Urteil des OLG Frankfurt vom 14.07.2003

OLG Frankfurt: vorläufige einstellung, aufschiebende wirkung, auflage, verbotsirrtum, fahrverbot, vollstreckung, auskunftsperson, fahren, neutralität, rechtskraft

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Gericht:
OLG Frankfurt 3.
Strafsenat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
3 Ss 114/03
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
§ 17 S 1 StPO, § 21 Abs 1 Nr 1
StVG, § 25 Abs 2 S 1 StVG, §
25 Abs 5 S 1 StVG
(Unvermeidbarer Verbotsirrtum bei Fahren ohne
Fahrerlaubnis: Unrichtige Verteidigerauskunft hinsichtlich
der Hemmung der Vollstreckung eines verhängten
Fahrverbots im Gnadenverfahren)
Tenor
Die Revision wird verworfen.
Die Kosten des Revisionsverfahrens und die dem Angeklagten entstandenen
notwendigen Auslagen werden der Staatskasse auferlegt.
Gründe
Das Amtsgericht Frankfurt am Main hat den Angeklagten wegen vorsätzlichen
Fahrens ohne Fahrerlaubnis zu einer Geldstrafe von 40 Tagessätzen zu je 10,- €
verurteilt und ein Fahrverbot für die Dauer von 2 Monaten verhängt. Auf die
dagegen eingelegte Berufung des Angeklagten hat die Berufungskammer des
Landgerichts Frankfurt am Main das angefochtene Urteil aufgehoben und den
Angeklagten mit der Begründung freigesprochen, dass er sich in einem
unvermeidbaren Verbotsirrtum befunden habe.
Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision der Staatsanwaltschaft, mit der die
Verletzung sachlichen Rechts gerügt wird.
Die zulässige, insbesondere form- und fristgerecht eingelegte und begründete,
Revision hat in der Sache keinen Erfolg.
Das Landgericht hat u. a. festgestellt, dass das Amtsgericht Frankfurt am Main
den Angeklagten in einem Verkehrsordnungswidrigkeitenverfahren am 28.11.2000
zu einer Geldbuße und einem Fahrverbot von 1 Monat verurteilt habe. Der Richter
habe den Angeklagten entsprechend § 25 Abs. 8 StVG über die Wirksamkeit des
Fahrverbots mit der Rechtskraft der Bußgeldentscheidung gemäß § 25 Abs. 2 S. 1
StVG und den Beginn der Verbotsfrist mit amtlicher Inverwahrungnahme des
Führerscheins gemäß § 25 Abs. 5 S. 1 StVG belehrt. Das Urteil sei am 20.4.2001
rechtskräftig geworden. Der Angeklagte habe seinen Führerschein jedoch auch
dann nicht in amtliche Verwahrung gegeben.
Ein von dem Verteidiger des Angeklagten unter dem 5.6.2001 eingereichtes
Gnadengesuch wegen des Fahrverbots habe die Staatsanwaltschaft Frankfurt am
Main mit Schreiben vom 10.10.2001 abgelehnt. Der Verteidiger habe daraufhin
eine als Gnadenbeschwerde auszulegende Eingabe an das Hessische Ministerium
der Justiz gerichtet, über die noch nicht entschieden worden sei. Der bereits seit
Jahren für den Angeklagten tätige Rechtsanwalt habe dem Angeklagten erklärt,
dass das in dem Ordnungswidrigkeitenverfahren verhängte Fahrverbot solange
nicht wirksam sei, als über den Gnadenantrag nicht abschließend entschieden
worden sei. Im Vertrauen auf diese Auskunft habe der Angeklagte mit fehlender
Unrechtseinsicht am 30.1.2002 mit seinem Kraftfahrzeug eine Straße in O.
befahren.
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Diese Feststellungen sind hinreichend klar, widerspruchsfrei und noch ausreichend
vollständig. Auch die Beweiswürdigung des Landgerichts lässt keine Rechtsfehler
erkennen. Das Landgericht hat in revisionsrechtlich nicht angreifbarer Weise die
durch den Verteidiger ausdrücklich bestätigte Einlassung des Angeklagten als
glaubhaft zugrunde gelegt. Diese Würdigung ist weder in sich widersprüchlich noch
lückenhaft oder unklar und verstößt auch nicht gegen Denkgesetze oder
Erfahrungssätze.
