Urteil des OLG Düsseldorf vom 16.02.2005

OLG Düsseldorf: vergabeverfahren, treu und glauben, wiederaufnahme des verfahrens, rügeobliegenheit, bekanntmachung, bekanntgabe, abgabe, eugh, waffe, erkenntnis

Oberlandesgericht Düsseldorf, VII-Verg 74/04
Datum:
16.02.2005
Gericht:
Oberlandesgericht Düsseldorf
Spruchkörper:
Vergabesenat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
VII-Verg 74/04
Tenor:
I. Auf die sofortige Beschwerde der Antragstellerin wird der Be-schluss
der 2. Vergabekammer des Bundes vom 27. September 2004 (Az. VK 2 -
172/04) aufgehoben.
Der Antragsgegnerin wird aufgegeben, das Vergabeverfahren zur
Beschaffung von 10.000 Pistolen, Kaliber 9 mm x 19, für die
Bundeszollverwaltung bis zum Stand vor der an die Bewerber zu
richtenden Aufforderung zur Abgabe eines Angebots nebst
Übersendung der Verdingungsunterlagen an aufzuheben.
Für den Fall, dass am Beschaffungsvorhaben und am Offenen Verfahren
der Vergabe festgehalten wird, wird der Antragsgeg-nerin aufgegeben,
Bewerber nicht ohne gleichzeitige Bekannt-gabe der
Verdingungsunterlagen, Zusätzlicher und Besonderer
Vertragsbedingungen und eines Leistungsverzeichnisses sowie
insbesondere aller Zuschlagskriterien einschließlich einer Be-
wertungsmatrix sowie von Hilfs- oder Unterkriterien, die einer Ausfüllung
und Konkretisierung hauptsächlich verwendeter Zu-schlagskriterien zu
dienen bestimmt sind, erneut zur Abgabe eines Angebots aufzufordern.
II. Die Kosten des Verfahrens der Vergabekammer werden zur Hälfte der
Antragstellerin sowie zur weiteren Hälfte der An-tragsgegnerin und der
Beigeladenen als Gesamtschuldnern auferlegt.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens sind von der Antrags-gegnerin
und der Beigeladenen je zur Hälfte zu tragen.
Den Verfahrensbeteiligten im Verfahren der Vergabekammer
entstandene Aufwendungen werden nicht erstattet.
Die der Antragstellerin im Beschwerdeverfahren einschließlich des
Verfahrens nach § 118 Abs. 1 GWB entstandenen außer-gerichtlichen
Kosten werden je zur Hälfte der Antragsgegnerin und der Beigeladenen
auferlegt.
Der Antragsgegnerin und der Beigeladenen werden im Be-
schwerdeverfahren entstandene außergerichtliche Kosten nicht erstattet.
III. Streitwert für das Beschwerdeverfahren: bis 140.000 Euro
(Hier Freitext: Tatbestand, Gründe etc.)
1
I.
2
Die Antragsgegnerin schrieb Anfang März 2004 durch ihren als Vergabestelle
handelnden Verfahrensvertreter nach gemeinschaftsweiter Bekanntmachung im Offenen
Verfahren den Kauf von 10.000 Dienstpistolen des Kalibers 9 mm x 19 aus. Der
schriftlichen Aufforderung zur Abgabe eines Angebots waren u.a. ein
Leistungsverzeichnis, Zusätzliche und Besondere Vertragsbedingungen sowie der
Entwurf eines Rahmenvertrages betreffend den Kauf und die Lieferung beigefügt.
3
Im Leistungsverzeichnis waren die Produkteigenschaften u.a. wie folgt beschrieben:
4
Bieter hatten bis zu einem Stichtag in geeigneter Weise (praktisch durch Zertifikat eines
zugelassenen Beschussamtes) nachzuweisen, dass die angebotene Pistole die in der
Technischen Richtlinie (TR) Pistolen und in der Erprobungsrichtlinie zur TR Pistolen,
jeweils Stand September 2003, aufgestellten Forderungen erfüllte (Abschnitt 1. des
Leistungsverzeichnisses). Für die Ausführung der Pistolen sollten grundsätzlich die
Anforderungen der TR Pistolen gelten (Leistungsverzeichnis Abschnitt 5.). Darüber
hinaus nannte die Vergabestelle in Abschnitt 5.1 des Leistungsverzeichnisses
insgesamt neun Gruppen von "ergänzenden und abweichenden Forderungen".
5
In der Vergabebekanntmachung (sowie nochmals in der Angebotsaufforderung vom
3.3.2004) gab die Vergabestelle als Kriterien für den Zuschlag (die Auftragserteilung)
bekannt:
6
Das wirtschaftlich günstigste Angebot.
7
Bezüglich der nachstehenden Kriterien:
8
1. Handhabung, Treffsicherheit, Sicherheit, Ausbildung, Logistik (ermittelt durch
Anwendererprobung) (45 %)
2. Preis (35 %)
3. Technische Leistung (20 %)
9
In Abschnitt 5. der Besonderen Vertragsbedingungen war das Bewertungsverfahren wie
folgt erläutert:
10
5.2 Leistungsbeurteilung
11
Die Angebote werden mittels einer Bewertungsmatrix unter Zugrundelegung der
festgelegten, im Leistungsverzeichnis aufgeführten Bewertungskriterien und deren
Gewichtung bewertet.
12
Bestandteil der Bewertung ist auch das Ergebnis der jeweiligen praktischen
Erprobung der dafür zur Verfügung gestellten Testwaffen durch die als
Sachkundige hinzugezogenen Beamten und der Bediensteten im Rahmen der
Anwendererprobung.
13
Hierbei findet ein System nach folgender Maßgabe Anwendung:
14
Den Forderungen wird jeweils eine von der Bewertungskommission der
Vergabestelle bereits festgelegte Gewichtung zugeordnet, an der die angebotene
Leistung bei der Bewertung des Angebots gemessen wird.
15
Subjektive Leistungen/Eigenschaften werden benotet.
16
Beide Ergebnisse werden zu einem einzigen Ergebnis zusammengeführt. Die
subjektiven Noten werden dadurch weitgehend objektiviert.
17
(Basis: Programm für eine Anwendererprobung mit Waffen, die nach der
Technischen Richtlinie Pistolen technisch geprüft sind; ...)
18
Die Bewertung sollte sich - kurz zusammengefasst - in folgenden Schritten vollziehen:
19
Von den Bietern zur Verfügung gestellte Testwaffen sollten nach den oben unter 1.)
genannten Kriterien (Handhabung, Treffsicherheit, Sicherheit, Ausbildung und Logistik)
einer Anwendererprobung durch unterschiedliche Personen unterzogen werden. Die
hieran Beteiligten sollten umfangreiche Fragebögen nebst Erläuterungen ausfüllen und
Einzelnoten von 1 bis 6 (mit aufsteigender Punktzahl ungünstiger werdend) vergeben.
