Urteil des LSG Sachsen vom 16.10.2003

LSG Fss: ddr, berufskrankheit, medizinisches gutachten, kausalität, verordnung, anerkennung, gdk, entschädigung, belastung, arbeitsmedizin

Sächsisches Landessozialgericht
Urteil vom 16.10.2003 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Chemnitz S 7 KN 173/99 U
Sächsisches Landessozialgericht L 6 KN 16/03 U
I. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Chemnitz vom 27.01.2003 wird zurückgewiesen. II.
Die Beteiligten haben einander auch für das Berufungsverfahren keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten. III. Die
Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist die Anerkennung einer Lendenwirbelsäulenerkrankung als Berufskrankheit.
Der am ...1957 geborene Kläger wurde nach dem Besuch der POS zum Betonbauer (Spezialisierung Bautischler)
ausgebildet und begann anschließend eine Tätigkeit als Dammbauer bei der SDAG W ... im untertägigen Bereich.
Nach dem Grundwehrdienst bei der NVA von 1976 bis 1978 qualifizierte er sich weiter zum Facharbeiter für
Bergbautechnologie. Die Qualifikation zum Meister erfolgte im Oktober 1983. Von 1983 bis 1986 arbeitete er als
Vorarbeiter und von 1986 bis 1989 als Hauer im Abbau von Uranerz. Im Jahr 1989 verließ er den Bergbau aus
Rationalisierungsgründen und übernahm eine Tätigkeit im Sanierungsbetrieb Ronneburg. Diese Tätigkeit endete am
31.12.1992, zum 05.04.1993 übernahm der Kläger eine Tätigkeit als Werkspolier bei der Firma B ... Er war dort
zunächst zur Vorbereitung als Werkspolier in der Niederlassung M ... beim U-Bahn-Bau der Linie 8 in M .../Nord
eingesetzt. Während der sechsmonatigen Probezeit war er Belastungen beim Transport von Ankerbefestigungen für
Spundwände ausgesetzt. Hierbei kam es auch zu Tragebelastungen über 25 kg. Nach der Probezeit in M ... begann er
bei der Niederlassung der Firma in C ... als Polier. Er war hier auf den Baustellen N ..., Sportforum C ... und
Kornmarkt Z ... eingesetzt. Es handelte sich dabei um reine Leitungs- und Vermessungsarbeiten ohne schweres
Heben und Tragen. Die Tätigkeit endete wegen einer akuten Wurzelreizsymptomatik am 11.08.1995. Zehn Tage
später wurde der Kläger im Kreiskrankenhaus " ..." in M ... operiert (Laminektomie L5/S1). Bei der Operation wurde ein
"uralter Bandscheibensequester, vernarbt mit der Wurzel L5 und dem Durasack" entfernt. Nach Auskunft der
Bauberufsgenossenschaft konnte für diese Symptomatik die Tätigkeit ab 1993 nicht verantwortlich gemacht werden,
denn - so der Technische Aufsichtsdienst dieser Berufsgenossenschaft - der Kläger sei durchgängig "unterhalb der
Kriterien der BK 2108 und 2109 belastend tätig" gewesen.
Eine Exposition hatte allerdings während der Untertagetätigkeit im Bergbaubetrieb S ... bestanden, der Technische
Aufsichtsdienst der Beklagten errechnete 13,5 Jahre belastender Tätigkeit. An Lendenwirbelsäulenbeschwerden hatte
der Kläger auch schon während jener Tätigkeit gelitten, es war eine präsakrale Instabilität bescheinigt worden,
allerdings hatten die Beschwerden nie ein Ausmaß erreicht, welches die Einleitung eines Berufskrankheiten-
Verfahrens nahe gelegt hätte. Jedenfalls wurde ein solches von der IG W ... nicht eingeleitet.
