Urteil des OLG Brandenburg vom 21.07.2003

OLG Brandenburg: wesentliche veränderung, beweislast, obliegenheit, report, leistungsfähigkeit, arbeitsamt, form, arbeitsbedingungen, nebentätigkeit, arbeitsstelle

1
2
3
4
5
Gericht:
Brandenburgisches
Oberlandesgericht 1.
Senat für
Familiensachen
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
9 WF 371/06
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Norm:
§ 1603 Abs 2 BGB
Unterhalt minderjähriger Kinder: Notwendiger Umfang der
Erwerbsbemühungen eines arbeitslosen Unterhaltspflichtigen
und Darlegungs- und Beweislast für fehlende reale
Beschäftigungschancen
Tenor
Auf die sofortige Beschwerde wird die angefochtene Entscheidung teilweise abgeändert
und dem Kläger ratenfreie Prozesskostenhilfe bewilligt, soweit er Abänderung des Urteils
des Amtsgerichts Oranienburg vom 21. Juli 2003 (33 F 140/02) insoweit begehrt, als er
ab Rechtshängigkeit der Klage nur noch einen monatlichen Unterhalt in Höhe von 56,90
% des Regelbedarfs der jeweiligen Altersstufe gemäß § 2 Regelbetragsverordnung,
vermindert um das nach § 1612 b Abs. 5 BGB anzurechnende Kindergeld, zu zahlen hat.
Ihm wird Rechtsanwalt … in S. zu den Bedingungen eines in O. ansässigen Rechtsanwalts
bewilligt.
Im Übrigen wird die sofortige Beschwerde zurückgewiesen.
Die Gerichtsgebühr für das Beschwerdeverfahren wird auf die Hälfte ermäßigt.
Außergerichtliche Auslagen werden nicht erstattet.
Gründe
Die sofortige Beschwerde des Klägers vom 6. November 2006 gegen den Beschluss des
Amtsgerichts Oranienburg vom 16. Oktober 2006 ist zulässig. Sie ist insbesondere
innerhalb der Notfrist von einem Monat gemäß §§ 569 Abs. 1 Satz 1, 127 Abs. 2 Satz 3
ZPO eingelegt und begründet worden.
Die sofortige Beschwerde hat in der Sache teilweisen Erfolg.
Gemäß § 114 ZPO ist Prozesskostenhilfe zu bewilligen, wenn die antragstellende Partei
nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der
Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann und die
beabsichtigte Rechtsverfolgung bzw. -verteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg
bietet sowie nicht mutwillig erscheint. Eine solche hinreichende Erfolgsaussicht ist nur
dann gegeben, wenn das Gericht den Rechtsstandpunkt des Antragstellers aufgrund
seiner Sachdarstellung und der vorhandenen Unterlagen für insoweit zutreffend oder es
zumindest für vertretbar hält, dass der Antragsteller mit seinem Begehren durchdringt
und dieses nicht aussichtslos erscheint. Es muss aufgrund summarischer Prüfung der
Sach- und Rechtslage eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür bestehen, dass die
Rechtsverfolgung bzw. -verteidigung zum Erfolg führen kann (vgl. nur Zöller/ Philippi,
ZPO, 26. Aufl., § 114 Rn. 19 m.w.N.).
Die Unterhaltsverpflichtung des Klägers gegenüber dem minderjährigen Beklagten ergibt
sich aus den §§ 1601 ff BGB. Diese Unterhaltsverpflichtung entfällt nur, soweit der
Unterhaltspflichtige unter Berücksichtigung seiner sonstigen Verpflichtung außer Stande
ist, ohne Gefährdung seines angemessenen Unterhalts den Unterhalt zu gewähren (§
1603 Abs. 1 BGB).
6
7
8
9
10
11
Die für einen Unterhaltsanspruch vorausgesetzte Leistungsfähigkeit des
Unterhaltsverpflichteten wird nicht allein durch das tatsächlich vorhandene Einkommen
des Unterhaltsschuldners, sondern vielmehr auch durch seine Erwerbsfähigkeit
bestimmt. Reichen seine tatsächlichen Einkünfte nicht aus, so trifft ihn
unterhaltsrechtlich die Obliegenheit, seine Arbeitsfähigkeit in bestmöglicher Weise
einzusetzen und eine mögliche Erwerbstätigkeit auszuüben (BGH FamRZ 1985, 158,
159; 1994, 372, 373; 1998, 357, 359).
