Urteil des LSG Sachsen vom 29.03.2001

LSG Fss: treu und glauben, vergleich, wiederaufnahme des verfahrens, klagerücknahme, arglistige täuschung, öffentlich, beendigung, widerruf, vorschlag, erwerbsfähigkeit

Sächsisches Landessozialgericht
Urteil vom 29.03.2001 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Chemnitz S 14 KN 99/00
Sächsisches Landessozialgericht L 6 KN 34/00
I. Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Chemnitz vom 19. September 2000 wird
mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass die Beendigung des Rechtsstreits S 10 KN 355/98 durch Klagerücknahme
festgestellt wird. II. Die Beteiligten haben einander auch für das Berufungsverfahren keine außergerichtlichen Kosten
zu erstatten. III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist, ob das Verfahren vor dem Sozialgericht Chemnitz (SG) mit dem Aktenzeichen S 10 KN 355/98 beendet ist
oder fortgeführt werden muss.
Jenes Verfahren hatte mit der Klageschrift des Klägers vom 31.07.1998 begonnen, mit welcher er Klage gegen den
Bescheid der Bundesknappschaft vom 05.03.1998 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23.06.1998
erhoben hatte. Gegenstand dieser Bescheide war die Ablehnung von Rentenleistungen wegen verminderter
Erwerbsfähigkeit gewesen. Die Beklagte hatte die Auffassung vertreten, der Kläger sei weder erwerbsunfähig noch
berufsunfähig, auch liege keine verminderte Berufsfähigkeit im Bergbau vor. Im Verfahren vor dem SG (Az.: S 10 KN
355/98) wurde auf den Antrag des Klägers (§ 109 SGG) der Facharzt für Orthopädie Dipl.-Med. S ... M ... gutachterlich
gehört. Der Gutachter kam nach Untersuchung des Klägers zu dem Ergebnis, dass dieser noch in der Lage sei,
leichte körperliche Tätigkeiten im Wechsel von Gehen und Sitzen auszuüben. Dabei müssten überwiegende
Schreibtischtätigkeiten, Überkopfarbeiten, Arbeiten auf Leitern und Gerüsten sowie Arbeiten in Zwangshaltungen
vermieden werden. Der Einsatz in Kälte und Nässe sei nicht möglich, das Heben und Tragen von Lasten über 10 kg
sei zu vermeiden. Ein Einsatz als Lehrer bzw. Ingenieur für Umschulungen sei nicht mehr möglich. Die Beklagte
vertrat daraufhin die Auffassung, es solle zunächst einmal vor einer abschließenden Beurteilung der
Leistungsfähigkeit des Klägers im Erwerbsleben ein Heilverfahren eingeleitet werden.
Im Termin zur mündlichen Verhandlung schlossen daraufhin die Beteiligten auf Vorschlag des Vorsitzenden folgenden
Vergleich:
I. Der Kläger nimmt den Vorschlag einer Reha-Maßnahme in Warmbad vom 29.03. bis 19.04.2000 an, um das objektiv
vorliegende Leistungsvermögen feststellen zu lassen. II. Die Beklagte verpflichtet sich, die Heilmaßnahme
durchzuführen. III. Der Kläger nimmt die vorliegende Klage zurück und wird ggf. nach Abschluss der Heilmaßnahme
erneuten Rentenantrag stellen. IV. Die Beteiligten sind sich darüber einig, dass damit der Rechtsstreit insgesamt
erledigt ist. V. Der Kläger verzichtet auf die Erstattung der ihm entstandenen notwendigen Auslagen.
Ausweislich der Sitzungsniederschrift wurde der Vergleich den Beteiligten vorgelesen und von ihnen genehmigt.
Mit Schreiben vom 06.03.2000 erklärte der Kläger den "Teilwiderruf" des Vergleichs vom 15.02.2000 und stellte klar,
dass er hinsichtlich der Punkte I., II. und V. nach wie vor dem Vergleich "vollinhaltlich" zustimme; durch die
Zurücknahme der Klage entstünden ihm aber bei einer eventuellen positiven Entscheidung eines neuen
Rentenantrages erhebliche Nachteile durch Abschläge. Über diese Konsequenzen sei er weder informiert noch belehrt
worden. Die Klage werde daher nicht zurückgenommen, der Rechtsstreit bleibe anhängig und sei nicht erledigt. Mit
Schreiben vom 24.07.2000 wies das SG den Kläger darauf hin, dass der Vergleich vom 15.02.2000 keine
Widerrufsklausel enthalte und dass das Gericht beabsichtige, im Wege des Gerichtsbescheides nach § 105
Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung und ohne Hinzuziehung ehrenamtlicher Richter zu
entscheiden.