Am 26.03.1997 zeigte der Orthopäde Dr. E1 ... einen Zustand nach lumbaler Bandscheiben-OP 1995 mit
rezidivierendem lumbalen Wurzelreizsyndrom rechts als Berufskrankheit bei der Bauberufsgenossenschaft Bayern
und Sachsen an. Nachdem der Technische Aufsichtsdienst der Beklagten das Ende der wirbelsäulenbelastenden
Tätigkeit mit dem 15.07.1990 (Ende der Untertagetätigkeit) angenommen hatte, bejahte die Beklagte ihre
Zuständigkeit und lehnte nach beratungsärztlicher Stellungnahme vom 23.03.1998 mit Bescheid vom 03.06.1998 die
Anerkennung der Wirbelsäulen- erkrankung als Berufskrankheit ab. Anwendbar sei im Falle des Klägers die
Berufskrankheitenverordnung der DDR. Hiernach sei es erforderlich, dass mindestens zehn Jahre lang schwere
körperliche Arbeit verrichtet worden sei. Diese Voraussetzung sei bei dem Kläger zu bejahen. Allerdings lägen die
arbeitsmedizinischen Voraussetzungen nicht vor, denn der monosegmentale Schaden stehe nach derzeitigen
Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft nicht im Zusammenhang mit den verrichteten Tätigkeiten. Gegen eine
berufliche Verursachung sprächen auch die degenerativen Veränderungen an der beruflich nicht exponierten
Halswirbelsäule. Im Übrigen sei die belastende Tätigkeit nicht allein wegen einer erheblichen Funktionsstörung der
Wirbelsäule aufgegeben worden. Der Widerspruch des Klägers wurde mit Bescheid vom 07.08.1998 zurückgewiesen.
Auf die Klage zum Sozialgericht Chemnitz hat dieses ein medizinisches Gutachten bei Privatdozent Dr. S1 ...
eingeholt. Der ärztliche Sachverständige kommt in seinem Gutachten zu dem Ergebnis, dass die vorliegenden
Schädigungen im Lendenwirbelsäulenbereich die Schädigungen übersteigen, die beim Bevölkerungsdurchschnitt im
Alter des Klägers zu erwarten sind. Diese Schädigungen träten mit höherer Wahrscheinlichkeit auf bei Menschen mit
starken körperlichen Belastungen als bei Menschen mit geringer körperlicher Belastung. Es sprächen bei Bewertung
aller Erkrankungserscheinungen mehr Argumente dafür, dass es sich um eine belastungsbedingte Schädigung
handele und nicht um eine Spontanerkrankung. Selbst ein Nichtmediziner könne aus einfachen Überlegungen folgern,
dass die Annahme einer anlagebedingten Schädigung schlichtweg unzulässig sei. Jeder Mensch sei jedoch so
versichert, wie er seine Tätigkeit begonnen habe, das heißt, auch mit Schwächen in den Geweben der Wirbelsäule.
Die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) betrage 10 %. Das Sozialgericht hat daraufhin mit Schreiben vom
28.05.2002 mitgeteilt, dass die BKVO/DDR anzuwenden sei und zum Zeitpunkt des Versicherungsfalls im Juli 1990
eine so erhebliche Funktionseinschränkung des Bewegungsapparates hätte vorgelegen haben müssen, dass die
Aufgabe der schädigenden Tätigkeit als Hauer daraus notwendig gewesen sei. Die den Kläger damals behandelnden
Ärzte hätten jedoch die Notwendigkeit der Tätigkeitsaufgabe nicht bestätigt.
Mit Urteil vom 27.01.2003 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen.
Hiergegen richtet sich die Berufung des Klägers: Nach dem Gutachten des Sachverständigen Dr. S1 ... sei die
Anerkennung als Berufskrankheit gerechtfertigt. Im Übrigen bestehe die Möglichkeit, dem Kläger
Entschädigungsleistungen nach Maßgabe der Härtefallregelung zuzubilligen.
Der Kläger beantragt:
1. Auf die Berufung wird das Urteil des Sozialgerichts Chemnitz, Az. S 7 KN 173/99 U, vom 27.01.2003 aufgehoben.
2. Auf die Berufung wird der Bescheid der Beklagten und Berufungsbeklagten vom 03.06.1998 in Gestalt des
Widerspruchsbescheids der Beklagten und Berufungsbeklagten vom 07.08.1998 aufgehoben.