Die technische Leistung (drittes Kriterium) sollte - ebenfalls anhand detaillierter
Fragebögen - von Bediensteten der Waffeninstandsetzungswerkstatt der Vergabestelle
bewertet und benotet werden. Die zu den Kriterien unter 1.) und 3.) vergebenen Noten
sollten in einem bestimmten Verfahren auf Durchschnittswerte zurückgeführt sowie unter
Einbeziehung des zweiten Kriteriums (Preis) anhand einer Wertungsmatrix jeweils in
Punktwerte übertragen werden. Das Angebot mit der höchsten Gesamtpunktzahl sollte
als das wirtschaftlichste anzusehen sein und den Zuschlag erhalten. Die in den
Fragebögen nebst Erläuterungen enthaltenen Fragen waren den Bedürfnissen der
Zollverwaltung angepasst worden. Sie lagen der Vergabestelle mit der Wertungsmatrix
im Zeitpunkt der Übersendung der Verdingungsunterlagen vor, ohne den Bietern vor
Abgabe eines Angebots bekannt gegeben worden zu sein.
20
In einem am 14.4.2004 (nach Übersendung der Verdingungsunterlagen, aber vor Ablauf
der Angebotsfrist) durchgeführten Bietergespräch verneinten Vertreter der Vergabestelle
die Frage der Antragstellerin, ob das Bewertungsverfahren vor einer Angebotsabgabe
spezifiziert werde. Die Vergabestelle vermerkte hierüber in einem von ihr errichteten
Protokoll:
21
Pflicht des Auftraggebers zur Veröffentlichung der Kriterien für die Auftragserteilung
(Transparenzgebot). Eine detailliertere Gewichtung/Untergewichtung der
Zuschlagskriterien bzw. Veröffentlichung der Bewertungsmatrix ist nicht
vorgeschrieben.
22
Innerhalb der Angebotsfrist gaben drei Bieter, darunter die Antragstellerin und die
Beigeladene, Angebote ab. Nach Durchführung des Wertungsverfahrens war das
Angebot eines dritten Bieters nach Punkten abgeschlagen. Es wurde darüber hinaus
ausgeschlossen, weil es die Vorgabe einer Zertifizierung der Waffe nicht erfüllte. Die
Angebote der Antragstellerin und der Beigeladenen kamen in die engere Wahl. Wegen
höherer Gesamtpunktzahl sollte der Zuschlag auf das Angebot der Beigeladenen
ergehen.
23
Hiergegen stellte die Antragstellerin nach erfolgloser Rüge einen Nachprüfungsantrag,
mit dem sie sich gegen das Verfahren der Angebotswertung, gegen die Vorenthaltung
der Wertungsmatrix einschließlich der Fragebögen und gegen mehrere
Einzelbewertungen wandte. Die Antragstellerin begehrte in erster Linie, die
Antragsgegnerin zu verpflichten, das Vergabeverfahren unter Ausschluss des Angebots
der Beigeladenen mit dem Ziel eines Zuschlags auf ihr, der Antragstellerin, Angebot
fortzusetzen, hilfsweise eine Neubewertung durchzuführen.
24
Die Antragsgegnerin und die Beigeladene beantragten Ablehnung des
Nachprüfungsantrags. Sie traten den Beanstandungen der Antragstellerin entgegen.
25
Die Vergabekammer lehnte den Nachprüfungsantrag ab, weil die Antragstellerin mit der
die unterbliebene Bekanntgabe der Wertungsmatrix und der Fragebögen betreffenden
Rüge gemäß § 107 Abs. 3 Satz 1 GWB präkludiert und den übrigen Beanstandungen in
der Sache nicht stattzugeben sei.
26
Mit ihrer dagegen gerichteten sofortigen Beschwerde vertieft und ergänzt die
Antragstellerin ihren bisherigen Vortrag.
27
Die Antragstellerin beantragt,
28
1. den angefochtenen Beschluss der Vergabekammer aufzuheben,
2. die Antragsgegnerin anzuweisen, das Vergabeverfahren unter Beachtung der
Rechtsauffassung des Beschwerdegerichts fortzusetzen,
29
30
hilfsweise zu 2.,
31
die Antragsgegnerin anzuweisen, das Vergabeverfahren unter Beachtung der
Rechtsauffassung des Gerichts fortzusetzen und die Angebote unter
ausschließlicher Beachtung der in der Ausschreibung genannten
Zuschlagskriterien erneut zu bewerten,
32
nochmals hilfsweise,
33
das Nachprüfungsverfahren zur erneuten Entscheidung an die Vergabekammer
zurückzuweisen,
34
Die Antragsgegnerin und die Beigeladene beantragen,
35
die sofortige Beschwerde zurückzuweisen.
36
Die Antragsgegnerin und die Beigeladene verteidigen die Entscheidung der
Vergabekammer. Sie wiederholen und erweitern ihren erstinstanzlichen Vortrag.
37
Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Schriftsätze und auf
die mit diesen vorgelegten Anlagen sowie insbesondere auf die Angebotsaufforderung,
das Leistungsverzeichnis und auf die Zusätzlichen und Besonderen
Vertragsbedingungen der Vergabestelle Bezug genommen.
38
II.
39
Die sofortige Beschwerde der Antragstellerin hat den mit den Hauptanträgen
angestrebten Erfolg, dass unter Aufhebung der angefochtenen Entscheidung das
Vergabeverfahren von der Angebotsaufforderung und Versendung der
Verdingungsunterlagen an aufzuheben ist. Das Vergabeverfahren ist, sollte die
Antragsgegnerin am Beschaffungsvorhaben und an der beschrittenen Verfahrensart
festhalten, im Stand nach der Vergabebekanntmachung von der Vergabestelle
wiederaufzunehmen und von dort an zu wiederholen. Der dahingehende
Beschlussausspruch ist - wie sich aus der Auslegung des Beschwerdevortrags ergibt -
vom Hauptantrag der Antragstellerin umfasst. Die Antragstellerin hat zu erkennen
gegeben, der Antrag, die Antragsgegnerin zu einer Fortsetzung des Vergabeverfahrens
unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats zu verpflichten, schließe eine (Teil-)
Aufhebung des Verfahrens und damit eine Zurückversetzung in einen früheren Stand
ein. Dies geht mit hinreichender Deutlichkeit zuletzt aus dem zur Auslegung der
Hauptanträge heranzuziehenden Schriftsatz der Antragstellerin vom 17.1.2005 hervor
(dort S. 4, GA 290). Im Ergebnis bleibt die Entscheidung des Senats hinter dem
Hauptantrag der Beschwerde nicht zurück.
