Urteil des OLG Frankfurt vom 19.09.2006

OLG Frankfurt: bedingte entlassung, anhörung, videokonferenz, faires verfahren, einverständnis, persönlichkeit, form, aussetzung, verzicht, bewährung

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Gericht:
OLG Frankfurt 3.
Strafsenat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
3 Ws 905 - 906/06,
3 Ws 905/06, 3 Ws
906/06
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 57 Abs 1 S 1 Nr 2 StGB, §
454 Abs 1 S 3 StPO
(Verfahren der Strafrestaussetzung zur Bewährung:
Voraussetzungen der Anhörung des Verurteilten per
Videokonferenz)
Leitsatz
1. § 454 I 3 StPO dient der Erweiterung der Tatsachengrundlage für die zu treffende
Prognoseentscheidung und erhöht deren Treffsicherheit. Sie dient auf diese Weise
einerseits dem in § 57 I Nr. 2 StGB hervorgehobenen Sicherheitsinteresse der
Allgemeinheit, nämlich dem Schutz vor fehlerhaften bedingten Entlassungen,
andererseits gewährleistet sie das Recht des Verurteilten auf Aussetzung des Strafrests
bei günstiger Legalprognose.
2. Die Durchführung der mündlichen Anhörung in Form der Videokonferenz ist nur
zulässig, wenn der Verurteilte hierzu ausdrücklich und eindeutig sein Einverständnis
erklärt hat und auch die Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit keine weitergehende
Aufklärung der prognoserelevanten Faktoren gebieten.
Tenor
Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Entscheidung, auch über die Kosten der Beschwerde,
an die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Gründe
Durch den angefochtenen Beschluss lehnte die Strafvollstreckungskammer die
Aussetzung der Vollstreckung der Strafreste aus den Urteilen des Amtsgerichts
Kassel vom 23.11.2005 und des Amtsgerichts Korbach vom 6.9.2004 ab.
Hiergegen richtet sich die form- und fristgerecht eingelegte sofortige Beschwerde
des Verurteilten, die aus verfahrensrechtlichen Gründen – zumindest vorläufig –
Erfolg hat.
Die durchgeführte Anhörung des Verurteilten per Videokonferenz genügt nicht den
Anforderungen des § 454 I 3 StPO.
Die Vorschrift soll gewährleisten, dass sich der Gefangene uneingeschränkt und
möglichst unbefangen gegenüber dem Gericht artikulieren und der Spruchkörper
sich einen unmittelbaren persönlichen Eindruck und damit ein möglichst
umfassendes Bild von seiner Persönlichkeit verschaffen kann . Die mündliche
Anhörung bewirkt also eine Erweiterung der Tatsachengrundlage für die zu
treffende Prognoseentscheidung nach § 57 StGB und erhöht deren Treffsicherheit.
Die Regelung des § 454 I 3 StPO dient deshalb einerseits dem in § 57 I Nr. 2 StGB
hervorgehobenen Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit, nämlich dem Schutz vor
fehlerhaften bedingten Entlassungen . Andererseits stellt sie aber auch einen
Ausfluss des Freiheitsrechts des Gefangenen (Art. 2 II GG) und seines Anspruches
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Ausfluss des Freiheitsrechts des Gefangenen (Art. 2 II GG) und seines Anspruches
auf ein faires Verfahren (Art. 2 I, 20 III GG) dar : Es wird die Pflicht des Gerichts zur
umfassenden Sachverhaltsermittlung bei der Anordnung der Fortdauer des
Freiheitsentzugs konkretisiert. Das Gericht soll zur vollständigen Aufklärung
möglichst aller für die Prognose relevanten Tatsachen, wozu auch ein
umfassendes Bild von der zu beurteilenden Person gehört, angehalten werden.
Ferner wird gewährleistet, dass der Gefangene bestmöglich auf das Ergebnis
dieser Aufklärung Einfluss nehmen kann . Hierdurch wird dem Anspruch des
Verurteilten auf bedingte Entlassung bei Vorliegen einer günstigen Prognose
Rechnung getragen und er seinerseits vor Fehlentscheidungen des Gerichts
geschützt.
Zwar enthält das Gesetz keine nähere Weisung, wie die mündliche Anhörung
auszugestalten ist. Der Strafvollstreckungskammer ist daher ein Ermessen bei der
Durchführung im Einzelfall eingeräumt. Dieses hat sich jedoch an dem
aufgezeigten Sinn und Zweck des § 454 I 3 StPO zu orientieren. Danach ist die
Durchführung einer Videokonferenz – wenn keine bedingte Entlassung erfolgt, also
das Sicherungsinteresse der Allgemeinheit nicht betroffen ist (vgl. Senat, Beschl.
v. 31.8.2006 – 3 Ws 811/06) – nur ermessenfehlerfrei, wenn sie mit dem
ausdrücklichen Einverständnis der Verurteilten erfolgt.
Eine Videokonferenz vermag dem Gericht nämlich nicht in gleicher Weise den für
die für die Prognose wichtigen, auch durch Erscheinungsbild, Verhalten, Auftreten,
Mimik und Körpersprache pp während der Unterredung vermittelten unmittelbaren
Eindruck von der Persönlichkeit zu geben wie eine Anhörung „face to face“ . Eine
Videokonferenz ist ferner geeignet, den Gefangenen in seinen
Ausdrucksmöglichkeiten einzuengen sowie Ängste, Hemmungen und Nervosität
hervorzurufen und ihn damit in der Wahrnehmung seiner verfassungsrechtlich
gewährleisteten Rechte einzuschränken . Hierfür ist kein rechtfertigendes – etwa
dem Zeugenschutz, der den Regelungen der § 255a, 247a StPO im
Erkenntnisverfahren zu Grunde liegt, vergleichbares – übergeordnetes Interesse
erkennbar. Vielmehr dient die von der Kammer gewählte Modalität der Anhörung
ausschließlich arbeitsökonomischen und fiskalischen Gründen bzw. der
Bequemlichkeit.
Zwar kann der Verurteilte gänzlich auf die mündliche Anhörung verzichten, so dass
auch der teilweise Verzicht auf diese Anhörung, welcher in der Einschränkung der
Tatsachengrundlage für die Aussetzungsentscheidung und die Beschränkung der
Verteidigungsmöglichkeiten des Verurteilten bei einer Anhörung per
Videokonferenz liegt, möglich sein muss. Dieser Teilverzicht ist – wie der gänzliche
Verzicht - indes nur wirksam, also auch die Anordnung der Anhörung per
Videokonferenz nur ermessensfehlerfrei, wenn der Verurteilte hierzu ausdrücklich
und eindeutig sein Einverständnis erklärt hat.
Eine solche Einverständniserklärung liegt nicht vor. Den Akten ist sie nicht zu
entnehmen, sie ist weder in der „Erklärung gem. § 57 I Nr. 3 StGB“ des
Verurteilten vom 16.6.2006, noch im Anhörungsvermerk vom 24.7.2006 enthalten.
Der erkennende Richter der Strafvollstreckungskammer konnte sich auf Nachfrage
an den vorliegenden Fall nicht mehr erinnern (vgl. Vermerk vom 20.9.2006, Bl. 81
RS).
Wegen des aufgezeigten Verfahrensfehlers war die Sache an die Vorinstanz
zurückzuverweisen. Der Senat vertritt in ständiger Rechtsprechung die Auffassung,
dass bei Verstößen gegen die Vorschrift des § 454 I 3 StPO von der Regel des §
309 II StPO abzuweichen ist. Diese Auffassung entspricht der herrschenden
Meinung in Rechtsprechung und Literatur.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.