3. Die Beklagte und Berufungsbeklagte wird verpflichtet, gegenüber dem Kläger und Berufungskläger die
Lendenwirbelsäulenerkrankung als Berufskrankheit anzuerkennen und zu entschädigen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Chemnitz vom 27.01.2003 zurückzuweisen.
Eine Entschädigung nach Maßgabe der Härtefallregelung entbehre einer gesetzlichen Grundlage.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten beider Instanzen sowie die beigezogenen Beklagtenakten
Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung ist nicht begründet.
Zu Recht hat das Sozialgericht im vorliegenden Fall - durch den Einigungsvertrag vom 31.08.1990 (BGBl. II 889,
1239) in Bundesrecht transformiertes - Recht der DDR angewandt (§ 1150 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 und Satz 2 Nr. 1
RVO; Anlage II Kap. VIII Sachgeb. F Abschn. III Nr. 6 Einigungsvertrag i.V.m. § 23 der Verordnung über die
Gewährung und Berechnung von Renten über die Sozialpflichtversicherung [Renten-VO] vom 23. November 1979
[GBl. DDR I, 401], zuletzt geändert durch das Renten-Überleitungsgesetz vom 25. Juli 1991 [BGBl. I, 1606] sowie
Anlage II Kap. VIII Sachgeb. I Abschn. III Nrn. 4 und 5 Einigungsvertrag i.V.m. § 221 des Arbeitsgesetzbuches der
DDR vom 16. Juni 1977 [GBl. DDR I, 185], zuletzt geändert durch Gesetz vom 26. Mai 1994 [GBl. DDR I, 1014],
sowie der DDR-Verordnung über die Verhütung, Meldung und Begutachtung von Berufskrankheiten vom 26. Februar
1981 [GBl. DDR I, 137] mit der 1. Durchführungsbestimmung zu dieser Verordnung - Liste der Berufskrankheiten -
vom 21.04.1981 [GBl. DDR I, 139]). Nach § 1150 Abs. 2 RVO, der gemäß §§ 212, 215 Abs. 1 Siebtes Buch
Sozialgesetzbuch (SGB VII) weiterhin Anwendung findet, sind Unfälle und Krankheiten, die vor dem 01.01.1992
eingetreten sind, als Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten im Sinne des Dritten Buches der RVO zu entschädigen,
wenn sie nach dem im Beitrittsgebiet geltenden Recht Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten der Sozialversicherung
waren. Allerdings bestimmt § 1150 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 RVO als Rückausnahme, dass dies nicht für Unfälle und
Krankheiten gilt, die einem zuständigen Träger der Unfallversicherung erst nach dem 31.12.1993 bekannt werden und
die nach dem Dritten Buch der RVO nicht zu entschädigen wären. Dies heißt nicht, dass dann wieder ausschließlich
gesamtdeutsches Recht Anwendung findet, vielmehr beurteilt sich schon generell die Frage, welches Recht
Anwendung findet, grundsätzlich nach den allgemeinen Regeln des intertemporalen Rechts, d.h., dass sich
Entstehung und Fortbestand sozialrechtlicher Ansprüche nach dem Recht beurteilen, das zur Zeit der
anspruchsbegründenden Ereignisse oder Umstände gegolten hat, soweit nicht später in Kraft gesetztes Recht etwas
anderes bestimmt (vgl. BSGE 70, 31, 34 m.w.N.; BSG SozR 3-2500 § 48 Nr. 2 m.w.N.; BSG SozR 3-4100 § 242t Nr.
1).
Sofern es für die Frage des anwendbaren Rechts darauf ankommt, wann die Berufskrankheit "eingetreten" ist, ist auf
den Streitgegenstand abzustellen und nicht etwa schon die materielle Rechtsfrage vorab zu beantworten. Der Eintritt
der Berufskrankheit nach dem 01.01.1992 wurde in diesem Verfahren nicht geltend gemacht; aus dem Akteninhalt
ergeben sich keine diesbezüglichen Anhaltspunkte.
