Urteil des LSG Rheinland-Pfalz vom 13.07.2009

LSG Rpf: versorgung, genu recurvatum, wiederkehrende leistung, krankenversicherung, orthopädie, leitlinie, wissenschaft, chirurgie, behandlung, gesellschaft

Landessozialgericht Rheinland-Pfalz
Beschluss vom 13.07.2009 (rechtskräftig)
Sozialgericht Trier S 3 KR 53/08
Landessozialgericht Rheinland-Pfalz L 5 KR 100/09 NZB
1. Die Beschwerde der Beklagten gegen die Nichtzulassung der Berufung in dem Urteil des Sozialgerichts Trier vom
17.3.2009 wird zurückgewiesen. 2. Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des
Beschwerdeverfahrens zu erstatten.
Gründe:
I. Die Beklagte begehrt die Zulassung der Berufung gegen das erstinstanzliche Urteil, mit dem das Sozialgericht sie
verurteilt hat, dem Kläger die Kosten propriozeptiver Einlagen zu erstatten. Der 2003 geborene, bei der Beklagten
familienversicherte Kläger leidet beidseits unter einem Knickfuß (pes valgum), Senk-Spreizfuß,
Außenrotationsfehlstellung beider Füße von 40°, Genu recurvatum (abnorme Überstreckbarkeit des Unter-schenkels
im Kniegelenk) beidseits mit 15° Überstreckbarkeit bei Hypermobilität und hypotoner Beinmuskulatur sowie Genu
valgum (sog. X-Bein) beidseits. Der behandelnde Arzt verordnete dem Kläger am 14.9.2006 und erneut am 13.12.2007
sensomotorisch, physiodynamisch, propriozeptiv wirkende Fußbettun-gen nach Maß. Die hierauf gestützten
Leistungsanträge des Klägers lehnte die Beklagte unter Berufung auf entsprechende sozialmedizinische Gutachten
des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) ab (Bescheid vom 2.10.2006 und Widerspruchsbescheid
vom 5.12.2006 sowie Bescheid vom 18.2.2008 und Widerspruchsbescheid vom 28.2.2008). Auf die hiergegen
gerichte-ten Klagen hat das Sozialgericht Trier durch Urteil vom 17.3.2009 unter Aufhe-bung der angefochtenen
Bescheide die Beklagte verurteilt, an den Kläger 300 EUR für propriozeptive Einlagen zu zahlen. Zur Begründung hat
es im Wesentlichen ausgeführt, der Kläger habe einen Anspruch auf Kostenerstattung nach § 13 Abs. 3 in Verbindung
mit § 33 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V), da die verordneten Einlagen nach dem überzeugenden Gutachten
des von Amts wegen gehörten Sachverständigen zur Sicherung des Erfolgs der Krankenbehandlung notwendig seien.
Die einschlägigen Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und orthopädische Chirurgie und des
Bundesverbandes der Ärzte für Orthopädie "Kindlicher Knick-Senkfuß" sähen eine korrigierende Einlagenversorgung
vor. Dem Wortlaut könne nicht entnommen werden, dass hiermit ausschließlich Standardeinlagen nach Maßgabe der
Kassenpreislisten gemeint seien. Der Sachverständige habe für den streitgegenständlichen Einzelfall auch den thera-
peutischen Nutzen von propriozeptiven Einlagen bejaht. Die Berufung sei nicht zuzulassen, da es sich um eine
Einzelfallentscheidung handle, der keine grundsätzliche Bedeutung zukomme. Nach Zustellung des Urteils am
16.4.2009 hat die Beklagte am 13.5.2009 Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Berufung eingelegt. Sie trägt vor,
da in Anbetracht des Alters des Klägers damit zu rechnen sei, dass eine Versorgung in halbjährlichem Abstand auch
künftig erforderlich werde, handle es sich nicht um eine einmalige Versorgung, sondern um eine wiederkehrende
Leistung. Das Urteil weiche auch von der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts vom 31.8.2000 - B 3 KR 21/99 -
ab. Hiernach müsse sich die Bewertung von Hilfsmitteln an den Aufgaben und Zielen der gesetzlichen
Krankenversicherung orientieren, d.h. sie müsse der Krankenbehandlung der Versicherten nach dem Stand der
medizini-schen Wissenschaft unter Beachtung des Wirtschaftlichkeitsgebots dienen; die in § 135 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1
SGB V für die Bewertung von Untersuchungs- und Be-handlungsmethoden genannten Kriterien seien auch für die
Bewertung von Hilfs-mitteln maßgeblich. Das Sozialgericht habe außer Acht gelassen, dass der therapeutische
Nutzen und die Wirksamkeit der speziellen Einlageform nicht belegt und eine Versorgung mit Standardeinlagen
ausreichend, zweckmäßig und wirtschaft-lich sei. Es handle sich auch nicht um eine Einzelfallentscheidung. Vielmehr
komme der Entscheidung grundsätzliche Bedeutung zu, da es um die Frage gehe, ob der Leistungsumfang der
gesetzlichen Krankenversicherung sich an Erfahrungswerten einzelner Ärzte orientieren solle. Der MDK Hessen habe
in einem Gutachten vom 17.2.2009 u.a. ausgeführt, dass in der aktuellen Literatur die Versorgung mit
sensomotorischen, koordinationsfördernden Einlagen äußerst kontrovers diskutiert werde; die Produkte hielten einer
ärztlichen Kritik mit wissenschaftlicher Beurteilung nicht stand. Zudem würden propriozeptive Einlagen häufig
verordnet und auf Grund der sozialmedizinischen Beurteilung regelmäßig abgelehnt.