40
Mit einer Wiederaufnahme des Verfahrens hat die Antragsgegnerin (die Vergabestelle)
unter den genannten Voraussetzungen den Bietern - und zwar jedem Bieter, der um
Übersendung der Verdingungsunterlagen nachgesucht hat - unter Zusendung der
Verdingungsunterlagen nach Maßgabe des Beschlussausspruchs Gelegenheit zur
erneuten Abgabe eines Angebots zu erteilen. Den Bietern sind hierbei alle
Zuschlagskriterien bekannt zu geben. Dazu gehört die Bekanntgabe der Wertungsmatrix
sowie jener Fragebögen (einschließlich darin enthaltener Erläuterungen), die zum
Zweck einer Anwendung der Haupt-Zuschlagskriterien durch Bewertungspersonen mit
dem bisherigen oder mit einem veränderten Inhalt aufgestellt worden sind. Am
bisherigen Vergabeverfahren ist zu beanstanden, dass gerade die aus der
Wertungsmatrix und aus den Fragebögen hervorgehenden Bewertungsmerkmale den
Bietern vor einer Angebotsabgabe vorenthalten worden sind, obwohl diese von der
Vergabestelle vorher aufgestellt worden waren. Dazu im Einzelnen:
41
a. Der Nachprüfungsantrag ist zulässig. Die Antragstellerin ist antragsbefugt (§ 107 Abs.
42
2 GWB). Eine Verletzung der Rügeobliegenheit nach § 107 Abs. 3 Satz 1 GWB ist ihr
nicht anzulasten.
1. Die - auch von der Vergabekammer angenommene - Antragsbefugnis der
Antragstellerin ist nicht zweifelhaft. Die Antragsbefugnis scheitert nicht daran, dass - wie
die Antragsgegnerin und die Beigeladene meinen - die Antragstellerin mit ihrem
Angebot die Verdingungsunterlagen geändert habe (vgl. § 21 Nr. 1 Abs. 3 VOL/A) und
ihr Angebot deswegen von einer Wertung auszunehmen sei (vgl. § 25 Nr. 1 Abs. 1 lit. d)
VOL/A). Ob die Antragstellerin mit ihrem Angebot die Verdingungsunterlagen tatsächlich
geändert hat, kann hierfür dahingestellt bleiben. Denn selbst wenn es so wäre,
rechtfertigt dies weder den Ausschluss ihres Angebots noch lässt es die
Antragsbefugnis entfallen. Der von der Antragsgegnerin und der Beigeladenen
geforderte Angebotsausschluss bezieht sich auf die "ergänzende und abweichende
Forderung" des Leistungsverzeichnisses:
43
Die Waffe ist so zu kennzeichnen, dass die Waffennummern (Rohr, Verschluss,
Griffstück) sowie die Eigentumskennzeichnung (BZV) bei der in dem
Kunststoffkasten liegenden Waffe, ohne diese drehen zu müssen, sichtbar sind.
44
Die Antragsgegnerin und die Beigeladene machen geltend, bei den mit Griffstücken der
Größen L und XL ausgerüsteten Pistolen der Antragstellerin seien im
Aufbewahrungskasten liegend die Waffennummern nicht zu erkennen. Dies ist
umstritten, jedoch muss darüber nicht aufgeklärt werden. Selbst wenn nämlich die
Sachdarstellung der Antragsgegnerin und der Beigeladenen zutrifft, und die
Erkennbarkeit der Waffenkennzeichnung bei der im Aufbewahrungskasten liegenden
Waffe nicht in jedem Fall gewährleistet ist, scheitert der Nachprüfungsantrag jedenfalls
nicht an der Antragsbefugnis. Denn vom Antrag der Beschwerde ist umfasst, dass das
Vergabeverfahren teilweise aufgehoben wird und die beteiligten Bewerber/Bieter unter
vorheriger Bekanntmachung aller Zuschlagskriterien zu einer erneuten
Angebotsabgabe zugelassen werden. Mit Rücksicht auf den Inhalt dieses Antrags ist
(ungeachtet seines tatsächlichen Erfolgs) die Antragsbefugnis der Antragstellerin nicht
zu verneinen. Hat ihr Antrag nämlich Erfolg, kann sie - nachdem Bewerbern sämtliche
Zuschlagskriterien bekannt gegeben worden sind - ohnehin ein neues Angebot
abgeben. Dafür hat keine Bedeutung, ob das im Rahmen des bisherigen und
(möglicherweise) rechtsfehlerhaft ausgestalteten Vergabeverfahrens abgegebene
Angebot der Antragstellerin von der Wertung auszuschließen ist oder nicht (vgl. OLG
Düsseldorf, Beschl. v. 24.3.2004, Az. Verg 7/04, VergabeR 2004, 517, 518; KG, Beschl.
v. 15.4.2004, Az. 2 Verg 22/03, VergabeR 2004, 762, 764 f.). Diese Auslegung stimmt
mit der zur Antragsbefugnis im Nachprüfungsverfahren ergangenen Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts vom 29.7.2004 überein (vgl. NZBau 2004, 564, 566, rechte
Spalte). Zugleich machen die vorstehenden Überlegungen deutlich, dass - sofern das
Vergabeverfahren an dem behaupteten Mangel leidet - der Nachprüfungsantrag der
Antragstellerin unter dem Gesichtspunkt eines Angebotsausschlusses wegen
Änderungen an den Verdingungsunterlagen auch in der Sache nicht abzulehnen ist.
Dafür ist unerheblich, ob das zum bisherigen Vergabeverfahren eingereichte Angebot
der Antragstellerin einem Wertungsausschluss unterliegt, da ihr der Nachprüfungsantrag
im Erfolgsfall die Möglichkeit eröffnet, ein völlig neues Angebot abzugeben.
45
2. Die Antragstellerin ist mit der Beanstandung, vor Angebotsabgabe von der
Vergabestelle entgegen der Vorschrift des § 9 a VOL/A nicht über alle maßgeblichen
Zuschlagskriterien unterrichtet worden zu sein, entgegen der Meinung der
46
Antragsgegnerin und der Beigeladenen unter dem Gesichtpunkt einer Verletzung der
Rügeobliegenheit nach § 107 Abs. 3 Satz 1 GWB nicht ausgeschlossen.
aa. Nach dem Wortlaut der Norm besteht die Rügeobliegenheit als eine
Zugangsvoraussetzung zum Nachprüfungsverfahren nur für die vom Antragsteller
erkannten Verstöße gegen Vergabevorschriften. Die Erkenntnis eines
Vergaberechtsverstoßes erfordert nicht nur die Kenntnis der einen Rechtsverstoß
begründenden Tatsachen, sondern gleichermaßen die wenigstens laienhafte und durch
vernünftige Beurteilung hervorgebrachte rechtliche Wertung und Vorstellung des
Antragstellers, dass der betreffende Vergabevorgang rechtlich zu beanstanden sei.
Bloße Vermutungen oder ein Verdacht lösen hingegen ebenso wenig wie grob
fahrlässige Unkenntnis eine Rügeobliegenheit aus (vgl. OLG Düsseldorf, Beschl. v.