Nach § 221 AGB DDR stellte eine Berufskrankheit eine Erkrankung dar, die durch arbeitsbedingte Einflüsse bei der
Ausübung beruflicher Tätigkeiten bzw. Arbeitsaufgaben hervorgerufen wurde und die in der Liste der
Berufskrankheiten, die mit der 1. Durchführungsbestimmung zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKVO/DDR) am
21.04.1981 bekanntgegeben worden ist, genannt war. Darin waren unter Nr. 70 als Berufskrankheiten aufgeführt:
"Verschleißkrankheiten der Wirbelsäule (Bandscheibenwirbelkörper ..., Wirbelfortsätze, Bänder, kleine Wirbelgelenke)
durch langjährige mechanische Überbelastung". Unter Nr. 71 waren aufgeführt: "Verschleißkrankheiten von
Gliedmaßen, Gelenken einschließlich der Zwischengelenkscheiben durch langjährige mechanische Überbelastung".
Für beide Berufskrankheiten wurde als weitere Anerkennungsvoraussetzung gefordert: "Erhebliche
Funktionseinschränkung des Bewegungsapparates mit Aufgabe der schädigenden Tätigkeit", wobei in der
Begutachtungspraxis der DDR als "erheblich" Funktionseinschränkungen bewertet wurden, die auf einem chronischen
Beschwerdebild mit einem rentenberechtigten Grad des Körperschadens (GdK) von mindestens 20 % beruhten
(Konetzke/Rehbohle/Heuchert, Berufskrankheiten, Gesetzliche Grundlagen zur Meldung, Begutachtung und
Entschädigung, 3. Auflage 1988, S. 111; Empfehlungen zur Einhaltung und Durchführung der Begutachtung bei
Verdacht auf berufsbedingte Verschleißkrankheiten der Wirbelsäule [BK Nr. 70], Konetzke, Arbeitsmedizininformation
14 [1987 Nr. 7 S. 14 bis 20] in: Schriftenreihe der Bundesanstalt für Arbeitsmedizin Sonderschrift 4, S. 285).
Voraussetzung für die Anerkennung der BK 70 bzw. BK 71 waren demnach 1. der Nachweis einer arbeitsbedingten
Überlastung des geschädigten Wirbelsäulenabschnitts bzw. des geschädigten Gliedmaßengelenks (arbeitstechnische
Voraussetzung), 2. das Vorliegen eines Krankheitskomplexes mit erheblicher Funktionseinschränkung im exponierten
Wirbelsäulenabschnitt bzw. am exponierten Gliedmaßengelenk im Umfang eines Körperschadens von mindestens 20
% (medizinische Voraussetzung), 3. der ursächliche Zusammenhang zwischen der Überbelastung und der
Verschleißkrankheit, 4. die krankheitsbedingte Aufgabe der schädigenden Tätigkeit (zusätzliche
Anerkennungsvoraussetzung).
Zwischen den Beteiligten besteht kein Streit, dass hinsichtlich Dauer und Schwere der Arbeit die Voraussetzungen
der arbeitsbedingten Überlastung für die Tätigkeit als Hauer zu bejahen sind.
Das Kriterium der Kausalität ist am schwierigsten zu handhaben. Ob die Volkskrankheit "Wirbelsäulensyndrom"
tatsächlich im Einzelfall auf eine stattgehabte Überlastung durch körperliche Arbeit zurückgeht, wird sich nur sehr
schwer nachweisen lassen. Vor diesem Hintergrund mag es nahe gelegen haben, einen Anspruch auf Leistungen
aufgrund einer Wirbelsäulenerkrankung generell abzulehnen (so LSG Niedersachsen, Urt. v. 05.02.1998 - L 6 U 178/97
- und SG Landshut, Urt. v. 17.10.1997 - S 8 U 224/95 -). Jedenfalls ist in rechtlicher Hinsicht die jahrzehntealte
Diskussion, ob "degenerative" Wirbelsäulenerkrankungen Berufskrankheiten sind, durch die zweite Erweiterung der
Berufskrankheiten-Verordnung auch für das Altbundesgebiet beendet (vgl. Begutachtung der neuen Berufskrankheiten
der Wirbelsäule, Deutscher Orthopädenkongress 17.10.1996, Wiesbaden Gustav-Fischer-Verlag 1997). Es wäre daher
nicht systemgerecht, diese Diskussion über das Kausalitätskriterium doch wieder in ihrer vollen Breite in jedem
Einzelfall aufleben zu lassen. Die "juristische" Entscheidung für eine "medizinisch-naturwissenschaftliche" Kausalität