Der Kläger gab darauf zu bedenken, dass in der mündlichen Verhandlung die Möglichkeit eines Widerrufes nicht
erörtert worden sei, er sei diesbezüglich nicht belehrt worden. Er sei in der mündlichen Verhandlung am 15.02.2000
"zumindest indirekt nötigend dahingehend beeinflusst" worden, dem Vergleich zuzustimmen, indem ihm in Aussicht
gestellt worden sei, dass bei einer erneuten Antragstellung dieser Antrag dann sehr schnell entschieden würde. Der
Vergleich könne eigentlich auch nicht als Vergleich angesehen werden, denn nur der Klägerseite seien
Zugeständnisse abverlangt worden.
Das SG hat sodann mit Gerichtsbescheid vom 19.09.2000 festgestellt, dass der Rechtsstreit S 10 KN 355/98 durch
Vergleich beendet worden sei. Der am 15.02.2000 abgeschlossene Vergleich sei wirksam. Ein Widerruf sei ohne
Widerrufsklausel ausgeschlossen. Prozessrechtliche Gründe für eine Unwirksamkeit des Gerichtsvergleiches seien
nicht ersichtlich. Auch sei eine Belehrung über die Möglichkeit eines widerruflichen Vergleichs nicht nötig. In
materieller Hinsicht sei der Vergleich auch wirksam; insbesondere liege durchaus ein gegenseitiges Nachgeben vor,
schließlich habe die Beklagte sich verpflichtet, eine Rehabilitationsmaßnahme zu gewähren. Ein Anfechtungsgrund
gemäß § 119 Abs. 1 oder § 123 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) sei nicht gegeben. Wenn der Kläger im Moment des
Vergleichsabschlusses rentenrechtliche Nachteile nicht überblickt habe, so liege darin ein unbeachtlicher
Rechtsfolgeirrtum, der nicht zur Anfechtung berechtige. Für eine arglistige Täuschung seitens der Beklagten oder des
Gerichts gebe es keine Anhaltspunkte. Schließlich könne das durch den Vergleich rechtskräftig beendete Verfahren
auch nicht entsprechend den Bestimmungen des Vierten Buches der Zivilprozessordnung (ZPO) wieder aufgenommen
werden, denn Wiederaufnahmegründe seien nicht ersichtlich.
Der Gerichtsbescheid wurde dem Kläger am 05.10.2000 mit Einschreiben übersandt. Seine Berufung ging am
06.11.2000 beim SG und am 08.11.2000 am LSG Chemnitz ein. Der Kläger rügt, dass ihm auf Grund seines
Teilwiderrufes vom 06.03.2000 zunächst mitgeteilt worden sei, dass das Verfahren fortgeführt werde. Es erscheine
widersprüchlich, wenn dann am Ende doch ein Gerichtsbescheid ergehe, in welchem das Gegenteil festgestellt wird.
Die Bezeichnung "Vergleich" stimme auch dann nicht, wenn man berücksichtige, dass die Beklagte ein Heilverfahren
zugesagt und gewährt habe. Im Verfahren sei dies ohnehin ihr Standpunkt gewesen, von einem Nachgeben könne
also nicht die Rede sein. Er selbst habe angenommen, dass nach dem durchgeführten Heilverfahren automatisch eine
Entscheidung über die verminderte Erwerbsfähigkeit durch die Beklagte getroffen werde und eine erneute
Rentenantragstellung nur bei einer negativen Entscheidung erforderlich gewesen sei. Im Übrigen habe er über die
Möglichkeit, auch einen widerruflichen Vergleich abzuschließen, belehrt werden müssen; ohnehin sei der Vorsitzende
einseitig zu Gunsten der Beklagten eingestellt gewesen.
Er beantragt,
1. den Vorsitzenden der Verhandlung vom 15.02.2000, Richter am SG Gieser, für befangen zu erklären. 2. den in der
Verhandlung am 15.02.2000 geschlossenen Vergleich für unwirksam zu erklären. 3. den Rechtsstreit mit dem
Aktenzeichen S 10 KN 355/98 als nicht beendet zu erklären.
Entscheidungsgründe:
I. Das Ablehnungsgesuch gegen Richter am SG Gieser ist bereits unzulässig, da dieser Richter wegen
Kammerwechsels mit der Sache schon vor Erlass einer Entscheidung nicht mehr befasst war (vgl. BFH BStBl 80 II
335, NJW 96, 215; BayLSG Breith 78, 700)
II. Die zulässige Berufung ist nicht begründet.
Im Ergebnis zu Recht hat das SG festgestellt, dass der Rechtsstreit S 10 KN 355/98 beendet ist; allerdings wurde
dieser Rechtsstreit nicht durch Vergleich, sondern durch Klagerücknahme beendet.
