Urteil des OLG Dresden vom 11.12.2006

OLG Dresden: sorgfaltspflicht, verkehr, fahrzeug, zapfsäule, abgabe, öffentlich, treibstoff, vetter, anfechtung, grundstück

Leitsatz:
Den auf einem Tankstellengelände an einer Tanksäule rückwärts fahrenden Pkw-
Fahrer trifft gegenüber dem hinter ihm stehenden Fahrzeug nur die sich aus §
1 Abs. 2 StVO ergebende allgemeine Rücksichtnahmepflicht, nicht jedoch die
erhöhte Sorgfaltspflicht aus § 9 Abs. 5 StVO.
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Oberlandesgericht
Dresden
Senat für Bußgeldsachen
Aktenzeichen: Ss (OWi) 650/06
2 OWi 256 Js 72814/05 AG Torgau
31 OWi Ss 650/06 GenStA Dresden
Beschluss
vom 11. Dezember 2006
in der Bußgeldsache gegen
F
geboren am
wohnhaft
Verteidiger: Rechtsanwalt C R
wegen Verkehrsordnungswidrigkeit
1. Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird
das
Urteil
des
Amtsgerichts
Torgau
vom
02. Mai 2006 im Schuld- und Rechtsfolgenaus-
spruch wie folgt neu gefasst:
Der Betroffene wird wegen fahrlässigen Außer-
achtlassens der im Verkehr erforderlichen
Sorgfalt mit Schädigung eines anderen zu ei-
ner Geldbuße von 35,00 EUR verurteilt.
2. Die Liste der angewendeten Vorschriften wird
wie folgt neu gefasst:
§§ 1 Abs. 2, 49 Abs. 1 Nr. 1 StVO, § 24 StVG,
§ 1 BKatV, Nr. 1.4 BKat.
3. Die Kosten des Rechtsmittels und die insoweit
entstandenen notwendigen Auslagen des Betrof-
fenen hat die Staatskasse zu tragen.
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G r ü n d e :
I.
Das Amtsgericht hat den Betroffenen "wegen einer fahrlässi-
gen Ordnungswidrigkeit gemäß §§ 9 Abs. 5, 1 Abs. 2, 49
StVO, § 24 StVG" zu einer Geldbuße von 60,00 EUR verur-
teilt.
Der Betroffene befuhr am 18. Juli 2005 in Torgau die in der
Eilenburger Straße gelegene HEM-Tankstelle und wartete in
seinem Fahrzeug vor einer Zapfsäule. Als er nach etwa
drei bis vier Minuten bemerkt hatte, dass er sich an einer
Zapfsäule für Lkw-Diesel befand, entschloss er sich, an ei-
ne andere Zapfsäule zu fahren. Er setzte deshalb zurück und
kollidierte aus Unachtsamkeit mit einem etwa fünf bis
sechs Meter hinter ihm stehenden Lkw.
Gegen das Urteil richtet sich der Betroffene mit seinem An-
trag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde. Er meint, es liege
lediglich ein (fahrlässig begangener) Verstoß gegen die
allgemeine Sorgfaltspflicht vor, der die Verhängung der Re-
gelgeldbuße von 35,00 EUR rechtfertige.
Die Generalstaatsanwaltschaft Dresden hat beantragt, den
Zulassungsantrag als unbegründet zu verwerfen.
II.
Mit Beschluss vom heutigen Tag hat der zuständige Einzel-
richter die Rechtsbeschwerde zur Fortbildung des Rechts zu-
gelassen, um vereinzelte obergerichtliche Leitsätze zu fes-
tigen (vgl. Göhler-Seitz, OWiG, 14. Aufl., § 80 Rdnr. 3
m.w.N.). Der Senat für Bußgeldsachen entscheidet über die
Rechtsbeschwerde nunmehr in der Besetzung mit drei Richtern
(§ 80 a Abs. 3 OWiG).
Die zugelassene Rechtsbeschwerde hat in vollem Umfang Er-
folg; sie führt im Wege der eigenen Sachentscheidung des
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Senats zu der angestrebten Neufassung des Schuld- und
Rechtsfolgenausspruchs.
1. Das Fehlen ausdrücklicher Rechtsbeschwerdeanträge ist im
vorliegenden Fall unerheblich. Das Urteil wird auf eine
zugelassene Rechtsbeschwerde nur geprüft, soweit es an-
gefochten
ist
(§ 352
Abs. 1
StPO,
§§ 79
Abs. 3
Satz 1, 80 Abs. 3 OWiG). Der Umfang der Anfechtung muss
deshalb grundsätzlich durch die Rechtsbeschwerdeanträge
bezeichnet werden, die in der Begründungsschrift zu
stellen sind (§ 344 Abs. 1 StPO, §§ 79 Abs. 3 Satz 1, 80
Abs. 3 OWiG) und die den erstrebten Umfang der Ur-
teilsaufhebung
(§ 353
Abs. 1
StPO,
§§ 79
Abs. 3
Satz 1, 80 Abs. 3 OWiG) klarstellen müssen.
Das Fehlen eines solchen Antrages ist jedoch unschäd-
lich, wenn das Ziel der Rechtsbeschwerde aus der Begrün-
dungsschrift
erkennbar
ist
(Göhler-Seitz,
OWiG,
14. Aufl., § 79 Rdnr. 27 a m.w.N.).
Im vorliegenden Fall kann der Begründungsschrift mit der
notwendigen Klarheit entnommen werden, dass der Betrof-
fene lediglich eine Verurteilung wegen eines fahrlässi-
gen Verstoßes gegen § 1 Abs. 2 StVO zu der Regelgeldbuße
von 35,00 EUR anstrebt.