kann nur bedeuten, dass es sich hierbei um eine normative Kausalität handelt. Eine solche normative Kausalität ist
auch im Nachhinein für das hier anwendbare Recht der DDR systemgerecht. Bereits durch die Definition einer
Berufskrankheit ist der Kausalitätsnachweis für den Einzelfall auf eine andere Ebene verschoben worden. Der
Verordnungsgeber, der eine Krankheit in die Liste der Berufskrankheiten aufnimmt, bejaht dadurch die generelle
Geeignetheit einer bestimmten Belastung, zu dem typischen Schadensbild zu führen. Auch im Recht der DDR galt,
dass ausnahmsweise ("Einzelentscheid") auch solche Krankheitsbilder als Berufskrankheit anerkannt werden
konnten, die nicht in der Berufskrankheiten-Liste genannt waren. Wie aber hier für die Beweisführung grundsätzlich
erschwert war (vgl. auch hierzu Mehrtens/Perlebach, Berufskrankheiten-Verordnung M 2108, S. 23), so war sie auf der
anderen Seite für die bereits "verordneten" Berufskrankheiten erleichtert, auch ohne dass es solcher ausdrücklichen
Regelungen wie in § 9 Abs. 3 SGB VII bedurft hätte. Das DDR-Recht kannte in diesem Zusammenhang die
Rechtsfigur der gesetzlichen Vermutung nicht; gleichwohl bedeutet das Kausalitätskriterium auch hier, dass nur
solche Fälle ausgeschlossen werden sollen, bei denen andere Ursachen gewissermaßen mit den Händen zu greifen
sind. Mit dieser recht weiten Kausalität korresponiert nun auf der anderen Seite das restriktive Kriterium der
krankheitsbedingten Aufgabe der schädigenden Tätigkeit sowie das Erfordernis der erheblichen
Funktionseinschränkung. Die zusätzlich begrenzenden Kriterien sind schon deswegen von besonderer Wichtigkeit,
weil eine Kausalität mit der beruflichen Tätigkeit - gleich welcher Art - kaum jemals in Abrede gestellt werden kann.
Insofern ist dem erstinstanzlich gehörten Gutachter Dr. S1 ... durchaus zuzustimmen. Bandscheibenbedingte
Erkrankungen der LWS haben eine "multifaktorielle Ätiologie" (Merkblatt des BMA I), sie können durch
Fehlbelastungen im privaten Bereich, durch typische Zivilisationsfolgen wie Bewegungs- und Belastungsarmut ebenso
hervorgerufen werden, wie durch starke Belastungen. In einem Fall wie dem vorliegenden, in dem ein Versicherter gut
13 Jahre lang beruflichen Einwirkungen ausgesetzt war, die für seine Wirbelsäule physiologisch ungünstig waren, d.h.,
diese übermäßig belasteten, kann nicht davon ausgegangen werden, dass diese Belastungen überhaupt keinen, also
auch keinen geringen Beitrag zu später auftretenden Degenerationserscheinungen geleistet haben. Eine Kausalität im
naturwissenschaftlichen Sinne ist somit gegeben (vgl. hierzu auch Urteil des 2. Senats des LSG Chemnitz vom
30.03.2000 - L 2 U 86/98 - S. 23 des Entscheidungsumdrucks). Ob die berufliche Einwirkung auch im Rechtssinne
"wesentliche" Ursache ist, lässt sich naturwissenschaftlich nicht klären. Die Abgrenzung zu so genannten
"anlagebedingten" Leiden muss schon deshalb immer spekulativ bleiben, weil allgemeine Erkenntnisse über ein
belastungsspezifisches Schadensbild nicht vorliegen (vgl. LSG Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 01.07.1999 - L 2 KN
72/96 U - Breith. 2000, 140) und auf der anderen Seite "endogene degenerative Prozesse" die berufsbedingten
Verursachungsanteile auch kaum in den Hintergrund drängen können, weil nämlich der Versicherte in dem
Gesundheitszustand geschützt ist, in dem er sich bei Aufnahme einer Tätigkeit befindet, auch wenn etwa dieser
Zustand eine größere Gefährdung begründet. Eingebunden sind alle bestehenden Krankheiten, Anlagen,
konstitutionelle oder degenerativ bedingte Schwächen und Krankheitsdispositionen (Schönberger/Mehrtens/Valentin,
Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 5. Auflage, S. 81).