4.3.2004, Az. Verg 8/04, VergabeR 2004, 511, 512). In der Regel ist ein
Bieter/Bewerber, der einen Vergaberechtsverstoß vermutet, genauso wenig gehalten,
seine in tatsächlicher oder in rechtlicher Hinsicht ungenügenden Kenntnisse zu
vervollständigen, insbesondere rechtlichen Rat einzuholen. Von diesen Grundsätzen ist
nur dann eine Ausnahme geboten, wenn der Kenntnisstand des Bieters/Bewerbers in
tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht einen solchen Grad erreicht hat, dass seine
Unkenntnis vom Vergaberechtsverstoß nur als ein mutwilliges Sich-Verschließen vor
der Erkenntnis dieses Rechtsverstoßes verstanden werden kann. Hieran sind indes
strenge und vom Auftraggeber darzulegende Anforderungen zu richten (vgl. u.a. OLG
Düsseldorf, Beschl. v. 18.7.2001, Az. Verg 16/01, VergabeR 2001, 419, 421; OLG
Koblenz, Beschl. v. 5.6.2003, Az. 1 Verg 2/03, VergabeR 2003, 719). Erkennt der
Antragsteller einen Vergaberechtsverstoß erst im Laufe des Nachprüfungsverfahrens, so
entsteht keine gesonderte Rügeobliegenheit. Die auf die Obliegenheit zu
außerprozessualer Rüge gegenüber dem Auftraggeber angelegte Vorschrift des § 107
Abs. 3 Satz 1 GWB ist nicht auf solche Rechtsverstöße anzuwenden, die der
Antragsteller erst nach Einleitung des Nachprüfungsverfahrens erkennt (vgl. OLG
Düsseldorf, Beschl. v. 18.10.2000, Az. Verg 3/00, NZBau 2001, 157; OLG Frankfurt a.M.,
Beschl. v. 10.4.2001, Az. 11 Verg 1/01, NZBau 2002, 161; BayObLG VergabeR 2003,
675, 677; OLG Saarbrücken NZBau 2004, 117, 118).
47
bb. Von diesem Vorverständnis ausgehend ist nicht festzustellen, die Antragstellerin sei
gemäß § 107 Abs. 3 Satz 1 GWB vor Einleitung des Nachprüfungsverfahrens der
Antragsgegnerin gegenüber zu einer Rüge gehalten gewesen, dass die
Verdingungsunterlagen, namentlich die Zuschlagskriterien im Einzelnen, mit der
Aufforderung zur Abgabe eines Angebots nur unvollständig - d.h. ohne die
Bewertungsmatrix und die Fragebögen - bekannt gemacht worden waren. Allerdings
wusste die Antragstellerin, dass die Vergabestelle die Angebotswertung anhand einer
Bewertungsmatrix vornehmen wollte. Ihr war jedenfalls von einem bestimmten, vor
Einleitung des Nachprüfungsverfahrens liegenden Zeitpunkt an ebenfalls bekannt, dass
für die angekündigte Anwendererprobung konkretisierende Fragebögen ausgearbeitet
und den Fragen - ausgehend von einem bekannten Programm für die
Anwendererprobung bei Schusswaffen - teilweise abgewandelte, auf die Bedürfnisse
der Zollverwaltung zugeschnittene und besonders gewichtete Produkteigenschaften
zugrunde gelegt worden waren. Dies alles ging aus den (im tatbestandlichen Teil
wiedergegebenen) Erläuterungen in den Verdingungsunterlagen sowie aus dem
Bietergespräch vom 14.4.2004 hervor, dessen Inhalt und Verlauf keine Unklarheit
darüber aufkommen ließ, dass die Vergabestelle sich weigerte, die Bewertungsmatrix
und die Fragebögen an die Bewerber herauszugeben. Die für die Entstehung einer
Rügeobliegenheit vorauszusetzende Sachkenntnis hat die Antragstellerin hiernach
48
besessen.
Unabhängig davon, dass bei der gegebenen Sachlage daran gezweifelt werden kann,
ob eine Rügeobliegenheit für die Antragstellerin überhaupt entstand - denn eine Rüge
kann nach dem auch das Vergaberecht beherrschenden Grundsatz von Treu und
Glauben (§ 242 BGB) verzichtbar sein, wenn die Vergabestelle zu erkennen gibt, von
einer vergaberechtswidrigen Entscheidung unter keinen Umständen abrücken zu wollen
(vgl. OLG Koblenz VergabeR 2003, 709, 714) - ist indes nicht festzustellen, die
Antragstellerin habe aus dem ihr bekannten Sachverhalt den, wenn auch in rechtlicher
Hinsicht noch nicht näher fundierten, für das Entstehen der Rügeobliegenheit aber
notwendigen Schluss gezogen, die Vergabestelle enthalte den Bietern die
Bewertungsmatrix und die Fragenkataloge rechtswidrig vor. Die gegenteilige Annahme
der Antragsgegnerin, der Beigeladenen und der Vergabekammer ist durch zureichend
aussagekräftige Beweisanzeichen nicht unterlegt. Ebenso wenig rechtfertigt der eigene
Vortrag der Antragstellerin die Schlussfolgerung, sie habe die Vorenthaltung weiterer
Verdingungsunterlagen (Bewertungsmatrix und Fragebögen) vor Einleitung des
Nachprüfungsverfahrens selbst als vergabefehlerhaft bewertet. Der Nachteil der
Nichterweislichkeit ist prozessual von der Antragsgegnerin und der Beigeladenen
tragen. Im Einzelnen:
49
(1.) Der Umstand, dass die Antragstellerin im Bietergespräch nach einer "Spezifizierung
des Bewertungsverfahrens" fragte, erlaubt nicht den Schluss, sie habe es rechtlich
selbst so eingeschätzt, dass die Vergabestelle zu einer Bekanntgabe der
Wertungsmatrix und der Fragebögen verpflichtet gewesen sei. Dagegen spricht, dass es
für einen Bieter allein in tatsächlicher Hinsicht ohne Weiteres vorteilhaft war, die
detaillierten Gewichtungen, wonach die Vergabestelle die Angebote bewerten wollte,
bei der Angebotserstellung zu kennen. Ein Bieter, der die speziellen Anforderungen des
Auftraggebers kennt und weiß, worauf es diesem in besonderer Weise ankommt, kann -
innerhalb gewisser Grenzen - sein Angebot diesen Anforderungen eher anpassen und
damit seine Chancen auf einen Zuschlag steigern. Nach dem Vortrag der Antragstellerin
war eine solche Anpassung auch im Streitfall nicht ausgeschlossen. Wurde die
Antragstellerin durch diesen Zusammenhang zu ihrer Frage motiviert, kann die
Fragestellung als solche aber nicht zugleich dahin verstanden werden, sie, die
Antragstellerin, habe schon vor dem Bietergespräch vom 14.4.2004 eine
Bekanntmachung der Bewertungsmatrix und der Fragenkataloge auch vergaberechtlich
für geboten erachtet. Die Bewertungsmatrix und die Fragebögen enthielten
Unterkriterien, denen nach der Vorstellung der Vergabestelle für die
Bewertungspersonen die Funktion von Interpretations- und Bewertungshilfen bei der
