Urteil des OLG Celle vom 13.09.2007

OLG Celle: private unfallversicherung, leistungsfähigkeit, behinderung, minderung, invaliditätsgrad, erwerbsfähigkeit, erwerbsunfähigkeit, sozialversicherung, berufsunfähigkeit, invaliditätsbegriff

Gericht:
OLG Celle, 08. Zivilsenat
Typ, AZ:
Urteil, 8 U 100/07
Datum:
13.09.2007
Sachgebiet:
Normen:
AUB § 7
Leitsatz:
1. Verliert der Versicherte durch einen Unfall eine von zwei Nieren, so kommt es, wenn der Verlust
dieses Organs in der Gliedertaxe nicht aufgeführt ist, alleine darauf an, inwieweit hierdurch die
körperliche oder geistige Leistungsfähigkeit unter ausschließlicher Berücksichtigung medizinischer
Gesichtspunkte beeinträchtigt ist.
2. Steht nach dem Ergebnis eines medizinischen Sachverständigengutachtens fest, dass der Verlust
der einen Niere vollständig durch die andere Niere kompensiert wird und mit keinen weiteren
Nachteilen zu rechnen ist, so kommt eine Invaliditätsentschädigung nicht in Betracht.
3. Soweit in Vorschriften des öffentlichrechtlichen Versorgungs oder Schwerbehindertenrechts beim
Verlust einer Niere ein fester Grad der Behinderung oder eine Minderung der Erwerbsfähigkeit
vorgesehen ist, spielt das für die Auslegung privatrechtlicher Vorschriften des
Unfallversicherungsrechts keine Rolle.
Volltext:
Oberlandesgericht Celle
Im Namen des Volkes
Urteil
8 U 100/07
3 O 149/06 Landgericht Hildesheim
Verkündet am
13. September 2007
... , Justizobersekr.
als Urkundsbeamt.
der Geschäftsstelle
In dem Rechtsstreit
L. M. ... in U.,
Klägerin und Berufungsklägerin,
Prozessbevollmächtigte:
Rechtsanwälte ...
gegen
G. Vers. AG, vertreten durch ... , in M.,
Beklagte und Berufungsbeklagte,
Prozessbevollmächtigter:
Rechtsanwalt ...
hat der 8. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Celle auf die mündliche Verhandlung vom 10. September 2007 durch
den Richter am Oberlandesgericht ... als Einzelrichter für Recht erkannt:
Die Berufung der Klägerin gegen das am 27. März 2007 verkündete Urteil des Einzelrichters der 3. Zivilkammer des
Landgerichts Hildesheim wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Die Revision wird nicht zugelassen.
G r ü n d e
Die Berufung ist unbegründet. Das angefochtene Urteil beruht weder auf einem Rechtsfehler (§ 513 Abs. 1, 1. Alt., §
546 ZPO) noch rechtfertigen die nach § 529 ZPO zugrunde zu legenden Tatsachen eine andere Entscheidung (§ 513
Abs. 1, 2. Alt. ZPO). Der Klägerin steht kein Anspruch auf Zahlung von 12.782,30 EUR aus der von ihrem Vater mit
der Beklagten geschlossenen Unfallversicherung gem. § 1 Abs. 1 S. 2, § 179 Abs. 1 VVG i. V. m. Abschnitt E II
Ziff. 3 AUBKomfort wegen ihres Unfalles vom 26. Mai 2003 zu, als sie von einem Pferd in den Unterbauch getreten
wurde und eine Ruptur der rechten Niere mit anschließender operativer Rekonstruktion erlitt.
1. Die Klägerin ist aktivlegitimiert. Zwar ist sie nicht selbst Versicherungsnehmerin, sondern in dem von ihrem Vater
geschlossenen Vertrag nur versicherte Person. Nach § 179 Abs. 2 VVG finden in diesem Fall die Vorschriften der §§
75 - 79 VVG entsprechende Anwendung. Gem. § 75 Abs. 2 VVG kann der Versicherte über seine Rechte mit
Zustimmung des Versicherungsnehmers verfügen. Das ergibt sich hier schon daraus, dass im Zeitpunkt der
Erhebung der Klage die Klägerin noch nicht volljährig war und deshalb von ihren Eltern vertreten wurde. Dieser
Umstand kann, nachdem die Klägerin nunmehr volljährig geworden ist, als Zustimmung angesehen werden.