Gemäß § 101 Abs. 1 SGG können die Beteiligten zur Niederschrift des Gerichts einen Vergleich schließen, um den
geltend gemachten Anspruch vollständig oder zum Teil zu erledigen, soweit sie über den Gegenstand der Klage
verfügen können. Gemäß § 102 SGG kann der Kläger die Klage bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung
zurücknehmen. Die Klagerücknahme erledigt den Rechtsstreit in der Hauptsache. Auf Antrag ist diese Wirkung durch
Beschluss auszusprechen und, soweit Kosten entstanden sind, über diese zu entscheiden. Im Rahmen des
Sozialgerichtsprozesses ist es üblich, auch die einseitige Erklärung des Klägers, der Rechtsstreit sei in der
Hauptsache erledigt, als Klagerücknahme aufzufassen (vgl. ML, § 102 Anm. 3, LSG Bremen SGb 83, 557).
Die am 15.02.2000 niedergelegten Erklärungen beinhalten sowohl eine Klagerücknahme als auch eine -
übereinstimmende - Erledigterklärung der Beteiligten im Rahmen eines Vergleiches. In diesem Fall ist das Problem
der Konkurrenz der Erledigungsarten dahingehend zu lösen, dass die Prozesshandlung der Klagerücknahme auch
dann Prozesshandlung bleibt, wenn sie im Rahmen eines Vergleiches erklärt wird. Es kann hier nichts anderes gelten,
als wenn die Verpflichtung zur Klagerücknahme im Rahmen eines außergerichtlichen Vergleichs erklärt worden war.
Die Doppelnatur (vgl. hierzu Wannagat NJW 1961 S. 1191, Haueisen NJW 1963, 1329, BSG SozR SGG § 101 Da 4
Nr. 4), die dem Prozessvergleich im Gegensatz zum außergerichtlichen Vergleich zukommt, entzieht nicht der
Prozesserklärung Klagerücknahme ihre Grundlage; mit anderen Worten, der Umstand, dass dem Vergleich neben
seinem Charakter als öffentlich-rechtlicher Vertrag gemäß § 54 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) auch noch
eine verfahrensbeendende Wirkung zukommt, heißt nicht, dass diese verfahrensbeendende Wirkung eine explizite
Verfahrensbeendigung relativieren kann. § 101 Abs. 1 SGG spricht eigentlich nur aus, dass ein Vergleich auch im
Sozialgerichtsprozess möglich ist. Allerdings ist seine prozessrechtliche Wirkung in dem Sinne der unmittelbaren
Beendigung des Rechtsstreits unumstritten (vgl. ML § 101 Rn. 10, PSW Anm. 1 c). Zusätzliche Voraussetzung ist
freilich, dass der gesamte Streitstoff erfasst wird (vgl. ML a.a.O.). Diese Frage ist durchaus nicht immer leicht zu
beantworten. Entgegen Hofmann/Schroeder (SGG Kommentar 2. Aufl. 1957 § 101 Anm. 1) kann es daher sehr wohl
zweckmäßig sein, auch noch einmal explizit festzulegen, dass die Beteiligten den Rechtsstreit für erledigt erklären
bzw. dass der Kläger die Klage zurücknimmt. Die Ungewissheit, ob dem Vergleich tatsächlich verfahrenserledigende
Wirkung beikommt, oder ob er nur - eventuell ohne dass es den Beteiligten und dem Gericht aufgefallen wäre - ein
Teilvergleich ist und das Verfahren im Übrigen anhängig bleibt, kann mit einer solchen klarstellenden Klausel
zweckmäßigerweise beseitigt werden. In diesem Fall steht dann die Erledigung nicht unter dem Vorbehalt, dass auch
tatsächlich der gesamte Streitstoff erfasst wurde.