Anwendung der Zuschlagskriterien zukommen sollte. Demgegenüber waren die (Haupt-
) Zuschlagskriterien und deren prozentuale Gewichtung den Bietern mit der
Angebotsaufforderung bekannt gegeben worden. Über diese Information hinausgehend
lehnte ausweislich der hierüber errichteten Niederschrift die Vergabestelle im Gespräch
mit der Antragstellerin eine Bekanntgabe der Unterkriterien mit der dezidierten
Begründung ab, eine Veröffentlichung der detaillierten Gewichtung und
Untergewichtung der Zuschlagskriterien sowie der Bewertungsmatrix sei
vergaberechtlich nicht vorgeschrieben. Diese Rechtsauffassung mochten die von der
Beigeladenen erwähnten Entscheidungen der Vergabekammer Lüneburg vom
13.5.2002 und der Vergabekammer beim Thüringer Landesverwaltungsamt vom
30.8.2002 stützen, die sich gegen eine Verpflichtung der Vergabestelle zur
Bekanntgabe von Unterkriterien aussprachen. Vor diesem tatsächlichen und rechtlichen
Hintergrund kann nicht festgestellt werden, die Antragstellerin habe in der Frage einer
50
Bekanntmachung der Unterkriterien bis zur Einleitung des Nachprüfungsverfahrens über
eine bessere Erkenntnis als die Vergabestelle oder auch nur über überlegene eigene
Erkenntnismöglichkeiten verfügt. In der Konsequenz der Ansicht der Antragsgegnerin
und der Beigeladenen soll ihnen im genannten Punkt selbst ein Vergaberechtsfehler
verborgen geblieben, allein von der Antragstellerin jedoch erkannt worden sein. Das ist
unwahrscheinlich. Insoweit ohne eine spezifische Aussagekraft ist auch der Vortrag der
Antragsgegnerin und der Beigeladenen, das mit eigener Rechtsabteilung ausgestattete
Unternehmen der Antragstellerin habe ein beträchtliches Erfahrungswissen im
öffentlichen Auftragsrecht. Denn aus der lediglich praktischen Beteiligung an
einschlägigen öffentlichen Auftragsvergaben ist weder isoliert noch bei
zusammenfassender Würdigung des bekannten Sachverhalts zu folgern, die
Antragstellerin habe die Vorenthaltung der Bewertungsmatrix und der Fragebögen mit
dem Grad von Gewissheit als vergaberechtswidrig bewertet, der es gebot, bei der
Vergabestelle eine entsprechende Rüge anzubringen. Es ist unwiderlegt, dass sich der
Antragstellerin - wie sie vorträgt - diese Erkenntnis erst im Nachprüfungsverfahren
erschlossen hat.
(2.) Gegenteilige Schlussfolgerungen erlaubt ebenso wenig der Vortrag der
Antragstellerin im erstinstanzlichen Nachprüfungsverfahren, dem insbesondere die
Beigeladene das Zugeständnis entnehmen will, die Antragstellerin sei sich auf der
Grundlage des oben dargestellten rechtlichen Maßstabs (siehe oben S. 11 unter aa.)
spätestens nach Beendigung des Bietergesprächs darüber im Klaren gewesen, dass
die Vorenthaltung der weiteren Verdingungsunterlagen als vergaberechtswidrig zu
qualifizieren sei. In diesem Sinn ist der einheitlich zu verstehende Vortrag der
Antragstellerin nicht auszulegen. Dies hat auch für die von der Vergabekammer - im
Sinne eines Belegs für die Kenntnis von einem Vergaberechtsverstoß - für maßgebend
erachtete Äußerung der Antragstellerin zu gelten, sie habe eine Rüge vor Einleitung des
Nachprüfungsverfahrens nicht für opportun gehalten, um das Vergabeverfahren nicht zu
belasten. Die prozessualen Erklärungen der Antragstellerin würden ohne Rücksicht auf
den prozessualen und den Sinnzusammenhang, in dem sie standen, gewürdigt, wollte
man ihnen den Aussagewert zumessen, sie habe damit die Kenntnis von einem
Vergaberechtsfehler einräumen wollen. Soweit sich die Antragstellerin zur Opportunität
einer Rüge geäußert (und diese verneint) hat, kann dies zum Beispiel keinesfalls
losgelöst von ihrer weiteren Erklärung bewertet werden, sie habe sich dazu
entschlossen, keine "Verdachtsrüge" auszusprechen (siehe Schriftsatz vom 8.9.2004, S.
3 = VKA 608). Auf einen bloßen Verdacht hin musste die Antragstellerin nicht rügen. Ob
sie es außerdem für inopportun hielt, das Verfahren auf einen Verdacht hin zu
beanstanden, ist unerheblich. Der weitere Vortrag der Antragstellerin, wonach schon die
einer "Spezifizierung des Bewertungsverfahrens" geltende Frage im Bietergespräch als
eine Rüge im Sinne von § 107 Abs. 3 Satz 1 GWB aufzufassen sei ("Der Hinweis, dass
man die entsprechenden Fragen erhalten möchte, ist Rüge genug", vgl. den Schriftsatz
der Antragstellerin vom 13.9.2004, S. 2 = VKA 1075), ist ebenso wenig dahin
auszulegen, die Antragstellerin sei sich bei der besagten Gelegenheit bewusst
gewesen, zu einer Rüge im Rechtsinn gehalten zu sein und habe damals eine Rüge
aussprechen wollen. Da sie im Nachprüfungsverfahren den klaren Standpunkt vertrat,
bis zur Einleitung des Nachprüfungsverfahrens habe eine Rügeobliegenheit nicht
bestanden, ist dieser Vortrag vielmehr im Sinn einer Hilfsargumentation der
Antragstellerin zu verstehen. Dagegen ist ihm nicht die Bedeutung zuzumessen, die
Antragstellerin habe ihr Bestreiten, zur Erhebung einer Rüge gehalten gewesen zu sein,
dadurch aufgeben wollen. Der Umstand, dass die Antragstellerin das Bietergespräch
vom 14.4.2004 ihrerseits zum Anlass nahm, ein Protokoll hierüber anzufertigen und
51
dieses der Vergabestelle zuzusenden, ist für die Annahme, sie, die Antragstellerin, sei
sich vor Einleitung des Nachprüfungsverfahrens eines Vergabefehlers bewusst
gewesen, ebenso wenig ergiebig. In jenem Gespräch wurden zahlreiche Fragen der
Antragstellerin erörtert. Gewiss war die Protokollierung auch zu - später gegebenenfalls
eintretenden - Beweiszwecken bestimmt. Allein dieser Umstand verleiht dem Protokoll
der Antragstellerin - zumal dafür auch in anderer Hinsicht zureichende Anhaltspunkte
fehlen - jedoch nicht die Aussagequalität, aus der Kenntnis eines der Vergabestelle bei
der Bekanntgabe der Zuschlagskriterien unterlaufenen Vergaberechtsfehlers heraus
niedergeschrieben worden zu sein.
