Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 01.04.2009

LSG NRW: einzelrichter, einzelnes mitglied, kollegialgericht, rechtspflege, entlastung, terminologie, umkehrschluss, betrug, schiedsstelle, schiedsspruch

Landessozialgericht NRW, L 10 B 42/08 P
Datum:
01.04.2009
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
10. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
L 10 B 42/08 P
Vorinstanz:
Sozialgericht Köln, S 23 P 160/06 ER
Sachgebiet:
Pflegeversicherung
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Auf die Beschwerde wird der Beschluss des Sozialgerichts Köln vom
02.05.2007 geändert. Der Streitwert wird auf 4.786,41 Euro festgesetzt.
Das Beschwerdeverfahren ist gebührenfrei. Kosten sind nicht zu
erstatten (§ 68 Abs 3 GKG).
Gründe:
1
Der Senat entscheidet entsprechend seiner bisherigen Rechtsprechung (Beschluss vom
24.02.2006, L 10 B 21/05 KA, Juris, Rn 6 = SGB 2006, 475 f). über die Beschwerde des
Klägers gegen die Höhe des erstinstanzlich festgesetzten Streitwerts gem § 68 Abs 1 S
6 i.V.m. § 66 Abs 6 S 2 Gerichtskostengesetz (GKG) in voller Besetzung mit drei
Berufsrichtern. Allerdings ist in der obergerichtlichen Rechtsprechung die Frage
umstrittenen, ob gem. § 68 Abs 1 S 6 iVm. § 66 Abs 6 S 1, 2. Hs GKG über eine
Beschwerde gegen erstinstanzliche Streitwertfestsetzungen in sozialgerichtlichen
Verfahren das Beschwerdegericht in der Besetzung mit drei Berufsrichtern oder durch
eines seiner Mitglieder als Einzelrichter entscheidet. Letzteres ist nach Ansicht des
Senats der Fall. Insoweit gibt er seine bisherige Rechtsprechung auf (Beschluss vom
24.02.2006,L 10 B 21/05 KA, Juris, Rn 6 = SGB 2006, 475 f, vgl. auch Beschluss des 16.
Senat dieses Hauses vom 30.04.2008, L 16 B 5/07 R, Juris, Rn 6).
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Nach heutiger Rechtsansicht des Senats ist § 68 Abs 2 S 6 iVm § 66 Abs 6 S 1 GKG
auch im sozialgerichtlichen Verfahren anwendbar (ebenso LSG Baden-Württemberg,
Beschluss vom 16.12.2008, L 10 R 5747/08 W-B, Juris, Rn 5; Sächsisches LSG,
Beschluss vom 09.06.2008, L 1 B 351/07 KR, Juris, Rn 8; Thüringer LSG, Beschluss
vom 16.02.2007, L 6 B 141/06 SF, Juris, Rn 1,2). Soweit dagegen unter Berufung auf die
Entstehungsgeschichte des § 66 Abs. 6 GKG und dem Argument, diese Vorschrift sei
dem § 568 Zivilprozessordnung (ZPO) nachgebildet, angeführt wird, dass die mit einer
Entscheidung durch den Einzelrichter möglichen Beschleunigungseffekte nur bei den
Gerichten genutzt werden soll, bei denen eine Entscheidung durch Einzelrichter
institutionell auch vorgesehen sei (vgl hierzu BT-Drucks. 15/1971 S 157; so: BGH,
Beschluss vom 13.01.2005, V ZR 218/04, Juris, Rn 4; BFH Beschluss vom 28.06.2005,
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X E 1/05, Juris, Rn 6 und Beschluss vom 29.09.2005, IV E 5/05,Juris, Rn 15; LSG NRW,
aa0; Hessischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 19.01.2005, 11 TE 3706/04,
Juris, Rn 1,2; OVG für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 16.09.2008, 13 E
1205/08, Juris, Rn 1,2), greift dieser Gesichtspunkt nicht. Auch steht dem Umstand, dass
das Sozialgerichtsgesetz (SGG) eine Übertragung der Entscheidung auf einen
Einzelrichter wie in § 6 Abs 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) und Regelungen
wie in § 348 ZPO über den originären Einzelrichter und in § 348a ZPO über den
obligatorischen Einzelrichter nicht kennt (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
SGG, 9. Auflage, München 2008, § 155, Rn 3; LSG Baden-Württemberg aa0.) der
unmittelbaren Anwendung des § 66 Abs 6 S 1 GKG nicht entgegen.