Die unter Ziffern 2 und 4 genannten Kriterien (medizinische Voraussetzungen und zusätzliche
Anerkennungsvoraussetzungen) müssen gleichzeitig vorliegen. Dies ergibt sich aus der Natur der Sache.
Auch bei der Versicherung gegen Arbeitsunfall und Berufskrankheit steht die Schadensvermeidung im Vordergrund.
Arbeit, die mit Sicherheit zu gesundheitlichen Schäden führt, darf es daher nicht geben, Arbeit, von der ein
spezifisches gesundheitliches Risiko für die Beschäftigten ausgeht, muss arbeitsmedizinisch intensiv überwacht
werden. Bei zeitabhängigen Risiken wie dem der Wirbelsäulenbelastung durch unphysiologische Schwerarbeit
bedeutet dies, dass nach einer Exposition von ca. zehn Jahren in der Regel ein Arbeitsplatzwechsel stattzufinden hat,
ggf. früher, je nach den zu beobachtenden Abnutzungserscheinungen, auf jeden Fall aber, bevor eine erhebliche
Funktionseinschränkung eingetreten ist. Nur wenn zum Zeitpunkt des Arbeitsplatzwechsels bereits ein Grad des
Körperschadens von 20 vorliegt, ist der - an sich ja zu vermeidende - Versicherungsfall (der mit dem Leistungsfall
zusammenfällt) eingetreten. Ergibt sich der GdK von 20 erst später, so bewirkt das Prinzip der normativen Kausalität,
dass die Prüfung, inwiefern dies noch Fernwirkungen der ehemaligen Schwerarbeit sind, zu unterbleiben hat. Ist der
Versicherungsfall "Berufskrankheit" eingetreten, sind alle eventuellen späteren Verschlimmerungen mit einbezogen.
Hat er sich vermeiden lassen, so kann er nicht später durch sukzessive Ergänzung der ursprünglich fehlenden
Tatbestandsmerkmale doch noch verwirklicht werden. Diese Grundsätze, die so nur für das übergeleitete Recht der
DDR Geltung beanspruchen können, haben im Gesetz ihren begrifflichen Niederschlag gefunden.
§ 1150 Abs. 2 RVO bestimmt die Anwendung des DDR-Rechts für Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten, die vor dem
01.01.1992 eingetreten sind. Es müssen also alle Tatbestandsmerkmale jedenfalls wenigstens einmal gleichzeitig
vorgelegen haben.
Für den Kläger ergeben sich folgende Schlussfolgerungen: Wird als Zeitpunkt der Aufgabe der schädigenden Tätigkeit
der 15.07.1990 angenommen, so scheitert sein Anspruch daran, dass das Vorliegen eines Krankheitskomplexes mit
erheblicher Funktionseinschränkung zu jenem Zeitpunkt nachträglich nicht mehr bewiesen werden kann. Jedenfalls
führten die vom Gesundheitswesen Wismut erhobenen Befunde in den 80er Jahren allenfalls zu temporären
Verordnungen von Schonplatztätigkeit, die Funktionsstörungen, die überdies in erster Linie im HWS-Bereich auftraten,
waren reversibel und veranlassten weder die untersuchenden Ärzte noch den Kläger selbst, ein BK-Verfahren zu
beantragen. Dagegen, dass damals schon ein GdK (entspricht MdE) von 20 bestanden habe, spricht auch ganz
entscheidend das Gutachten von Dr. S1 ..., welches sogar nach dem gravierenden Postlaminektomiebefund lediglich
eine MdE von 10 bestätigen kann.