Bei dieser Sachlage kann der Zulässigkeit des Nachprüfungsantrags allenfalls schaden,
dass die Antragstellerin einem bestehenden und aufgrund des Bietergesprächs vom
14.4.2004 nicht ausgeräumten Verdacht eines Vergabeverstoßes nicht weiter
nachgegangen ist und darüber, insbesondere durch anwaltliche Rechtsberatung, vor
Einleitung des Nachprüfungsverfahrens nicht aufgeklärt hat. Bereits im obenstehenden
Zusammenhang ist indes ausgeführt worden, dass der Antragsteller im Rahmen der ihn
treffenden Rügeobliegenheit nach § 107 Abs. 3 Satz 1 GWB nicht gehalten ist, die in
tatsächlicher oder in rechtlicher Hinsicht bestehende Ungewissheit über einen
Rechtsverstoß in der Weise zu beheben, dass rechtlicher Rat eingeholt wird und sich
dadurch eine Mutmaßung zu rechtlicher Gewissheit verdichtet (siehe oben S. 11 unter
aa.). Eine derartige Obliegenheit des Antragstellers ist dem Wortlaut und Zweck der
Norm nicht zu entnehmen (vgl. OLG Düsseldorf, Beschl. v. 18.7.2001, Az. Verg 16/01,
VergabeR 2001, 419, 421). Eine Ausnahme hiervon ist nur geboten, wenn der
Kenntnisstand des Antragstellers (in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht) einen
solchen Grad erreicht hat, dass die verbleibende Unkenntnis eines
Vergaberechtsverstoßes nur als ein mutwilliges Sich-Verschließen vor der Erkenntnis
dieses Rechtsverstoßes gewertet werden kann (vgl. OLG Düsseldorf a.a.O.). Die hieran
anzulegenden strengen Anforderungen sind im Streitfall zu verneinen. Es kann nach
den Umständen nur festgestellt werden, dass die Antragstellerin den eine
Rügeobliegenheit nicht auslösenden bloßen rechtlichen Verdacht hatte, als Bieter über
den Inhalt der Zuschlagskriterien von der Vergabestelle unzureichend informiert worden
zu sein.
52
b. Der Nachprüfungsantrag hat in der Sache Erfolg, da die Vergabestelle den Bietern
die bei der Angebotswertung anzuwendenden Zuschlagskriterien entgegen der aus § 9
a VOL/A abzuleitenden Verpflichtung vor Ablauf der Angebotsfrist nicht vollständig
bekannt gegeben hat. Aufgrund dessen ist nicht sichergestellt, dass die Auftragsvergabe
in einem transparenten Verfahren erfolgen kann (vgl. § 97 Abs. 1 GWB), in dem die
Bieter durch die Vorhersehbarkeit der Wertungsmaßstäbe nicht nur vor einer
willkürlichen Bewertung der Angebote, sondern zugleich vor einer nachträglichen
Abweichung des Auftraggebers von den bekannt gegebenen Zu-schlagskriterien
geschützt sind (vgl. BGH NJW 1998, 3644, 3646).
53
1. Gemäß § 9 a VOL/A geben die Auftraggeber in den Verdingungsunterlagen oder in
der Vergabebekanntmachung alle Zuschlagskriterien an, deren Verwendung sie
vorsehen, möglichst in der Reihenfolge der ihnen zuerkannten Bedeutung. Diese
Vorschrift beruht auf einer Umsetzung von Art. 26 Abs. 2 der Richtlinie 93/36/EWG des
Rates vom 14.6.1993 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher
Lieferaufträge (LKR; ABl. Nr. L 199 v. 9.8.1993, S. 1 ff.). Sie gewährt Bietern einen
Rechtsanspruch darauf, dass ihnen die Zuschlagskriterien vor Einreichung der
Angebote vom Auftraggeber bekannt gegeben werden.
54
aa. Zu Art. 30 Abs. 2 der Richtlinie 93/37/EWG des Rates vom 14.6.1993 (BKR; ABl. Nr.
L 199 vom 9.8.1993, S. 54 ff.), der mit Art. 26 Abs. 2 der Richtlinie 93/36/EWG vom
14.6.1993 im Wortlaut identisch ist, hat der EuGH in einem Vor-
abentscheidungsverfahren nach Art. 234 EG am 12.12.2002 (Rs. C-470/99 - Universale-
Bau AG, VergabeR 2003, 141) geurteilt, dass ein öffentlicher Auftraggeber, der im
Rahmen eines Nichtoffenen Verfahrens im Voraus Regeln für die Gewichtung der
Kriterien für die Auswahl der Bewerber, die zur Abgabe eines Angebots aufgefordert
werden, aufgestellt hat, verpflichtet ist, diese Regeln in der Auftragsbekanntmachung
oder in den Ausschreibungsunterlagen anzugeben (Tz. 100). In jenem Fall hatte der
Auftraggeber auf Teilnahmeanträge angekündigt, die vorgelegten Unterlagen (dort
Referenzen) zur Reihung der Teilnehmer nach einem Scoring-Verfahren zu bewerten,
welches notariell hinterlegt war (Tz. 20, 21), dessen Einzelheiten oder Modalitäten den
Teilnehmern vor Ablauf der Bewerbungsfrist jedoch nicht bekannt gegeben worden
waren (Tz. 21, 38). Dagegen hatte der Auftraggeber die Hauptkriterien für die Reihung
der Teilnahmeanträge in der Reihenfolge ihrer Bedeutung bekannt gegeben (Tz. 83).
Der EuGH hat dieses Verfahren bemängelt, da - sofern der Zuschlag, wie auch im
Streitfall, auf das wirtschaftlichste Angebot ergehen solle - der öffentliche Auftraggeber
nach Art. 30 Abs. 2 der Richtlinie 93/37 in den Verdingungsunterlagen oder in der
Bekanntmachung alle Zuschlagskriterien anzugeben habe, deren Verwendung er
vorsehe. Daraus gehe - so die Entscheidung des EuGH - zugleich hervor, dass sich der
öffentliche Auftraggeber, wenn er eine Gewichtung der zur Anwendung vorgesehenen
Zuschlagskriterien vorgesehen habe, nicht darauf beschränken könne, diese Kriterien
lediglich in den Verdingungsunterlagen oder in der Bekanntmachung (Bemerkung: als
solche) zu benennen, sondern dass er den Bietern außerdem die vorgesehene
Gewichtung mitzuteilen habe (Tz. 97). Durch diese dem öffentlichen Auftraggeber
auferlegte Verpflichtung sei gerade bezweckt, den potentiellen Bietern vor der
Vorbereitung ihrer Angebote die Zuschlagskriterien, denen diese Angebote entsprechen
müssten, und die relative Bedeutung dieser Kriterien bekannt zu machen, um so die
Grundsätze der Gleichbehandlung der Bieter und der Transparenz zu gewährleisten
(Tz. 98 m.w.N.). Die Auslegung, wonach der öffentliche Auftraggeber, der im Rahmen
eines Nichtoffenen Verfahrens bereits vor der Veröffentlichung der
Auftragsbekanntmachung Regeln für die Gewichtung der zur Anwendung vorgesehenen
Auswahlkriterien aufgestellt habe, diese Kriterien den Bewerbern im Voraus bekannt
geben müsse, erweise sich damit als die einzige Auslegung, die mit den Zielen der
Richtlinie 93/37 vereinbar sei, da nur sie geeignet sei, ein angemessenes
Transparenzniveau und damit die Einhaltung des Gleichbehandlungsgrundsatzes zu
wahren (Tz. 99).