2. Die Rechtsbeschwerde ist auch begründet. Die Erwägungen,
mit denen das Amtsgericht einen Verstoß gegen §§ 9
Abs. 5, 49 Abs. 1 Nr. 2 StVO angenommen hat, halten
sachlich-rechtlicher Überprüfung nicht stand.
Zutreffend ist das Amtsgericht davon ausgegangen, dass
sich der Betroffene beim Zurücksetzen seines Fahrzeugs
auf dem Tankstellengelände im öffentlichen Verkehrsraum
befunden hat. Denn öffentlich im Sinne des Straßenver-
kehrsrechts sind auch die Wege und Plätze, die aufgrund
ausdrücklicher oder stillschweigender Billigung des Ver-
fügungsberechtigten für die Benutzung durch jedermann
tatsächlich freigegeben sind. Dies gilt damit auch für
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eine Tankstelle, jedenfalls solange die Abgabe von
Treibstoff möglich ist (vgl. OLG Düsseldorf NZV 1988,
231; OLG Köln NZV 1994, 438 jeweils m.w.N.).
Gleichwohl ist § 9 Abs. 5 StVO im vorliegenden Fall
nicht anwendbar. Die Vorschrift regelt primär die beson-
dere Sorgfaltspflicht gegenüber dem fließenden Verkehr
(Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 38. Aufl., § 9 StVO,
Rdnr. 51 m.w.N.). Der mit dem fließenden - und deshalb
in der Regel rascheren - Verkehr verbundenen erhöhten
Unfallgefahr soll durch eine gegenüber der allgemeinen
Sorgfaltspflicht aus § 1 Abs. 2 StVO gesteigerte Sorg-
faltspflicht desjenigen begegnet werden, der im fließen-
den Verkehr rückwärts fährt oder in diesen Verkehr rück-
wärts einfährt (OLG Stuttgart NZV 2004, 420). Dies ist
bei dem auf einem Tankstellengelände herrschenden Ver-
kehr nicht der Fall. Denn hier hat weniger das Bestreben
nach möglichst zügiger Orstveränderung Bedeutung, son-
dern das Befahren des Tankstellengeländes dient dem Auf-
suchen von Tanksäulen oder sonstiger Einrichtungen der
Tankstelle (OLG Düsseldorf NZV 1988, 231). Die Verkehrs-
situationen sind vielmehr mit denen auf Parkplätzen so-
wie in Parkhäusern und Tiefgaragen vergleichbar (vgl.
hierzu OLG Frankfurt VRS 57, 207; OLG Frankfurt VRS 57,
207; DAR 1980, 247; KG Berlin VRS 64, 104; OLG Hamburg
DAR 2000, 41). Auch der Verordnungsgeber war der An-
sicht, dass sich § 9 StVO nur an den Fahrverkehr wendet
(VkBl. 1970, 806).
Die vom Amtsgericht zur Begründung der erhöhten Sorg-
faltspflicht herangezogene Auffassung, dass auch Fußgän-
ger von dem Schutzzweck des § 9 Abs. 5 StVO erfasst sein
sollen (vgl. Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 38. Aufl.,
§ 9 StVO Rdnr. 51), ändert die Bewertung des vorliegen-
den Falls nicht; der Betroffene ist mit einem stehenden
Fahrzeug kollidiert.
Soweit das Oberlandesgericht Köln meint, durch § 9
Abs. 5 StVO werde jeder Verkehrsteilnehmer geschützt
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(VersR 1992, 332; DAR 2001, 223), ist eine Vorlage an
den Bundesgerichtshof gemäß § 121 Abs. 2 GVG, § 79
Abs. 3 Satz 1 OWiG nicht veranlasst. Die zitierten Ent-
scheidungen sind in Zivilsachen ergangen (OLG Stuttgart
DAR 1995, 32 m.w.N.; Meyer-Goßner, StPO, 49. Aufl.,
§ 121 GVG Rdnr. 6) und betrafen zudem andere Sachverhal-
te. In dem einem Fall war ein Fußgänger geschädigt wor-
den, in dem anderen Fall ein Verkehrsteilnehmer, der aus
einem Grundstück auf die Straße eingefahren war.
III.
Die vom Amtsgericht getroffenen Feststellungen sind voll-
ständig. Es ist auszuschließen, dass eine neue Hauptver-
handlung noch Aufschlüsse zu erbringen vermag. Der Senat
entscheidet deshalb in der Sache selbst (§ 79 Abs. 6 OWiG)
und verhängt wegen des von den Urteilsfeststellungen getra-
genen fahrlässigen Verstoßes gegen § 1 Abs. 2 StVO die Re-
gelgeldbuße gemäß § 1 BKatV, Nr. 1.4 BKat in Höhe von
35,00 EUR.
IV.
Die Entscheidung über die Kosten und die notwendigen Ausla-
gen des Betroffenen beruht auf § 473 Abs. 3 StPO, § 46
Abs. 1 OWiG (vgl. Meyer-Goßner, StPO, 49. Aufl., § 473
Rdnr. 23; OLG Düsseldorf JR 1991, 120).
Lips Vetter Gorial
Vorsitzender Richter Richter am Richter am
am Oberlandesgericht Oberlandesgericht Oberlandesgericht