Die Beklagte beantragt, die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Trier vom 17.3.2009 zuzulassen.
Der Kläger beantragt, die Beschwerde zurückzuweisen.
Er ist der Auffassung, Gründe für die Zulassung der Berufung seien nicht gegeben.
Zu den weiteren Einzelheiten des Sachverhalts verweist der Senat auf den Inhalt der Gerichtsakten und der
Verwaltungsakten der Beklagten, der Gegenstand der Beratung war.
II. Die zulässige Beschwerde der Beklagten gegen die Nichtzulassung der Berufung ist unbegründet. Die Berufung
bedarf der Zulassung (unten 1.). Ein Zulassungs-grund liegt jedoch nicht vor (unten 2.). 1. Entgegen der Auffassung
der Beklagten entfällt die Zulassungsbedürftigkeit der Berufung nicht deshalb, weil die Berufung wiederkehrende
Leistungen für mehr als ein Jahr im Sinne des § 144 Abs. 1 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) beträfe.
Wiederkehrende Leistungen sind gleichartige, sich wiederholende Leistungen, die auf einem einheitlichen Rechtsgrund
beruhen bzw. sich als einheitliche Folge aus demselben Rechtsverhältnis darstellen (Bernsdorff, in Hennig, SGG, §
144 Rn. 31; Leitherer, in Meyer-Ladewig/ Keller/ Leitherer, SGG, 9. Aufl. 2008, § 144 Rn. 22; Littmann, in Lüdtke, Hk-
SGG, 2. Aufl. 2006, § 144 Rn. 12). Im Falle einer auf Kos-tenerstattung gerichteten Klage ist dabei nicht der sich in
einer einmaligen Zahlung erschöpfende Kostenerstattungsanspruch, sondern der diesem zugrunde liegend
Sachleistungsanspruch maßgeblich (BSG 10.2.1993 - 1 RK 17/91, juris Rn. 14). Ist bei einer ärztlichen Behandlung
von vornherein zu erwarten, dass sie sich auf einen längeren Zeitraum erstrecken wird, so haben die im Rahmen
dieser Behandlung in kürzeren, nicht notwendig regelmäßigen zeitlichen Abständen anfal-lenden Leistungen den
Charakter wiederkehrender Leistungen (BSG a.a.O.). Auch bei einem in der Wachstumsphase befindlichen
Jugendlichen ist nicht von vornherein zu erwarten, dass eine Versorgung mit Einlagen wiederholt anfallen wird. Denn
es ist nicht auszuschließen, dass eine einmalige Versorgung mit Einlagen zu der erstrebten Korrektur der Fußstellung
führt und eine weitere Versorgung nicht mehr erforderlich wird. Zudem ist im vorliegenden Fall der zeitliche Abstand
zwischen den einzelnen Leistungen so groß, dass von wiederkehrenden Leistungen nicht die Rede sein kann. Nach
den vorgenannten Maßstäben müssen die Leistungen in kürzeren, nicht notwendig regelmäßigen zeitlichen Abständen
erforderlich sein. Welche zeitliche Abstände als kürzer zu werten sind, kann hier dahinstehen. Da die
Zulassungsbedürftigkeit nur dann entfällt, wenn die Berufung wiederkehrende oder laufende Leistungen für mehr als
ein Jahr betrifft, ist daraus zu schließen, dass die Leistung zumindest innerhalb eines Jahres mehrfach erforderlich
werden muss. Im vorliegenden Fall lagen zwischen den beiden Leistungen ca. 15 Monate. Der Kläger hat mit seinen
jeweiligen Anträgen auch nicht die weitere künftige Versorgung in möglicherweise kürzeren Zeitabständen begehrt.