55
bb. Was der EuGH in der genannten Entscheidung zum Teilnahmewettbewerb im
Rahmen eines Nichtoffenen Verfahrens nach Maßgabe der Richtlinie 93/37,
insbesondere zur Auslegung von Art. 30 Abs. 2 der Richtlinie, ausgeführt hat, hat
gleichermaßen für das Verständnis des im Wortlaut identischen Art. 26 Abs. 2 der
Richtlinie 93/36 zu gelten. Wie Art. 30 Abs. 2 der Richtlinie 93/37 ist Art. 26 Abs. 2 der
Richtlinie 93/36 darüber hinaus in Nichtoffenen und in Offenen Verfahren zur Vergabe
öffentlicher Aufträge zu beachten. Dem entsprechend ist § 9 a VOL/A
gemeinschaftsrechtskonform dahin zu verstehen, dass der öffentliche Auftraggeber, der
(jedenfalls) im Vorhinein Regeln zur Gewichtung der Zuschlagskriterien aufgestellt hat,
verpflichtet ist, den Bietern in der Vergabebekanntmachung oder in den
Verdingungsunterlagen nicht nur die Zuschlagskriterien als solche, sondern auch deren
Gewichtung mitzuteilen. Art. 53 Abs. 2 der Richtlinie 2004/18/EG vom 31.3.2004 stellt
56
abgesehen davon, dass diese Richtlinie erst nach Einleitung des hier zu überprüfenden
Vergabeverfahrens in Kraft getreten und im Streitfall daher nicht anzuwenden ist, an die
Bekanntmachung des öffentlichen Auftraggebers keine abweichenden, insbesondere
geringeren Anforderungen an die dem öffentlichen Auftraggeber obliegende
Bekanntmachung der Zuschlagskriterien auf.
(1.) Eine vom öffentlichen Auftraggeber im Voraus aufgestellte Bewertungsmatrix gehört
- genauso wie das zur Vergabe von Wertungspunkten bestimmte Scoring-Verfahren - zu
den einer Gewichtung der Zuschlagskriterien geltenden Regeln, durch die der
öffentliche Auftraggeber festlegt, mit welchem Gewicht einzelne Bewertungen in das
Wertungsergebnis einfließen werden. In diesem Sinn war es im vorliegenden Fall
keineswegs damit getan, dass in der Aufforderung zur Abgabe eines Angebots die
Haupt-Zuschlagskriterien und deren prozentuales Gewicht bei der Gesamtwertung
mitgeteilt worden war. Da den Bietern die Wertungsmatrix nicht bekannt gegeben
worden war, blieb ihnen nämlich vorenthalten, mit welchem Umrechnungsfaktor
einzelne, bestimmten Produkteigenschaften zugeteilte Noten jeweils auf
Durchschnittsnoten zurückgeführt werden und mit welchem Anteil sowie in welchem
Verfahren diese wiederum - und zwar in der Gestalt von Wertungspunkten - bei den drei
Haupt-Zuschlagskriterien berücksichtigt werden und sich in der Gesamtwertung
auswirken sollten. Im Sinne des Urteils des EuGH vom 12.12.2002 war das Verfahren
und die Methode, wonach Einzelnoten in einen letztlich das wirtschaftlichste Angebot
bestimmenden Punktwert umgerechnet, d.h. gewichtet werden und bei der
Gesamtwertung Bedeutung erlangen sollten, in den Verdingungsunterlagen anzugeben.
Dies ist von der Vergabestelle im Streitfall unterlassen worden, da sie die
Bewertungsmatrix nicht bekannt gegeben hat.
57
(2.) Im Streitfall kommt hinzu, dass die Bieter in den Verdingungsunterlagen ebenso
wenig darüber unterrichtet worden sind, welche Sacheigenschaften die Vergabestelle
im Rahmen einer Anwendererprobung bei der Handhabung, Treffsicherheit, Sicherheit,
Ausbildung und Logistik (erstes Zuschlagskriterium) sowie bei der technischen Leistung
(drittes Kriterium) im Sinne von Unterkriterien überhaupt prüfen und bewerten sowie
dafür Noten vergeben wollte. Infolgedessen sind die Bieter nicht nur über die
Gewichtung, sondern auch über die Anforderungen, denen das Angebot entsprechen
und an denen es gemessen werden sollte, im Unklaren gelassen worden. Dies
schadete in besonderem Maß der mit einer Offenlegung der Zuschlagsregeln
bezweckten Transparenz des Vergabeverfahrens, da - wie außer Streit steht - die
Vergabestelle insoweit keineswegs allgemein bekannte Bewertungsmaßstäbe
anzuwenden beabsichtigte, sondern mit Blick auf von ihr erkannte spezifische
Bedürfnisse der Zollverwaltung in der Form umfangreicher und bei der sog.