Die Feststellungen tragen den erfolgten Freispruch. Denn unter Zugrundelegung
der Feststellungen hat der Angeklagte zwar in rechtswidriger Weise den
Tatbestand des § 21 Abs. 1 Nr. 1 StVG verwirklicht, als er am 30.1.2002 ohne die
erforderliche Fahrerlaubnis am öffentlichen Straßenverkehr teilnahm. Er handelte
dabei jedoch ohne Schuld, weil er sich aufgrund der falschen Rechtsauskunft
seines Verteidigers in einem unvermeidbaren Verbotsirrtum gemäß § 17 S. 1 StGB
befand. Ein Verbotsirrtum ist unvermeidbar, wenn der Täter die Rechtswidrigkeit
seines Tuns auch bei Anspannung seines Gewissens unter Berücksichtigung seiner
individuellen Fähigkeiten und Kenntnisse nicht erkennen kann (vgl. BayObLG NJW
1980, 1057; OLG Koblenz NStE Nr. 6 zu § 17 StGB; OLG Bremen NStZ 1981, 265;
Tröndle/Fischer, StGB, 51. Auflage 2003, § 17, Rdz. 8; Schönke/Schröder-Cramer,
StGB, 25. Auflage 1997, § 17, Rdz. 14). Nach überwiegender Auffassung, der sich
der Senat anschließt, übersteigen die Anforderungen die zur Meidung eines
Fahrlässigkeitsvorwurfs gebotene Sorgfalt (vgl. Lackner/Kühl-Kühl, StGB, 23.
Auflage 1999, § 17, Rdz. 7; Tröndle/Fischer, a. a. O., § 17, Rdz. 8; Systematischer
Kommentar zum StGB – Rudolphi, 7. Auflage 2002, § 17, Rdz. 30 a). Der Täter
muß alle seine geistigen Erkenntniskräfte einsetzen und aufgetretenen Zweifeln
nachgehen (vgl. Schönke/Schröder-Cramer, a. a. O., § 17, Rdz. 14). Bei
entsprechendem Anlaß muß er sich bei sachkundigen Behörden oder sonstigen
Rechtskundigen erkundigen (vgl. BGH NStZ 2000, 364; BayObLG NStE Nr. 4 zu §
17 StGB; OLG Koblenz NStE Nr. 6 zu § 17 StGB, Tröndle-Fischer, a. a. O., § 17, Rdz.
7). Grundsätzlich kann er sich auf die Auskunft einer verständigen, sachkundigen,
unvoreingenommenen Person, die kein erkennbares Eigeninteresse verfolgt und
deswegen Gewähr für eine objektive, sorgfältige, pflichtgemäße und
verantwortungsbewußte Auskunftserteilung bietet, verlassen (vgl. BGH StV 1995,
408; BayObLG StV 1992, 421; OLG Braunschweig StV 1998, 492; Tröndle-Fischer,
a. a. O., § 17, Rdz. 9). Namentlich darf er auf Auskünfte von Rechtsanwälten oder
vergleichbaren Rechtskundigen, die er ohne Verschulden als kompetent
angesehen hat, regelmäßig vertrauen (vgl. BGH StV 1995, 408; BayObLG StV
1992, 421; OLG Braunschweig StV 1998, 492; OLG Bremen NStZ 1981, 265; OLG
Frankfurt am Main JR 1996, 250; Amtsgericht Frankfurt am Main NStE Nr. 5 zu § 17
StGB; Leipziger Kommentar zum StGB – Schroeder, 10. Auflage 1985, § 17, Rdz.
42). Eine Rechtsauskunft enthebt den Täter allerdings nicht der persönlichen
Entscheidung über Recht und Unrecht (vgl. OLG Koblenz NStE Nr. 6, § 17 StGB;
OLG Bremen NStZ 1981, 265). Er ist nicht entlastet, wenn die Unerlaubtheit des
Tuns entgegen der Auskunft bei auch nur mäßiger Anspannung von Verstand und
Gewissen leicht erkennbar ist (OLG Braunschweig StV 1998, Rdz. 492; OLG Koblenz
NStE Nr. 6 zu § 17 StGB; OLG Bremen NStZ 1981, 265; Tröndle/Fischer, a. a. O., §
17, Rdz. 9). Die erteilte Auskunft ist kritisch zu überprüfen und im Falle von
Anhaltspunkten für die Unrichtigkeit – z. B. aufgrund anderslautender Hinweise
oder fehlender Neutralität der Auskunftsperson – gegebenenfalls weiterer Rat
einzuholen (vgl. OLG Stuttgart NJW 1977, 1408; KG JR 1977, 379; OLG Hamm NJW
1982, 659; OLG Braunschweig StV 1998, 492).