Gegenüber minderjährigen Kindern erfährt diese Verpflichtung aufgrund der Vorschrift
des § 1603 Abs. 2 BGB eine Verschärfung dahin, dass den Unterhaltspflichtigen eine
noch erheblich gesteigerte Verpflichtung zur Ausnutzung seiner Arbeitskraft trifft (BVerfG
FamRZ 2005, 1893; BGH FamRZ 2005, 608). Dies folgt aus der die Eltern treffenden
rechtlichen und sittlichen Pflicht, ihre Kinder am Leben zu erhalten; diese Pflicht findet
ihre Grenze allein in der Unmöglichkeit (RG JW 1903, 29, zitiert bei OLG Dresden OLG-
Report 2005, 496). Für seine den Mindestunterhalt im Sinne eines Existenzminimums
betreffende Leistungsunfähigkeit ist der Verpflichtete in vollem Umfange darlegungs-
und beweisbelastet (BGH FamRZ 1996, 345, 346). Legt der Unterhaltsverpflichtete nicht
dar, dieser Obliegenheit vollständig gerecht geworden zu sein, so muss er sich so
behandeln lassen, als ob er über ein solch hohes Einkommen verfügt, welches ihm die
Zahlung des Mindestunterhaltes ermöglicht (st. Rspr. des Senats, Brandenburgisches
OLG FamRZ 2006, 1297; NJW-RR 2005, 949; FuR 2004, 38, 40; NJWE-FER 2001, 70 ff.; s.
auch JAmt 2004, 502; FamRB 2004, 216, 217).
Ein gemäß § 1603 Abs. 2 BGB verschärft haftender Unterhaltspflichtiger hat sich
intensiv, d.h. unter Anspannung aller Kräfte und Ausnutzung aller vorhandenen
Möglichkeiten um die Erlangung eines hinreichend entlohnten Arbeitsplatzes zu
bemühen. Er muss alle verfügbaren Mittel für den Unterhalt des Kindes verwenden, alle
Erwerbsmöglichkeiten ausschöpfen und auch einschneidende Veränderungen in seiner
eigenen Lebensgestaltung in Kauf nehmen, um ein die Zahlung des Mindestunterhaltes
sicherstellendes Einkommen zu erzielen. Bei eigener Arbeitslosigkeit hat sich der
Pflichtige durch intensive Suche um eine Erwerbsstelle zu bemühen; bei Arbeitsstellen
mit geringeren Einkommen ist entweder eine neue Arbeitsstelle oder eine weitere
Beschäftigung zu suchen, um zusätzliche Mittel zu erlangen, etwa zusätzliche
Gelegenheits- und Aushilfstätigkeiten (OLG Köln NJWE-FER 1999, 84, 85). Dabei kommen
für die Ausübung einer Nebentätigkeit auch Zeiten, die üblicherweise dem
Freizeitbereich zuzuordnen sind, in Betracht (OLG Dresden OLG-Report 2005, 496). Die
beruflichen Dispositionsmöglichkeiten treten dabei weitgehend hinter der
Elternverantwortung zurück (OLG Zweibrücken FamRZ 2000, 29, 30), weshalb sich die
Bemühungen um die (Wieder-) Erlangung einer Arbeit nicht auf den Bereich des
erlernten Berufes oder der zuletzt ausgeübten Tätigkeit beschränken dürfen. Vielmehr
ist dem Unterhaltspflichtigen grundsätzlich anzusinnen, sich jedenfalls nach einiger Zeit
um jede Art von Tätigkeit, auch eine solche unterhalb seines Ausbildungsniveaus, zu
bemühen. Hierzu zählen Arbeiten für ungelernte Kräfte ebenso wie Arbeiten zu
ungünstigen Zeiten oder zu wenig attraktiven Arbeitsbedingungen (OLG Zweibrücken, a.
a. O.).