Es besteht kein Grund, der Klagerücknahmeerklärung, die aus einem gerichtlichen Vergleich folgt, eine geringere
Unbedingtheit zuzusprechen, als einer Klagerücknahmeerklärung, zu der sich der Kläger in einem außergerichtlichen
Vergleich verpflichtet hatte. Sollte der außergerichtliche Vergleich anfechtbar sein, kann die Klagerücknahmeerklärung
als solche jedenfalls nicht kondiziert werden. Entsprechendes gilt, wenn eine Möglichkeit zum Rücktritt bestand, der
Kläger aber gleichwohl "leichtfertig" bereits vor endgültiger Klarheit über den Rücktrittsgrund die unbedingte
Klagerücknahme erklärt hatte. Ein "Durchschlagen" der Mängel des öffentlich-rechtlichen Vergleichsvertrages auf die
Prozesserklärung ist dann ebenso wenig gegeben wie im umgekehrten Falle. Allenfalls kann es - wie auch bei der
abredewidrig unterbliebenen Klagerücknahmeerklärung (vgl. dazu LAG Hamm, Entscheidung vom 18.12.1996, 2 Sa
340/96) - gegen Treu und Glauben verstoßen, die vertragswidrig erlangten Positionen im Rechtsverkehr zu
gebrauchen. Wer sich - außergerichtlich - verpflichtet hat, die Klage zurückzunehmen, verstößt mit dem
Weiterprozessieren gegen Treu und Glauben. Ebenso dürfte es gegen Treu und Glauben verstoßen, wenn ein
Versicherungsträger sich auf die Bestandskraft eines Verwaltungsaktes beruft, die ihrerseits nur auf eine abredewidrig
abgegebene Klagerücknahmeerklärung zurückgeht. Entsprechendes dürfte gelten, wenn die Klagerücknahmeerklärung
Bestandteil eines öffentlich-rechtlichen Vertrages war, der wirksam angefochten wurde.
Die Klagerücknahmeerklärung als solche kann allerdings grundsätzlich nicht widerrufen oder angefochten werden, eine
entsprechende Anwendung der §§ 119 ff. BGB ist ausgeschlossen (vgl. BSG, Beschluss vom 12.08.1961 - 3 RK
13/59 - SozR Nr. 6 zu § 102 SGG).
Im Ergebnis zu Recht hat das SG auch die Voraussetzungen der §§ 579 f. ZPO verneint. Zwar findet eine
entprechende Anwendung der Vorschriften über die Wiederaufnahme eines "durch rechtskräftiges Endurteil
abgeschlossenen Verfahrens" (§ 578 ZPO) auf durch Vergleich oder angenommenes Anerkenntnis beendetes
Verfahren nach herrschender Meinung keine Anwendung (vgl. BSG NJW 1968, 2396; BVerwG 28, 332). Allerdings
wurde das Verfahren S 10 KN 355/98 wie dargelegt durch Rücknahmeerklärung abgeschlossen und ein
ausnahmsweiser Widerruf der Rücknahmeerklärung ist dann möglich, wenn die Voraussetzungen für eine
Wiederaufnahme des Verfahrens erfüllt sind (vgl. BVerwG Bucholz 310 § 92 VwGO Nr. 3; BGHZ 33, 73, 75; BSG,
Urteil vom 14.06.1978 - 9/10 RV 31/77 - SozR 1500 § 102 Nr. 2). Dabei mögen Zweifel bestehen, ob eine
entsprechende Anwendung des § 579 Abs. 1 ZPO Ziff. 1 bis 3 Sinn macht, geht es hier doch um die
vorschriftsmäßige Besetzung des Gerichts, ein Rechtsgut, dem dann eine untergeordnete Bedeutung zukommen
dürfte, wenn das Gericht lediglich als Protokollierungsinstanz tätig geworden ist. Jedenfalls gibt es für entsprechende
Tatbestände in den Akten keine Anhaltspunkte. Auch der - denkbar anwendbare (vgl. BSG SozR 1500 § 102 Nr. 2) -
Fall des § 579 Abs. 1 Ziff. 4 (Mangel in der Vertretung eines Beteiligten) ist nicht gegeben. Die vom Kläger behauptete
Befangenheit des Vorsitzenden kann in diesem Zusammenhang keine Rolle spielen, da ein Ablehnungsgesuch nicht
mit Erfolg geltend gemacht wurde. Tatbestände des § 580 ZPO sind weder ersichtlich noch vorgetragen.
Da - wie dargelegt - auch eine synallagmatische Verknüpfung der einzelnen Ziffern des Vergleichs die
Prozesserklärung der Klagerücknahme, die sich - doppelt - aus den Ziffern III und IV ergibt, nicht kondizierbar macht,
erübrigt sich die Prüfung, inwiefern der Vergleich wirksam angefochten wurde. Die im Rahmen des Streitgegenstandes
allein relevante Frage der Prozessbeendigung beantwortet sich bereits durch die unbedingt erklärte Klagerücknahme;
die daneben noch mögliche - gesetzliche - Beendigung durch einen den gesamten Streitstoff erfassenden Vergleich
tritt dahinter zurück.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG, Gründe für die Zulassung der Revision sind nicht ersichtlich.