Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 04.07.2007

LSG NRW: persönliche anhörung, unmittelbare gefahr, zwangsarbeit, arbeitsamt, familie, brot, bevölkerung, arbeiter, verpflegung, wartezeit

Landessozialgericht NRW, L 8 R 74/05
Datum:
04.07.2007
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
8. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
L 8 R 74/05
Vorinstanz:
Sozialgericht Düsseldorf, S 12 RJ 54/04
Sachgebiet:
Rentenversicherung
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts
Düsseldorf vom 10. März 2005 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche
Kosten sind zwischen den Beteiligten auch für den Berufungsrechtszug
nicht zu erstatten. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
1
Der Kläger begehrt von der Beklagten Regelaltersrente nach Maßgabe des Gesetzes
zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto (ZRBG), das der
Deutsche Bundestag im Jahr 2002 einstimmig erlassen hat (Bundesgesetzblatt - BGBl -
Teil I 2074).
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Der Kläger wurde 1924 in Kaunas geboren. Vor dem Krieg absolvierte er in Litauen eine
Schweißerlehre. Er war 17 Jahre alt, als die Deutschen die Sowjetunion angriffen. Sein
Vater wurde vom Überfall der Deutschen auf einer Geschäftsreise im Ort Kedenai
überrascht. Ihm gelang es, nach Kasachstan zu flüchten. Zusammen mit seinen beiden
Schwestern und der Mutter blieb der Kläger in L zurück.
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Die deutschen Truppen erreichten Kaunas am 24. Juni 1941. Bereits am Tag darauf
fanden die ersten Pogrome gegen die jüdische Bevölkerung statt. Bereits in diesen
ersten Tagen betrug die Zahl der jüdischen Opfer mehrere Tausend Menschen, fast
ausschließlich Männer. Die alten zaristischen Forts Nr. VII und IX dienten als Lager und
Erschießungsstätten. Am 8. Juli wurde Vertretern der jüdischen Bevölkerung durch die
Sicherheitspolizei mitgeteilt, alle Juden hätten bis zum 15. August 1941 zum Schutz vor
den litauischen Partisanen in ein Ghetto umzuziehen. In Vilijampol&279;, in dem zuvor
16.000 Menschen in relativ primitiven Verhältnissen gelebt hatten (keine Kanalisation
usw.), wurden nun 30.000 Juden in zwei Ghettos, die durch eine Brücke verbunden
waren, zusammengezogen. Die meisten Menschen im Ghetto stammten aus Kaunas,
das eine große jüdische Gemeinde besessen hatte, und aus den umliegenden
Regionen. Nach den Aktionen im Herbst 1941 lebten ca. 17.000 Menschen im Ghetto.
Die Frauen befanden sich in der Überzahl, da mehr Männer ermordet worden waren.
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Unter diesen Frauen gingen nicht alle einer Arbeit nach (viele waren junge Mütter). Vor
allem die Kinder und die Älteren waren immer von Selektionen bedroht, weswegen der
Judenrat vermied, den deutschen Behörden die exakten Zahlen zu geben.
Auch nach der Ghettoisierung kam es zu fortgesetzten Plünderungen und ersten
Massenmorden wie der Erschießung von 534 Intellektuellen am 18. August 1941.
Weitere große Mordaktionen fanden zwischen Ende September und Ende Oktober 1941
statt. In diesem Zusammenhang wurde auch das kleine Ghetto geräumt. Der Höhepunkt
der Aktionen wurde dann am 28. Oktober 1941 erreicht, als die gesamte
Ghettobevölkerung auf einem Platz antreten musste. Vertreter der Sicherheitspolizei und
des Arbeitsamtes nahmen die Selektion vor, wobei die entscheidenden Kriterien die
physische Arbeitsfähigkeit, besondere handwerkliche Fähigkeiten oder Funktionen
(Judenrat, Ghettopolizei usw.) waren. Ca. 9.200 Menschen wurden als nicht mehr
nützlich in den folgenden Tagen im IX. Fort ermordet. Damit war der Höhepunkt der
Mordwelle überschritten, und es begann die ruhige Phase im Ghetto, die durch den
Aufbau einer Art von Infrastruktur durch den Judenrat und die Ausnutzung der jüdischen
Arbeitskraft durch deutsche Behörden und Einrichtungen gekennzeichnet war. Der
deutsche Stadtkommandant Cramer wurde dabei durch seinen persönlichen "(Juden-
)Referenten" Jordan unterstützt. Dieser unterhielt eine eigene Arbeitsbrigade (sog.
"Jordan-Brigade") und gab dazu Bescheinigungen aus, die bei Selektionen einen
gewissen Schutz boten (sog. "Jordan-Scheine"). Der Judenrat nahm im Übrigen alle
Aufgaben der inneren Verwaltung des Ghettos wahr und fungierte als Exekutive. Ihm
oblagen die Stellung der von den deutschen Behörden angeforderten jüdischen
Arbeitskräfte, die Verteilung des immer knappen Wohnraumes, soziale
Hilfsmaßnahmen, die Verteilung der Nahrung usw. Vorsitzender war der Arzt Elchanan
Elkes, der bis zum Ende des Ghettos Vorsitzender blieb und schließlich am 17. Oktober
1944 im Konzentrationslager (KL) Dachau starb.
