Urteil des OLG Hamm vom 06.09.2007

OLG Hamm: höchstgeschwindigkeit, angemessene geschwindigkeit, polizei, beweiswürdigung, geschwindigkeitsüberschreitung, überholen, behinderung, witterungsverhältnisse, fahren, geschwindigkeitsmesser

Oberlandesgericht Hamm, 3 Ss OWi 426/07
Datum:
06.09.2007
Gericht:
Oberlandesgericht Hamm
Spruchkörper:
3. Senat für Bußgeldsachen
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
3 Ss OWi 426/07
Vorinstanz:
Amtsgericht Gütersloh, 12 OWi 64 Js 674/06 – AK 138/06
Schlagworte:
Überholen eines anderen Fahrzeugs bei gleichzeitiger Überschreitung
der zulässigen Höchstgeschwindigkeit verstößt für sich genommen nicht
gegen §§ 5 Abs. 2 S. 2; 49 Abs. 1 Nr. 5 StVO.
Normen:
StVO § 5 Abs. 2 S. 2; StVO § 49 Abs. 1 Nr. 5
Leitsätze:
Das Überholen eines anderen Fahrzeugs bei gleichzeitiger
Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit verstößt für sich
genommen nicht gegen §§ 5 Abs. 2 S. 2; 49 Abs. 1 Nr. 5 StVO.
Tenor:
1.
Die Sache wird dem Bußgeldsenat in der Besetzung mit drei Richtern
übertragen.
2.
Das angefochtene Urteil wird mit den Feststellungen aufgehoben.
3.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die
Kosten des Rechtsmittels, an eine andere für Bußgeldsachen
zuständige Abteilung des Amtsgerichts Gütersloh zurückverwiesen.
Gründe
1
I.
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Das Amtsgericht Gütersloh hat den Betroffenen wegen der fahrlässigen Begehung einer
Ordnungswidrigkeit gem. §§ 1 Abs. 2, 5 Abs. 2, 41 Abs. 2 (Zeichen 274), 41 Abs. 3
(Zeichen 295/296), 49 StVO, § 24 StVG zu einer Geldbuße in Höhe von 150,00 EUR
verurteilt. Es hat gegen ihn ferner ein Fahrverbot von einem Monat unter Gewährung der
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Frist gem. § 25 Abs. 2a StVG verhängt.
Nach den Feststellungen des Amtsgerichts befuhr der – bereits mehrfach wegen
Verkehrsverstößen ordnungswidrigkeitenrechtlich belangte – Betroffene am 28.12.2005
Nachts, bei einsetzendem Schneefall, als Führer eines PKW in H die B## in
Fahrtrichtung C. Hinter der Kreuzung Q-Straße/I-Straße, wo sich die bis dahin in jede
Fahrtrichtung zweispurige Straße auf jeweils eine Spur verengt und wo eine
Geschwindigkeit von 50 km/h zugelassen ist, begann der Betroffene ein Zivilfahrzeug
der Polizei zu überholen. Dieses befand sich auf dem Weg zu einem Einsatz wegen
einer Straftat. Bei dem Überholvorgang überfuhr er eine schraffierte Fläche sodann eine
Linksabbiegerspur und blieb anschließend zunächst auf der Gegenfahrbahn. Der
Betroffene soll bei dem Überholvorgang eine Geschwindigkeit von mindestens 71 km/h
gehabt haben.
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Im Urteil führt das Amtsgericht u. a. aus:
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"Weiterhin hat der Betroffene gegen § 5 Abs. 2 StVO verstoßen, indem er an dieser
Stelle mit der ihm vorgeworfenen Geschwindigkeit überholt hat.
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Nach dieser Vorschrift darf nur überholen, wer mit wesentlich höherer Geschwindigkeit
als der zu Überholende fährt. Das bedeutet aber auch, dass nicht überholt werden darf,
wenn mit dem Überholvorgang die zulässige Höchstgeschwindigkeit überschritten
werden müsste. Die Begrenzung der Geschwindigkeit wirkt sich daher faktisch als
Überholverbot aus, wenn die Geschwindigkeit eines Rechtsfahrenden ein Überholen
mit höherer Geschwindigkeit nicht zulässt (Janiszewski/Jagow/Burmann,
Straßenverkehrsrecht, 9. Aufl. 2006, § 5 StVO, RdNr 23 m. w. N.)".