Schließlich erfolgte auch der Arbeitsplatzwechsel am 15.07.1990 nicht wegen Lendenwirbelsäulenbeschwerden. In
den Empfehlungen zur Anleitung und Durchführung der Begutachtung bei Verdacht auf berufsbedingte
Verschleißerkrankungen der Wirbelsäule (zitiert nach: Schriftenreihe der Bundesanstalt für Arbeitsmedizin,
Sonderschrift 4, S. 285), ist ausdrücklich ausgeführt, dass eine Aufgabe der Tätigkeit und ein Arbeitsplatzwechsel
aus anderen Gründen (Qualifikation, Betriebsverlagerung, Produktionsbestellung, persönliche Wünsche usw.) nicht
den von dem DDR-Gesetzgeber geforderten Zwang zur Aufgabe der Tätigkeit darstellt.
Diese Grundsätze sind nach wie vor maßgebend. Zwar spielen die subjektiven Vorstellungen des Arbeitnehmers keine
Rolle (vgl. BSG, Urt. v. 29.04.1997 - 8 RKn U 1/96 -); dies heißt aber nicht, dass das Kriterium der Aufgabe der
Tätigkeit vollständig entfallen würde. Wie auch in den zitierten "Empfehlungen" festgehalten ist, ist das Kriterium der
gesundheitsbedingten Aufgabe der Tätigkeit dann nicht erfüllt, wenn objektiv der Arbeitsplatzwechsel aus anderen
Gründen erfolgte. Dies war hier der Fall. Objektiver Grund für die Aufgabe des Arbeitsverhältnisses war die
Rationalisierung (betriebliche Gründe). Die Feststellung, dass ein objektiver Grund genügt, ist nicht so zu verstehen,
dass auch möglicherweise verborgene Gesundheitsstörungen, die, wären sie den Beteiligten und insbesondere dem
Erkrankten bewusst gewesen, möglicherweise einen Grund angeben könnten, auch zu berücksichtigen bzw. zu
explorieren sind. Selbst wenn insofern ein GdK von 20 nachgewiesen wäre, würde dies nicht ausreichen. Dies hätte
nämlich zur Folge, dass dann das Kriterium zur Aufgabe der schädigenden Tätigkeit mit dem Kriterium der
erheblichen Funktionseinschränkung zusammenfallen würde, mit anderen Worten, das erste Kriterium würde
gewissermaßen ersatzlos gestrichen (vgl. hierzu auch: Urteil des Senats vom 27.07.2000 - L 6 KN 44/97 -). In diesem
Sinne ist aber die Entscheidung des BSG vom 29.04.1997 (8 RKn U 1/96) nicht zu verstehen. Es soll lediglich eine
Abhängigkeit von den subjektiven Beweggründen des Versicherten ausgeschlossen werden (vgl. BSGE 56, 94, 98).
Ein objektiver Zwang zur Aufgabe der Tätigkeit aus gesundheitlichen Gründen liegt in der Regel dann vor, wenn sich
am Arbeitsplatz zeigt, dass der Betroffene nicht zu der Arbeit in der Lage ist bzw. wenn ärztlich dringend angeraten
ist, die Arbeit nicht mehr auszuüben, um eine weitere Verschlimmerung zu verhüten.
Bei diesem Rechtsstreit steht also nicht die Frage im Mittelpunkt, ob die jetzt vorhandenen Wirbelsäulenschäden
durch die jahrelange belastende Tätigkeit zumindest mitverursacht worden sind. Diese Frage kann durchaus zu
bejahen sein, sie wurde auch von Dr. S1 ... bejaht.
Als Berufskrankheit anerkannt werden kann hingegen die Lendenwirbelsäulenerkrankung nur, wenn zum Zeitpunkt
einer - krankheitsbedingten - Aufgabe der Tätigkeit bereits ein Grad des Körperschadens von 20 vorgelegen hat. Diese
beiden Kriterien sind im Fall des Klägers nicht gegeben.
Da schon die Voraussetzungen nach dem Recht der DDR nicht gegeben sind, kann es dahinstehen, inwiefern ein
Anspruch zusätzlich daran scheitert, dass die Berufskrankheit auch nach dem Recht der RVO bzw. dem SGB VII
nicht zu entschädigen wäre (§ 1150 Abs. 2 Satz 1 RVO).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG, Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 SGG liegen
nicht vor. -