Anwendererprobung gestellter Fragenkataloge abweichende Wertungsmerkmale
formuliert hatte. Die Fragen und die dadurch ausgewiesenen Abweichungen von
herkömmlichen Bewertungsmaßstäben (insbesondere solchen nach einem von den
Polizeiverwaltungen der Länder eingesetzten und in der Angebotsaufforderung
erwähnten Programm für eine Anwendererprobung von Waffen) waren den Bietern
vollständig unbekannt. Ihnen war abgesehen davon, dass bei dieser Sachlage die
Angebotswertung undurchsichtig ausfallen musste, im Ansatz auch schon unmöglich,
die besonderen Anforderungen, denen das Angebot nach den Vorstellungen der
Vergabestelle genügen sollte, überhaupt zu erkennen. Dies wirft zusätzlich die Frage
auf, ob die Vergabestelle, um dem in § 8 Nr. 1 Abs. 1 VOL/A normierten Gebot einer
Eindeutigkeit der Leistungsbeschreibung zu entsprechen, die in den Fragebögen
zusammengefassten Prüfungsmerkmale, soweit diese spezifische und auf den Bedarf
58
der Zollverwaltung zugeschnittene Anforderungen enthielten, pflichtgemäß nicht bereits
zum Gegenstand der Leistungsbeschreibung hätte machen müssen. Dies kann im
vorliegenden Zusammenhang indes auf sich beruhen, da die Vergabestelle infolge der
Geheimhaltung der vorgesehenen Bewertungskriterien jedenfalls der Vorschrift über die
vorherige Bekanntgabe der Zuschlagskriterien in § 9 a VOL/A nicht entsprochen hat und
die vom Senat angeordnete teilweise Aufhebung des Vergabeverfahrens der für die
Antragsgegnerin handelnden Vergabestelle zugleich Gelegenheit gibt, die
Ausgestaltung des Leistungsverzeichnisses zu überdenken. Die Vorschrift des § 9 a
VOL/A fordert in der Auslegung, welche die Richtlinie 93/36 durch das in der
Rechtssache "Universal-Bau AG" ergangene Urteil des EuGH vom 12.12.2002 erhalten
hat (VergabeR 2003, 141), in einem wörtlich zu verstehenden Sinn die Bekanntgabe
aller vorgesehenen Zuschlagskriterien einschließlich sog. Unterkriterien, die - vor einer
Angebotsabgabe - in der Vergabebekanntmachung oder in den Verdingungsunterlagen
zu erfolgen hat. Dies hat - wie dem Urteil des EuGH vom 12.12.2002 zu entnehmen ist -
jedenfalls in einem Fall wie dem vorliegenden zu gelten, in dem jene Zuschlagskriterien
vom öffentlichen Auftraggeber im Voraus, und zwar vor einer Übersendung der
Verdingungsunterlagen an die potentiellen Bieter, aufgestellt worden sind. Bei diesem
Verständnis ist das Vergabeverfahren nach Maßgabe des Beschlussausspruchs und
unter den darin angegebenen Prämissen zu wiederholen. Dieser Anordnung steht nicht
entgegen, dass die Antragstellerin nicht im Einzelnen dargelegt haben mag, wie sie ein
Angebot bei ordnungsgemäßer Bekanntmachung der Zuschlagskriterien gestaltet hätte.
Der Erfolg des Nachprüfungsantrags ist nicht von derart hypothetischen Überlegungen
abhängig zu machen. Entscheidend ist, dass der Antragstellerin nach Maßgabe
vorschriftsgemäß bekannt gegebener Zuschlagskriterien die Gelegenheit erhält, ein
völlig neues Angebot abzugeben.
Der Mangel der zu den Wertungskategorien 1.) (Handhabung, Treffsicherheit,
Sicherheit, Ausbildung und Logistik) und 2.) (technische Leistung) unvollständigen
Bekanntmachung der Zuschlags- und Wertungskriterien hat nicht zur Folge, dass eine
Angebotswertung unter Ausschluss jener Kriterien allein nach dem Preis (zweites
Zuschlagskriterium) vorzunehmen und der Zuschlag auf das preislich günstigste
Angebot zu erteilen ist. Dem steht entgegen, dass ausweislich der nicht zu
beanstandenden Vergabebekanntmachung der Zuschlag auf das wirtschaftlichste
Angebot ergehen soll, das wirtschaftlichste Angebot infolge unzureichend bekannt
gegebener Zuschlagsbedingungen bislang jedoch nicht fehlerfrei ermittelt werden
konnte. Das schließt einen ausschließlich an den Angebotspreisen ausgerichteten
Zuschlag aus. Infolgedessen ist das Vergabeverfahren unter den im Ausspruch
genannten Voraussetzungen in den Stand zurückzuversetzen, in dem die Vergabestelle
die potentiellen Bieter mit einer Aufforderung zur Einreichung von Angeboten zugleich
über die von ihr vorgesehenen Zuschlagskriterien einschließlich der aufgestellten
Bewertungsmatrix und des einer Angebotswertung zugrunde zu legenden
Fragenkatalogs vollständig unterrichten kann.
59
2. Ob das Vergabeverfahren an den weiteren von der Antragstellerin behaupteten
Mängeln leidet, muss für die hier zu treffende Entscheidung nicht geklärt werden. Für
den bei Weiterbestehen des Vergabevorhabens im Offenen Verfahren zu
wiederholenden Teil des Verfahrens sind den Verfahrensbeteiligten lediglich folgende
Hinweise zu geben:
60
Die Vergabestelle ist grundsätzlich nicht gehindert, an die Beschaffenheit der zu
liefernden Pistolen in der Leistungsbeschreibung Anforderungen zu stellen, die von der
61
TR Pistolen abweichen. Es dürfen auch Zuschlagskriterien (und Unterkriterien)
verwendet werden, die von einem Programm für eine Anwendererprobung mit Waffen,
die nach der TR Pistolen technisch geprüft sind, verschieden sind. Mit beidem darf den
spezifischen Einsatzbedingungen von Pistolen im Geschäftsbereich der
Bundeszollverwaltung Rechnung getragen werden, welche die Vergabestelle nach
ihrem nur innerhalb bestimmter rechtlicher Grenzen nachprüfbaren Ermessen festlegen
kann. In diesem Zusammenhang steht der Umstand, dass eine Pistole nach der TR
Pistolen von einem zugelassenen Beschussamt zertifiziert ist, einer umfassenden oder
teilweise erneuten Untersuchung im Vergabeverfahren nach Maßgabe der nach
Ermessen der Vergabestelle aufgestellten und den Grundsatz einer Gleichbehandlung
der Bieter beachtenden Bedingungen im Prinzip nicht entgegen. Bestimmte und im
Verfahren der Zertifizierung geprüfte Eigenschaften und Merkmale einer Waffe dürfen
unter Wahrung des Gebots einer Gleichbehandlung der Bieter im Vergabeverfahren
auch ohne einen besonderen Anlass wiederholend untersucht und differenzierend
bewertet werden. Die Maßstäbe dabei vorzunehmender Unterscheidungen der
Angebote hat die Vergabestelle nach ihrem Ermessen festzulegen.
Die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens der Vergabekammer und die in
diesem Verfahren entstandenen Aufwendungen der Verfahrensbeteiligten beruht auf §
128 Abs. 3 Satz 1 und 2, Abs. 4 Satz 1 GWB. Die Antragstellerin ist mit dem zur
Entscheidung der Vergabekammer gestellten Hauptantrag in etwa zur Hälfte unterlegen,
da ihr Begehren, die Antragsgegnerin mit dem Ziel eines Zuschlags auf ihr, der
Antragstellerin, Angebot zu einer Neubewertung unter Ausschluss des Angebots der
Beigeladenen zu verpflichten, nicht erfolgreich ist.
62
Über die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die den Verfahrensbeteiligten insoweit
entstandenen außergerichtlichen Kosten ist in entsprechender Anwendung der §§ 91,
101 Abs. 1 ZPO entschieden worden. Der Entscheidung über die Gerichtskosten des
Beschwerdeverfahrens liegt zugrunde, dass durch die einstweilige Verlängerung der
aufschiebenden Wirkung des Rechtsmittels besondere Gerichtskosten nicht angefallen
sind.
63
Die Streitwertfestsetzung gründet sich auf § 50 Abs. 2 GKG.
64