Nach § 66 Abs. 6 S. 1 i.V.m. § 68 Abs. 1 S. 6 GKG entscheidet das Beschwerdegericht
durch eines seiner Mitglieder über die Beschwerde gegen den Beschluss durch den der
Wert für die Gerichtsgebühr festgesetzt worden ist, wenn die angefochtene
Entscheidung von einem Einzelrichter oder Rechtspfleger erlassen wurde. Das GKG
normiert unter diesen Voraussetzungen die Entscheidungszuständigkeit für ein
einzelnes Mitglied des Beschwerdegerichts, das als Einzelrichter entscheidet. Seinem
klaren Wortlaut nach handelt es sich bei § 66 Abs. 6 S. 1 GKG insoweit um eine
Spezialzuweisung (vgl. BVerwG, Beschluss vom 25.01.2006, 10 KSt 5/05, Juris, Rn 2 ff.;
VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 02.06.2006, 9 S 1148/06, Juris, Rn 1 ff. und
Sächsisches LSG, aa0.). Einzelrichter im Sinne des § 66 Abs. 6 S. 1 GKG ist danach
jedes einzelne Mitglied des Gerichts, welches über die Erinnerung entscheidet (VGH
Baden-Württemberg, aa0.). Für die am unmittelbaren Wortlaut der Regelung orientierte
Auslegung des § 66 Abs. 6 S. 1 GKG spricht auch, dass das SGG die Entscheidung
durch einen einzelnen Richter in mehreren Fallgestaltungen kennt. § 155 SGG erlaubt
ebenfalls Entscheidungen durch ein einzelnes Senatsmitglied, nämlich den
Vorsitzenden (§ 155 Abs 2 u. 3 SGG) oder den Berichterstatter, soweit ihm diese
Befugnis vom Vorsitzenden übertragen wird (§ 155 Abs. 4 SGG). Unabhängig davon, ob
es sich hierbei um Einzelrichterentscheidungen im rechtstechnischen Sinne handelt,
zeigt § 155 SGG, dass durch einen einzelnen Richter außerhalb der sonst
vorgesehenen Senatsbesetzung mit drei Berufsrichtern (§ 33 SGG) gefällte
Entscheidungen - in der Hauptsache und auch bei Nebenentscheidungen - dem SGG
nicht grundsätzlich fremd sind. Vielmehr sieht § 155 Abs 2 Nr 4 SGG die Entscheidung
des Vorsitzenden bzw. Berichterstatters - also die Entscheidung eines einzelnen
Richters - gerade über den Streitwert (nämlich im vorbereitenden Verfahren)
ausdrücklich vor (vgl. LSG Baden-Württemberg, aa0 mwN). Soweit eine Rechtssache in
tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht einfach gelagert ist, kann zur Straffung und
Beschleunigung des Verfahrens auf einen Diskurs innerhalb des Kollegiums verzichtet
werden. Insofern kann die Entscheidungskompetenz gem § 155 Abs 3, 4 SGG
ausnahmsweise vom Kollegium auf den Vorsitzenden bzw. Berichterstatter in Verfahren
verlagert werden, die insbesondere aus dem Grunde keine rechtliche Schwierigkeiten
aufweisen, weil einer ständigen Rechtsprechung - auch des eigenen Senats - gefolgt
werden soll. Auch ist dem Vorsitzenden einer Kammer beim Sozialgericht in derartig
gelagerten Fällen ausnahmsweise gestattet, allein ohne Mitwirkung der ehrenamtlichen
Richter zu entscheiden (vgl. BSG, Urteil vom 08.11.2007, B 9/9a SB 3/06 R, Juris, Rn
22). Der in § 66 Abs 6 S 1 GKG mit der Übertragung der Streitentscheidung über die
Erinnerung/Beschwerde an den Einzelrichter angestrebte Beschleunigungseffekt kann
insoweit auch im Rahmen des Sozialgerichtsgesetzes ohne Weiteres umgesetzt werden
(vgl. BVerwG, aa0 zu den mit § 155 SGG vergleichbaren Regelungen von
Zuständigkeiten des Vorsitzenden bzw. des Berichterstatters nach § 87a VwGO).