2. Der Klägerin steht jedoch kein Anspruch auf Invaliditätsleistungen zu, weil es an der nach Abschnitt E I Ziff. 1 der
vereinbarten AUBKomfort (insoweit identisch mit § 7 I Ziff. 1 AUB 94) erforderlichen Invalidität in Form der
dauernden Beeinträchtigung der körperlichen oder geistigen Leistungsfähigkeit fehlt. Keine Anwendung findet
zunächst die Gliedertaxe nach Abschnitt E I Ziff. 3 AUBKomfort, da dort der Verlust einer Niere nicht aufgeführt ist.
Nur für die dort genannten Glieder und Organe ist ein fester Invaliditätsgrad vereinbart, bei dem weder eine höhere
noch eine geringere Invalidität in Betracht kommen. Werden durch den Unfall dagegen Körperteile oder Sinnesorgane
betroffen, deren Verlust oder Funktionsfähigkeit in der Gliedertaxe nicht geregelt sind, erfolgt die Bemessung des
Invaliditätsgrades nach medizinischen Gesichtspunkten (Abschnitt E II Ziff. 3 AUBKomfort). Maßgebend ist also,
inwieweit die normale körperliche oder geistige Leistungsfähigkeit insgesamt unter ausschließlicher Berücksichtigung
medizinischer Gesichtspunkte beeinträchtigt ist. Maßstab ist die Leistungsfähigkeit eines Unversehrten gleichen
Alters und Geschlechts (Grimm, AUB, 4. Aufl., AUB 99 2 Rdnr. 36. Prölss/Martin, VVG, 27. Aufl., § 7 AUB 94 Rdnr.
3). Unberücksichtigt bleiben alle Umstände, die über das Medizinische hinausgehen, wie Beruf, Beschäftigung,
Arbeitsmarktsituation, sonstige Tätigkeiten des Versicherten etc. (Grimm, a. a. O., Rdnr. 37. Prölss/Martin, a. a. O.,
Rdnr. 29).
a) Hierzu hat der Sachverständige Prof. Dr. H. in seinem Gutachten vom 15. November 2006 ausgeführt, aus
medizinischer Sicht sei eine dauernde Beeinträchtigung der körperlichen Leistungsfähigkeit zu verneinen. Zwar sei
die Funktion der rechten Niere deutlich eingeschränkt, da ihr Gesamtanteil an der Nierenfunktion nur noch bei 14 %
liege. Auch sei eine Wiederherstellung der rechten Niere nicht zu erwarten, da von einem Progress der
Funktionsverschlechterung ausgegangen werden müsse. Es erscheine auch möglich, dass sich dieser Prozess
fortsetze und es zu einem vollständigen Funktionsverlust der rechten Niere komme. Es sei aber auch möglich, dass
sich die Funktion der rechten Niere auf dem gegenwärtigen Niveau stabilisiere. Es fehle jedoch gleichwohl an einer
Invalidität, weil die linke Niere den Funktionsverlust der rechten Niere kompensiere. Bei der Klägerin liege eine
normale Gesamtnierenfunktion vor. Der Gutachter hat weiter unter Hinweis auf mehrere Langzeitstudien ausgeführt,
es gebe keine Hinweise, dass der Verlust einer Niere bzw. der traumatisch bedingte Funktionsverlust einer Niere die
Mortalität bzw. Morbidität im Vergleich zur altersentsprechenden Normalbevölkerung erhöhten. Auch die
Lebenserwartung sei durch den Verlust einer Niere bzw. bei Spendern von einer Niere nicht beeinträchtigt.
Auf der Grundlage dieser medizinischen Feststellungen des Sachverständigen, die von der Klägerin auch nicht mit
Substanz angegriffen werden, kann von einer Beeinträchtigung der körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit
mithin nicht ausgegangen werden. Zwar hat die Klägerin (weitgehend) eine von zwei Nieren verloren. Das wirkt sich
indessen insgesamt nicht auf ihre Leistungsfähigkeit aus, so dass es mangels Vereinbarung eines festen Satzes in
einer Gliedertaxe gerade am Eintritt der Invalidität fehlt. Soweit zum Teil die Auffassung vertreten wird, beim Verlust
von paarigen Organen komme etwa bei einer Niere bei verbleibender gesunder Niere in der Praxis eine Bewertung
mit 20 % in Betracht (vgl. Grimm, a. a. O., Rdnr. 36), kann dem in dieser Allgemeinheit nicht gefolgt werden. Ist
gerade kein fester Satz für den Verlust einer Niere in einer Gliedertaxe vereinbart, ist alleine maßgeblich, ob und
inwieweit die Gesamtfunktion des Körpers nach medizinischen Gesichtspunkten beeinträchtigt ist. Ist das wegen
einer vollständigen Kompensation durch die andere Niere nach dem Ergebnis der Beurteilung durch einen
Sachverständigen nicht der Fall, kann auch kein Invaliditätsgrad festgesetzt werden.