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Gegen das Urteil hat der Betroffene form- und fristgerecht Rechtsbeschwerde erhoben,
die er mit einer Verletzung materiellen Rechts begründet. Gegen die
Kostenentscheidung hat er ebenfalls "Rechtsmittel" eingelegt. Die
Generalstaatsanwaltschaft Hamm hat beantragt, dieRechtsbeschwerde als
offensichtlich unbegründet zu verwerfen.
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II.
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Die Sache war dem Bußgeldsenat in der Besetzung mit drei Richtern zu übertragen, da
dies zur Fortbildung des Rechts geboten war. Die von der Rechtsbeschwerde
aufgeworfene Frage, ob in Fällenden wie dem vorliegenden auch § 5 Abs. 2 S. 2 StVO
zum Tragen kommt, weil die Vorschrift sich "faktisch wie ein Überholverbot" auswirke,
oder ob die Vorschrift nur dann Anwendung findet, wenn der Betroffene nicht mit
wesentlich höherer Geschwindigkeit als der zu Überholende fährt (was hier nicht
festgestellt ist), ist – soweit ersichtlich – bisher noch nicht obergerichtlich geklärt.
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Dies ist eine Entscheidung des Einzelrichters des Senats.
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III.
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Die Rechtsbeschwerde hat in vollem Umfang Erfolg.
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1.
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Die Verurteilung wegen eines Verstoßes gegen § 5 Abs. 2 S. 2 StVO i.V.m. § 49 Abs. 1
Nr. 5 StVO i. V.m. § 24 StVG bei gleichzeitiger Verurteilung des Betroffenen wegen
eines Verstoßes gegen § 41 Abs. 2, Zeichen 274 i.V.m. § 49 Abs. 3 Nr. 4 StVO i. V.m. §
24 StVG hält rechtlicher Überprüfung nicht stand.
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a. Nach § 49 Abs. 1 Nr. 5 StVO handelt ordnungswidrig, wer gegen die Vorschrift
über das Überholen (u.a.) nach § 5 Abs. 2 S. 2 StVO verstößt. Ein solcher Verstoß
ist hier nicht hinreichend festgestellt.
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Nach § 5 Abs. 2 S. 2 StVO muss die Überholgeschwindigkeit wesentlich höher
sein als die des Überholten. das Amtsgericht hat hier lediglich festgestellt, dass der
Betroffene "keinesfalls langsamer als 70 km/h" (UA S. 4) gefahren sei, das
überholte Zivilfahrzeug der Polizei mit einer "Geschwindigkeit von mindestens 70
km/h, eher mehr" (UA S. 2).
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Die Ansicht des Amtsgerichts, dass eine Bußgeldsanktionierung nach §§ 5 Abs. 2
S. 2, 49 Abs. 1 Nr. 5 StVO auch dann in Betracht komme, wenn sich eine
Geschwindigkeitsbeschränkung faktisch wie ein Überholverbot auswirke, wenn ein
Überholendes vorausfahrenden Fahrzeugs ohne Überschreitung der zulässigen
Höchstgeschwindigkeit nicht möglich sei, ist rechtsfehlerhaft. In einer Reihe
zivilrechtlicher Entscheidungen wird zwar zutreffend darauf hingewiesen, dass ein
Überholen zu unterbleiben hat, wenn dies nicht ohne Überschreitung der
zulässigen Höchstgeschwindigkeit möglich ist ( vgl. u. a. OLG Schleswig VRS 91,
299, 300; OLG München VRS 31, 170, 171). Dies besagt aber nichts darüber, ob
allein die Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit während des
Überholvorgangs (auch) zu einer Ahndung nach §§ 5 Abs. 2 S. 2; 49 Abs. 1 Nr. 5
StVO führt. Dies ist zu verneinen. Schon der Wortlaut verbietet das. Nach § 5 Abs.
2 S. 2 StVO ist nicht das Überholen unter Begehung einer
Geschwindigkeitsüberschreitung verboten, sondern es wird eine bestimmte
Mindestgeschwindigkeit des überholenden Fahrzeugs gefordert. Darüberhinaus ist
Zweck dieser Regelung – das zeigt die Zusammenschau mit § 5 Abs. 2 S. 1 StVO
– die Risiken des Überholvorgangs dadurch zu verringern, dass er zügig und auf
möglichst kurzer Strecke durchgeführt wird (vgl. OLG Köln DAR 1967, 17, 18).