Bestehen keine die Interessen des unterhaltsbedürftigen Kindes eindeutig
überwiegenden Bindungen an den bisherigen Wohnort, so muss unter Inkaufnahme
eines Wohnortwechsels gegebenenfalls im gesamten Bundesgebiet eine Arbeit
übernommen werden, sofern in einem anderen Teil Deutschlands bessere bzw. höher
dotierte Erwerbsmöglichkeiten bestehen und die Umzugskosten mit Rücksicht auf den
erzielbaren Verdienst tragbar erscheinen. Hiernach sind die Erwerbsbemühungen, sofern
sie im Bereich des näheren Wohnumfeldes keinerlei Erfolg hatten, jedenfalls nach einiger
Zeit auf das großräumige Umfeld, das gesamte Bundesland und schließlich auch auf
Erfolg versprechende Bereiche im übrigen Bundesgebiet zu erstrecken (OLG Köln,
FamRZ 1997, 1105).
Für die Suche nach Arbeit selbst ist die Zeit aufzuwenden, die erforderlich ist, alle der
nach Vorgesagtem in Betracht kommenden Stellen zu erfassen, sich darauf zu
bewerben und Vorstellungsgespräche wahrzunehmen. Dies wird bei Arbeitslosen in aller
Regel dem Zeitaufwand eines vollschichtig Erwerbstätigen entsprechen (OLG Köln NJWE-
FER 1999, 84, 85; FamRZ 1997, 1104, 1105; OLG Hamm, FamRZ 1994, 115),
wohingegen bei Erwerbstätigen geringere Anforderungen zu stellen sind.
Regelmäßige Meldungen beim Arbeitsamt und die Wahrnehmung sämtlicher von dort
angebotenen Vermittlungen sind in diesem Zusammenhang selbstverständlich, indes
für sich allein nicht ausreichend. Vielmehr ist auch bei einfachen Arbeitsplätzen die
regelmäßige und kontinuierliche Auswertung der gesamten einschlägigen örtlichen wie
12
13
14
15
16
17
18
19
regelmäßige und kontinuierliche Auswertung der gesamten einschlägigen örtlichen wie
gegebenenfalls auch überörtlichen Tages- und Wochenpresse erforderlich. Eigene
Annoncen sind ebenso zu erwarten, wie "Blind-Bewerbungen" bei allen in Betracht
kommenden Arbeitgebern. Bewerbungen sind auch bei einfachen Arbeitsplätzen
grundsätzlich in schriftlicher Form abzufassen und so zu gestalten, dass sie geeignet
erscheinen, den Adressaten von der Ernsthaftigkeit der Bewerbung und der Eignung des
Bewerbers zu überzeugen. Bloße telefonische Bewerbungen sind demgegenüber auch
bei einfachen Arbeitsplätzen in aller Regel nicht ausreichend, da bei der heutigen
Arbeitsmarktlage davon ausgegangen werden muss, dass ein gewerblicher Arbeitgeber
nur schriftliche Arbeitsgesuche in die engere Auswahl einbezieht.
Für die ordnungsgemäße Erfüllung sämtlicher der zuvor dargestellten Voraussetzungen
ist der Unterhaltsverpflichtete darlegungs- und beweisbelastet. Dies gilt auch für die
Richtigkeit der Behauptung fehlender realer Beschäftigungschancen (Brandenburgisches
OLG JAmt 2004, 502, 503). Zweifel daran, dass bei angemessenen Bemühungen eine
Beschäftigungschance von vornherein auszuschließen ist, gehen daher zu Lasten des
Unterhaltsverpflichteten.
Um den Anforderungen an die Darlegungs- und Beweislast zu genügen, muss der
Unterhaltsschuldner in nachprüfbarer Weise vortragen, welche Schritte er im Einzelnen
unternommen hat und diese dokumentieren. Nicht ausreichend sind allgemeine
Hinweise auf die schlechte Arbeitsmarktlage oder persönliche Umstände des
Unterhaltspflichtigen, da ein Erfahrungssatz, dass wegen des Vorliegens insoweit
ungünstiger Bedingungen ein Arbeitsplatz nicht gefunden werden kann, nicht existiert
(Brandenburgisches OLG a.a.O.). Vielmehr kann das Bestehen einer Erwerbsmöglichkeit
nur anhand konkreter Erwerbsbemühungen überprüft werden. Nach gefestigter
Rechtsprechung des Senats führt dies dazu, dass der arbeitslose Unterhaltspflichtige
das Absenden von mindestens 20 - 30 ernsthaften Bewerbungen im Monat substanziiert
darzulegen hätte, um seiner gesteigerten Erwerbsverpflichtung nachzukommen.