Einzelrichter im Sinne des § 66 Abs 6 S 1 GKG ist nicht nur das der jeweiligen
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Prozessordnung als "Einzelrichter" bezeichnete Mitglied eines Kollegialgerichts,
sondern jedes Mitglied eines aus mehreren Richtern zusammengesetzten
Spruchkörpers, das befugt ist, an dessen Stelle zu entscheiden (vgl. Sächsisches LSG,
aa0 mwN.). Insofern sind auch Entscheidungen des Kammervorsitzenden erster Instanz
damit als Einzelrichterentscheidung iSd § 66 Abs 6 S. 1 SGG anzusehen (LSG Baden-
Württemberg, aa0, Sächsisches LSG, aa0). Dem steht nicht entgegen, dass zu der mit §
66 Abs 6 GKG vergleichbaren Vorschrift des § 568 ZPO die Auffassung vertreten wird,
der Vorsitzende einer Kammer für Handelssachen, der gem. § 349 Abs 2 u. 3 ZPO
anstelle der Kammer entscheidet, sei kein Einzelrichter (vgl. BGH, aa0); denn dies
beruht darauf, dass die ZPO strikt zwischen Einzelrichter und Vorsitzendem der Kammer
für Handelssachen unterscheidet. Hieraus kann aber nicht gefolgert werden, dass
Einzelrichter i.S.d. § 66 Abs 6 S 1 GKG nur sein kann, wer in der Prozessordnung auch
als Solcher bezeichnet wird. Maßgeblich ist insoweit nicht die Terminologie, sondern
die Funktion (Sächsisches LSG aa0 mwN).
Schließlich spricht auch der in der Gesetzesbegründung zum Ausdruck gekommene
Wille des Gesetzgebers für die Auslegung des Senats. Es soll eine Vereinfachung und
Straffung des kostenrechtlichen Verfahrens erfolgen. Die Regelung soll "einerseits zu
einer Entlastung der Rechtspflege beitragen und andererseits die Akzeptanz der auf die
Beschwerde ergehenden Entscheidung durch die Betroffenen sicherstellen, in dem
Entscheidungen eines Kollegialgerichts auch nur durch ein anderes Kollegialgericht
korrigiert werden können" (BT-Drucks., aa0, S. 157/158). Dass dann, wenn in der ersten
Instanz ein Kollegialgericht entschieden hat, aus Akzeptanzgründen auch im
Rechtsmittelverfahren durch eine kollegiale Besetzung entschieden werden soll, lässt
den Umkehrschluss zu, dass dann, wenn in erster Instanz ein einzelner Richter die
Entscheidung getroffen hat, dies auch im Rechtsmittelzug gelten soll und nicht zu einem
Akzeptanzverlust führt. Entscheidet in erster Instanz ein einzelner Richter, dann ist im
Beschwerdeverfahren auch ein Mitglied des Senats allein zur Entscheidung berufen
(vgl. VGH Baden-Württemberg, aaO).
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Im Verfahren der Streitwertbeschwerde ist der Berichterstatter damit dann als
Einzelrichter im Sinne des § 68 Abs 1 S 6 GKG iVm § 66 Abs 1 S 1 GKG zur
Entscheidung berufen, wenn die Streitwertentscheidung im erstinstanzlichen Verfahren -
wie hier - durch den zuständigen Kammervorsitzenden getroffen wurde. Denn
entsprechend dem oben Gesagten sind auch Entscheidungen des Kammervorsitzenden
erster Instanz als Einzelrichterentscheidungen iSd § 66 Abs 6 S 1 SGG anzusehen
(LSG Baden-Württemberg, aa0; Sächsisches LSG, aa0).
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Vorliegend orientiert sich die Wertfestsetzung an dem konkreten Zeitraum, über den der
Schiedsspruch eine Regelung trifft, sowie an dem Differenzbetrag zwischen dem
Angebot der Pflegekassen und der Festsetzung durch die Schiedsstelle (vgl. Beschluss
des erkennenden Senats vom 21.01.2009, L 10 B 20/08 P, Hinweis vom 11.02.2009).
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Nach Mitteilung des Klägers betrug der Differenzbetrag jährlich 28.718,47 Euro.
Bezogen auf den streitigen Zeitraum vom 01.07. bis 31.12.2005 beträgt der
Differenzbetrag 14.359,24 Euro. Hiervon ist im Verfahren des einstweiligen
Rechtsschutzes für die Wertfestsetzung ein Drittel anzusetzen (vgl. LSG NRW,
Beschluss v. 12.06.2007, L 6 B 30/06 P ER).
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Der Streitwert beträgt demnach 4.786,41 Euro.
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Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht anfechtbar
(§ 177 SGG).
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