Solange hiergegen nicht verstoßen wurde, kommt auch eine Ahndung nach diesen
Vorschriften nicht in Betracht. Die gleichzeitige ordnungswidrigkeitenrechtliche
Ahndung des Verhaltens des Betroffenen als Geschwindigkeitsüberschreitung
stellt vielmehr sogar eine Doppelsanktionerung des selben Verhaltensunwerts dar.
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b. Die Feststellungen im amtsgerichtlichen Urteil tragen darüber hinaus auch nicht
die Verurteilung wegen Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit um
mindestens 21 km/h. Die ihnen zu Grunde liegende Beweiswürdigung hält
rechtlicher Überprüfung nicht stand, da sie lückenhaft ist. Der Betroffene selbst hat
eingeräumt, eine "Geschwindigkeit von 70 bis 80 km/h eingehalten zu haben" (UA
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S. 3). Der Führer des überholten Zivilfahrzeugs der Polizei, Q, hat ausgesagt, dass
er keinesfalls unter 70 km/h gefahren sei und der Betroffene das Polizeifahrzeug
mit erheblich höherer Geschwindigkeit überholt habe. Der Beifahrer im
Polizeifahrzeug, der ebenfalls bestätigt hat, dass man mit mindestens 70 km/h
gefahren ist, konnte sich daran erinnern, weil man anegsichts der
Witterungsverhältnisse erörtert habe, wie schnell man fahren könne.
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Diese Ausführungen im amtsgerichtlichen Urteil lassen völlig unklar, worauf die
Geschwindigkeitseinschätzung des Zeugen Q beruht. Festgestellt ist jedenfalls
nicht, dass er sie aufgrund eines Blicks auf den Geschwindigkeitsmesser des
Fahrzeugs während des Überholtwerdens gewonnen hat und ob es sich bei
diesem um ein geeichtes Instrument gehandelt hat. So kann es sich auch um eine
bloß subjektive – für eine Verurteilung ohne weiteres nicht ausreichende –
Schätzung handeln. Bei der Aussage des Beifahrers bleibt offen, wann das
Gespräch über die witterungsbedingt angemessene Geschwindigkeit stattgefunden
hat und ob danach eine konstante Geschwindigkeit bis zum und während des
Überholtwerdens durch den Betroffenen eingehalten wurde und falls ja, worauf der
Zeuge diese Einschätzung stützt.
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Das grundsätzlich für eine Verurteilung wegen eines Geschwindigkeitsverstoßes
ausreichende Geständnis (vgl. OLG Düssledorf NZV 1997, 321, 322) des
Betroffenen, lässt ebenfalls keine Verurteilung wegen einer Überschreitung der
zulässigen Höchstgeschwindigkeit um mindestens 21 km/h zu, da angesichts
seiner Angaben (70 – 80 km/h) zu seinen Gunsten der niedrigere Wert zu Grunde
zu legen wäre, so dass höchstens eine Überschreitung um 20 km/h hierauf gestützt
werden könnte.
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2.
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Soweit der Betroffene wegen eines Verstoßes gegen §§ 49 Abs. 1 Nr. 1, 1 Abs. 2 StVO
sowie wegen Verstoßes gegen §§ 49 Abs. 3 Nr. 4, 41 Abs. 3 (Zeichen 295/296)
verurteilt worden ist, hält dies zwar – trotz der knappen Beweiswürdigung zur
Behinderung des entgegenkommenden Fahrzeugs und der Nichtvernehmung von
dessen Fahrzeugführer als Zeugen – noch rechtlicher Überprüfung stand.
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Da alle hier begangenen Verkehrsverstöße aber in Tateinheit zueinander stehen, war
das Urteil insgesamt aufzuheben und die Sache zurückzuverweisen. Eine eigene
Sachentscheidung des Senats nach § 79 Abs. 6 OWiG schied wegen der
rechtsfehlerhaft getroffenen, aber möglicherweise ergänzungsfähigen, Feststellungen
aus.
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