angesiedelt ist. Eine straffe und effiziente Hauptverhandlung ist nämlich nur dann
möglich, wenn diese sorgfältig vorbereitet ist, was im Übrigen auch im Interesse des
Angeklagten liegt, da gerade hierdurch das Verfahren erheblich beschleunigt wird. Die
Kammer hat hierzu in ihrem Beschluss u.a. ausgeführt:
"Auch hinsichtlich der Einführung der TKÜ-Erkenntnisse durch Abspielen von
Tonträgern in der Hauptverhandlung ist das Verfahren ausreichend gefördert
worden. Nachdem sich im Laufe der Hauptverhandlung abgezeichnet hatte, dass
es auf die TKÜ-Erkenntnisse als Beweismittel ankommt, die Einführung in die
Hauptverhandlung durch bloßes Verlesen der im Ermittlungsverfahren gefertigten
TKÜ-Protokolle aber nicht in Betracht kam, hat der Vorsitzende ab dem 7.3.2006
Vorbereitungen zum Abspielen von Tonträgern in der Hauptverhandlung und
insbesondere zur Gewährleistung einer vorherigen Abhörmöglichkeit durch die
Verteidiger veranlasst (vgl. Vermerk des Vorsitzenden vom 7.3.2006, Bl. 1619 Bd.
V d.A.). Es wurden Listen der jeweiligen Gespräche, deren Einführung in die
Hauptverhandlung vorbereitet werden sollte, erstellt, die den Verteidigern zur
Stellungnahme im Termin am 8.3.2006 überreicht wurden. Entgegen der Mitteilung
seitens des PP E, dass die Übertragung auf CD 4-6 Wochen in Anspruch nehmen
könne, konnte unter Einschaltung des PP C – insbesondere KOK T – eine weitaus
schnellere Übertragung erreicht werden, so dass die CDs der Kammer bereits am
24.3.2006 vorlagen (vgl. Vermerke des Vorsitzenden vom 16.3., 17.3., 21.3. und
24.3.2006; Bl. 1631, 1632, 1637 und 1658 Bd. V d.A.)., Ferner wurden Tonträger
zügig jeweils auf DVD vervielfältigt, um sie den Verteidigern vorab zur Verfügung
zu stellen, so dass bereits im Termin am 5.4.2006 die CD mit den in deutscher
Sprache geführten Gespräche in der Hauptverhandlung abgespielt werden konnte.
Im übrigen sind die CDs mit den Gesprächen in ausländischer Sprache umgehend
an die Dolmetscherin C3 übersandt worden, um im Interesse sämtlicher
Verfahrensbeteiligter bereits vor Abspielen in der Hauptverhandlung
Wortlautprotokolle zu erhalten (vgl. Vfg. Bl. 1661 Bd. V d.A.)."
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Schließlich hat die Strafkammer in dem angefochtenen Beschluss darauf hingewiesen,
dass bei ihr zwei weitere Haftsachen zur Terminierung anstanden. Diese beiden
Haftsachen hat die Strafkammer parallel zu dem vorliegenden Verfahren vorbereitet hat.
Die Hauptverhandlung in diesen Verfahren sollte nach Abschluss des vorliegenden
Verfahrens, der für den 31. März 2006 vorgesehen und nach Aktenlage durchaus
realistisch war, beginnen. Diese Verfahren hatten als Haftsachen den gleichen
Stellenwert und das gleiche Gewicht wie das vorliegende Verfahren, so dass die
Strafkammer mit der ihr zur Verfügung stehenden Arbeitszeit auch insoweit tätig werden
musste, um auch dort dem Beschleunigungsgebot Rechnung zu tragen. Immerhin
handelte es sich bei einem dieser Verfahren um eine Haftsache mit vier in Haft
befindlichen Angeklagten, was auf einen nicht unerheblichen Umfang schließen lässt.
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Der Umstand, dass die Hauptverhandlung nicht bereits im März 2006 beendet werden
konnte, ist offensichtlich im Wesentlichen auch auf das nicht vorhersehbare
Verteidigungsverhalten der Angeklagten zurückzuführen.
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Zutreffend hat die Strafkammer in der angefochtenen Entscheidung auch darauf
hingewiesen, dass eine Abtrennung des Verfahrens gegen den Angeklagten für das
Verfahren nicht förderlich gewesen wäre und letztlich nicht zu einer Beschleunigung
geführt hätte, da die Beweisaufnahme dann – worauf die Strafkammer in dem
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angefochtenen Beschluss zutreffend hinweist – "größtenteils doppelt hätte durchgeführt
werden müssen".
Insgesamt lässt sich nach alledem feststellen, dass die Behandlung des Verfahrens den
Beschleunigungsgrundsatz nicht verletzt hat, so dass die Beschwerde mit der sich aus §
473 Abs. 1 StPO ergebenden Kostenfolge zu verwerfen war.
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