Dieser Darlegungs- und Beweislast hinsichtlich seiner Leistungsunfähigkeit genügt der
Kläger nicht. Er geht vielmehr selbst davon aus, dass er die ihm obliegende
Erwerbsverpflichtung verletzt hat.
Demzufolge ist dem Kläger daher ein zu erzielendes Einkommen zu fingieren. In
ständiger Rechtsprechung des Senats ist dieses mangels anderweitiger Anhaltspunkte -
wie bereits ausgeführt - in einer Höhe, die die Zahlung des Regelunterhalts ermöglicht,
anzunehmen. Der das bloße Existenzminimum des minderjährigen
Unterhaltsberechtigten abdeckende Regelunterhalt ist jedenfalls dann leistbar, wenn die
Anzahl der Unterhaltsberechtigten nicht von den den Leitlinien der Oberlandesgerichte
zu Grunde liegenden Unterhaltsverpflichtungen gegenüber zwei Kindern abweicht.
In diesem Zusammenhang verkennt der Senat keineswegs, dass Fallkonstellationen
denkbar erscheinen, die die Leistungsfähigkeit der Unterhaltsverpflichteten unter
Berücksichtigung eines notwendigen Selbstbehalts unter die Grenze sinken lassen, die
die Zahlung des Regelunterhalts nicht mehr zulässt. Derartige Ausnahmefälle konkret
darzutun, ist jedoch Aufgabe des Unterhaltsschuldners. Hierzu genügt es nicht, sich
abstrakt darauf zu berufen, welche Löhne oder Gehälter in einzelnen Tätigkeitsbereichen
gezahlt werden. Es bedarf vielmehr des einzelfallbezogenen substanziierten
Vorbringens, dass den betroffenen Schuldner die Erzielung eines höheren Einkommens
unter Berücksichtigung seiner persönlichen Umstände nicht möglich ist. Dies hat der
Kläger, abgesehen von der pauschalen Behauptung, dass er aufgrund seines
Analphabetismus und einer fehlenden Fahrerlaubnis ein ausreichendes Einkommen nicht
erzielen könne, unterlassen. Damit bleibt es aber dabei, ihm ein fiktives Einkommen
zuzurechnen, das jedenfalls die Zahlung des Regelunterhalts für zwei minderjährige
Kinder gestattet, da der Senat davon ausgeht, dass bei ausreichenden Bemühungen um
Arbeit entsprechend den obigen Ausführungen eine solch hinreichend vergütete
Tätigkeiten gefunden werden könnte.
Dies hat zur Folge, dass von einem verteilbaren Einkommen in Höhe von 497 €
auszugehen ist, da dem Kläger ein Einkommen, welches die Zahlung der Regelbeträge
für seine ältesten Kinder (269 € + 228 €) ermöglicht, zu fingieren ist.
Da der Kläger jedoch gegenüber insgesamt vier minderjährigen Kindern
unterhaltsverpflichtet ist, führt dies zu folgender Mangelfallberechnung, wobei unter
Berücksichtigung der Rechtsprechung des BGH (FamRZ 2003, 363) als Einsatzbeträge
135 % des jeweiligen Regelbetrages in Ansatz gebracht worden sind:
254 € x 497 € : 1.180 € = 106,98 €
20
21
22
Dies entspricht einer Quote von 56,90 % (106,98 € x 100 % : 188 €).
Demzufolge hat das Amtsgericht zu Unrecht die Bewilligung von Prozesskostenhilfe
vollständig versagt, sodass auf die sofortige Beschwerde die angefochtene Entscheidung
teilweise abzuändern war.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 127 Abs. 4 ZPO, KV 1811.
Datenschutzerklärung Kontakt Impressum