Jedenfalls in einem solchen Fall handelt es sich nicht mehr um wiederkehrende Leistungen im Sinne des § 144 Abs. 1
Satz 2 SGG. 2. Gründe für die Zulassung der Berufung im Sinne des § 144 Abs. 2 SGG sind nicht ersichtlich.
Entgegen der Auffassung der Beklagten ist die Berufung weder wegen Divergenz noch wegen grundsätzlicher
Bedeutung der Rechtssache zuzulassen. Soweit ersichtlich, weicht die Entscheidung des Sozialgerichts nicht von
einer Entscheidung des Landessozialgerichts, des Bundessozialgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten
Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts ab. Die von der Beklagten benannte Entscheidung
des Bundessozialgerichts vom 31.8.2000 - B 3 KR 21/99 - betrifft den Anspruch des Herstellers von Geräten der sog
nichtinvasiven Magnetfeldtherapie auf Aufnahme in das Hilfsmittelverzeichnis. Der Fall ist schon deshalb mit dem
vorliegenden Sachverhalt nicht vergleichbar. Soweit das Bundessozialgericht in dieser Entscheidung allgemein
ausgeführt hat, Hilfsmittel müssten sich an Aufgaben und Zielen der gesetzlichen Krankenversicherung orientieren;
d.h. sie müssten dazu dienen, die Krankenbehandlung der Versicherten nach dem Stand der medizinischen
Wissenschaft unter Beachtung des Wirtschaftlichkeitsgebots sicherzustellen; weicht die Entscheidung des
Sozialgerichts auch von dieser Rechtsprechung nicht ab. Denn das Sozialge-richt hat seine Entscheidung maßgeblich
darauf gestützt, dass der von ihm beauftragte Sachverständige die Erforderlichkeit der vom Kläger begehrten Einlagen
unter Berücksichtigung des Stands der medizinische Wissenschaft bejaht hat. Das Sozialgericht hat auch dargelegt,
dass aus seiner Sicht die Bewertung des Sachverständigen nicht in Widerspruch zu den einschlägigen Leitlinien
steht. Die Rechtssache hat auch keine grundsätzliche Bedeutung, da sowohl der erstinstanzlich gehörte
Sachverständige als auch - diesem folgend - das Sozialgericht seine Beurteilung auf die besonderen Umstände des
Einzelfalls gestützt haben. Das Sozialgericht hat dies in seiner Begründung zur Nichtzulassung der Berufung
nochmals ausdrücklich betont. Die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache ergibt sich auch nicht aus der
Auslegung der einschlägigen medizinischen Leitlinie durch das Sozialgericht dahin, dass diese eine Versorgung mit
propriozeptiven Einlagen nicht ausschließe. Die vom Sozialgericht noch herangezogene, letztmals im April 2002
überarbeitete Leitlinie "Kindlicher Knick-Senkfuß" der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und orthopädische
Chirurgie und des Bundesverbands der Ärzte für Orthopädie ist derzeit auf der Internetseite der Arbeitsgemein-schaft
der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF online) nicht mehr veröffentlicht; dort ist vielmehr
eine Aktualisierung und Überarbeitung für März 2009 angekündigt, die aber derzeit noch nicht veröffentlicht ist
(www.uni-duesseldorf.de/awmf/ll/033-020-m.htm, recherchiert am 8.7.2009). Der Frage, ob die Auslegung der
veralteten Leitlinie durch das Sozialgericht zutreffend ist, kommt daher derzeit ebenfalls keine grundsätzliche
Bedeutung zu. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde an das
Bundessozialgericht anfechtbar (§ 177 SGG). Mit der Ablehnung der Beschwerde wird das erstinstanzliche Urteil
rechtskräftig (§ 145 Abs. 4 Satz 4 SGG).