Unter Anwendung dieser Grundsätze konnte sich der Angeklagte auf den Rat
seines Rechtsanwalts verlassen. Der bereits seit Jahren für ihn tätige Verteidiger
war mit allen Umständen des Einzelfalles vertraut und aufgrund seiner
anwaltlichen Tätigkeit zu derartigen Auskünften berufen. Anhaltspunkte, um an
seiner Neutralität zu zweifeln, bestanden nach den Feststellungen des
Landgerichts nicht. Aufgrund dessen handelte es sich bei dem Verteidiger aus
Sicht des Angeklagten um eine kompetente und unvoreingenommene
Auskunftsperson, auf deren Rat er grundsätzlich vertrauen durfte.
Der Angeklagte konnte auch bei der gebotenen Anspannung von Verstand und
Gewissen nicht erkennen, dass die Auskunft falsch war. Dem steht nicht entgegen,
dass das Bußgeldverfahren bereits rechtskräftig abgeschlossen und der
Angeklagte ausdrücklich über die Wirksamkeit des Fahrverbots mit Eintritt der
Rechtskraft belehrt worden war. Denn er konnte aufgrund der ihm entsprechend
erteilten Auskunft davon ausgehen, dass aufgrund des laufenden
Gnadenverfahrens ausnahmsweise noch keine Wirksamkeit des Fahrverbots
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Gnadenverfahrens ausnahmsweise noch keine Wirksamkeit des Fahrverbots
eingetreten sei. Gegen die Ablehnung des Gnadengesuchs hatte der Verteidiger
Gnadenbeschwerde eingelegt, über die noch nicht entschieden worden war.
Die Annahme einer aufschiebenden Wirkung eines laufenden Gnadenverfahrens ist
aus Laiensicht nicht erkennbar abwegig. Etwas anderes ergibt sich auch nicht
daraus, dass Gnadengesuche keine Rechtsbehelfe, sondern Eingaben mit dem
Ziel, ausnahmsweise eine von der Rechtslage abweichende Entscheidung zu
erlangen, darstellen. Denn dieser Charakter des Gnadenverfahrens steht aus
Laiensicht einer aufschiebenden Wirkung nicht entgegen. Das Landgericht hat
auch zutreffend ausgeführt, dass der Bürger nicht gehalten sein kann, sich mit
Einzelheiten der hessischen Gnadenordnung auseinander zu setzen. Eine
aufschiebende Wirkung des laufenden Verfahrens wäre ferner mit der Hessischen
Gnadenordnung nicht völlig unvereinbar. Zwar hemmen Gnadengesuche gemäß §
8 Abs. 1 Hessische Gnadenordnung die Vollstreckung grundsätzlich nicht, worauf
mündliche Gesuchsteller auch gemäß § 5 Abs. 2 Gnadenordnung hinzuweisen
sind. § 8 Abs. 2 Hessische Gnadenordnung sieht jedoch bei glaubhafter Darlegung
von Gnadengründen und drohenden erheblichen Nachteilen eine vorläufige
Einstellung der Vollstreckung vor. § 26 Abs. 1 Hessische Gnadenordnung regelt
explizit die Aufhebung eines Fahrverbots im Wege des Gnadenerweises. Nach
alledem war die erteilte Auskunft nicht derart abwegig, dass der Angeklagte ihre
Fehlerhaftigkeit ohne weiteres hätte erkennen können – zumal der Angeklagte
nach den bindenden Feststellungen des Landgerichts zuvor keinerlei Erfahrungen
mit Gnadenverfahren hatte. Zur Einholung weiterer Auskünfte war er nicht
verpflichtet.
Die Entscheidung über die Kosten und Auslagen folgt aus § 473 Abs. 1 und 2 StPO.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.