Das Risiko, dass es zukünftig zu einem vollständigen Ausfall der rechten Niere kommt, und auch die Gefahr einer
Beeinträchtigung der Leistung der linken Niere besteht, vermag ebenfalls keine abweichende Beurteilung zu
rechtfertigen. Hinreichende Anhaltspunkte hierfür gibt es nach dem Gutachten des Sachverständigen gerade nicht.
Maßgebend ist aber alleine der zu erwartende Zustand nach Ablauf von 3 Jahren nach dem Unfall (vgl. Abschnitt E
II AUBKomfort am Ende). Diese Frist war aber im Zeitpunkt der Erstellung des Gutachtens am 15. November 2006
nach dem Unfall vom 26. Mai 2003 bereits abgelaufen.
b) Insoweit können auch nicht Wertungen aus anderen Versicherungszweigen auf die private Unfallversicherung
übertragen werden. Für die Auslegung des Begriffs der Invalidität kommt es alleine auf die vereinbarten
Unfallversicherungsbedingungen, nicht dagegen auf Vorschriften der Sozialversicherung, des Versorgungsrechts
oder des Schwerbehindertenrechts an (OLG Celle VersR 1959, 784). Die Begriffe Erwerbsunfähigkeit und
Berufsunfähigkeit aus diesen Rechtsgebieten sind vom Invaliditätsbegriff der Allgemeinen Unfallversicherung
verschieden. Ebenso wenig wie im Bereich der privaten Berufsunfähigkeitsversicherung auf die Minderung der
Erwerbsfähigkeit oder den Grad der Behinderung im öffentlichrechtlichen Sozialrecht abgestellt werden kann (vgl.
BGH VersR 1996, 959, 960. OLG Koblenz VersR 2000, 1224, 1226. OLG Hamm VersR 1997, 217. KG VersR 1995,
1473), ist das im Bereich der privaten Unfallversicherung möglich. Es spielt daher von vornherein keine Rolle, ob im
Bereich des sozialen Entschädigungsrechtes und nach dem Schwerbehindertenrecht durch die von der Klägerin
vorgelegten „Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem
Schwerbehindertenrecht“ der Ausfall einer Niere mit einer MdE oder einem GdB von 25 % bei Gesundheit der
anderen Niere festgesetzt wird. Wenn hier in Ausfüllung der Regelungen der §§ 69 SGB IX und 30 BVG bestimmte
Prozentsätze ähnlich einer Gliedertaxe zugrunde gelegt werden, betrifft das nur diese öffentlichrechtlichen
Leistungen, hat aber auf die private Unfallversicherung keine Auswirkung.
Schon gar nicht enthalten die ohnehin nur als Anhaltspunkte bezeichneten Richtlinien eine Legaldefinition der
Behinderung, die auch für die private Unfallversicherung maßgebend wäre. Der Begriff der Behinderung wird hier gar
nicht benutzt, sondern es kommt auf den eigenständigen Begriff der Invalidität als dauernde Beeinträchtigung der
körperlichen oder geistigen Leistungsfähigkeit an. Hinzu kommt, dass im sozialen Entschädigungsrecht auch anders
als in der privaten Unfallversicherung nicht auf ausschließlich medizinische Gesichtspunkte für die allgemeine
Leistungsfähigkeit abzustellen ist. Vielmehr kommt es etwa nach § 30 Abs. 1 S. 2 BVG, auf den auch § 69 SGB IX
verweist, darauf an, um wie viel die Befähigung zur üblichen, auf Erwerb gerichteten Arbeit und deren Ausnutzung im
wirtschaftlichen Leben durch die als Folgen einer Schädigung anerkannten Gesundheitsstörung beeinträchtigt sind.
Das sind indessen Umstände, die für die private Unfallversicherung keine Rolle spielen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit richtet
sich nach § 708 Nr. 10, § 713 ZPO. Die Revision wird nicht zugelassen, weil die Voraussetzungen des § 543 Abs. 2
ZPO nicht vorliegen.
...