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Wie in allen Ghettos im deutschen Machtbereich versuchte auch der Judenrat in
Kaunas, das Überleben der Menschen durch Arbeit für die deutschen Besatzer zu
sichern. Die Arbeiten konnten dabei innerhalb des Ghettos, in den sogenannten
Ghettowerkstätten (z. B. Tischlerei, Wäscherei, Schneiderei), oder außerhalb stattfinden.
Die Stadtbrigaden zogen jeden Tag vom Ghetto aus zu ihrem Arbeitsort (ausgenommen
diejenigen Arbeitsbrigaden, die in der Region eingesetzt und zum Teil in Unterkünften
an ihren Einsatzorten untergebracht worden waren). Die Arbeitsbedingungen variierten
je nach Einsatzort und dem Verhalten der dortigen deutschen Aufsicht; ein weiterer
wichtiger Aspekt waren die mit dem Arbeitsplatz verbundenen Möglichkeiten,
Nahrungsmittel und Gebrauchsgegenstände auf dem Schwarzmarkt zu beziehen. Es
gab dementsprechend Arbeitsplätze, die in einem guten Ruf standen, während andere
wegen einer schikanösen Behandlung, schwerster körperlicher Arbeit oder schlechter
Marktlage als verrufen galten.
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Das jüdische Arbeitsamt stellte die entscheidende Institution für die Menschen im Ghetto
dar. Oft kamen auch Arbeiter zum Judenrat, um einen anderen Arbeitsplatz oder eine
Krankschreibung zu erhalten. Als sich im September 1943 Gerüchte verdichteten, die
deutsche Besatzungsmacht wolle die jüdische Arbeiter in Militärlagern an ihren
Arbeitsplätzen unterbringen, gab es 1400 Bewerbungen für Arbeitsplätze in den
Ghettowerkstätten. In den Berichten vor allem jüngerer Überlebender heißt es, dass sie
oft und offenbar problemlos über das jüdische Arbeitsamt (oder direkt am Ghettotor) den
Arbeitsplatz wechselten (Ende der landwirtschaftlichen Saisonarbeiten, Verlegung der
deutschen Einheit usw.). Nach dem Ende der Massenmorde mit der Großen Aktion vom
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28. Oktober 1941 bis zur Liquidierung des Ghettos und der Verschleppung der
Überlebenden in KLs wurde durch die Arbeitsaufnahme keine unmittelbare Gefahr für
Leib und Leben abgewendet.
Wer arbeitete, wurde zumeist in Naturalien entlohnt. Im April 1942 ordnete
Stadtkommissar Cramer in Reaktion auf ein Memorandum des Judenrates wegen einer
Erhöhung der Verpflegung an, dass die Verpflegung der jüdische Bevölkerung
grundsätzlich die Hälfte der einheimischen Bevölkerung betrage; arbeitende Juden
bekämen zusätzlich die volle Brotration. In einem Rundschreiben Cramers vom 30. Juli
1942 betr. "Bedingungen für die Vermittlung jüdischer Arbeitskräfte" heißt es u.a.: "Es ist
anzustreben, die Juden an Ort und Stelle zu verpflegen und zwar in einer Art
Werkküche. Von den Berufsverbänden kann auf Antrag eine Bescheinigung ausgestellt
werden, dass solche Dienststellen, wo Juden zu wehrwirtschaftlichen Arbeiten
herangezogen werden, eine Zusatzverpflegung für Juden erhalten. Nach Vorlage dieser
Bescheinigung kann eine Zusatzverpflegung für Juden bezogen werden. Von den
Tagessätzen wird dann für die tägliche Zusatzverpflegung 0,25 RM in Abzug gebracht."
Am 25. August 1942 erließ Cramer eine weitere Anweisung, die die Verpflegung der
jüdischen Bevölkerung neu regelte. Die Arbeitenden erhielten zusätzlich pro Woche 700
gr Brot, 125 gr. Fleisch und 25 gr. Fett. Die Zusatznahrung sollte direkt am Arbeitsplatz
ausgegeben werden. Es handelte sich gegenüber den Rationen der nicht arbeitenden
Ghettobewohner (Brot 700 gr, 125 gr. Fleisch, 112,5 gr. Mehl, 75 gr. Nahrungsmittel und
50 gr. Salz) fast um eine Verdoppelung der Ernährungsbasis. Zugleich verbot Cramer in
einem zweiten Erlass den Geldverkehr im Ghetto, so dass offiziell die jüdische
Arbeitskraft (gegenüber den jüdischen Arbeitern) nicht mehr in Bargeld bezahlt werden
konnte.
8
Im Juli 1944 "liquidierten" die Deutschen bei ihrem Rückzug das jetzt KL Kauen
genannte Ghetto, die Überlebenden wurden in Konzentrationslager nach Estland und
später in das Deutsche Reich deportiert.
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Der Kläger kam in das KL Stutthoff. Seine Mutter und seine ältere Schwester
verhungerten dort kurz vor der Befreiung. Der Kläger kehrte nach Kaunas zurück, wo er
später seinen Vater wieder traf. Nach dessen Tod wanderte er 1974 nach Israel ein.
Leistungen nach dem Bundesentschädigungsgesetz (BEG) konnte er wegen dessen
Schließung durch das BEG-Schlussgesetz mit Wirkung zum Jahr 1969 nicht geltend
machen. 1993 stellte er nach dem Gesetz über die Errichtung der Zwangsarbeiterstifung
"Erinnerung, Verantwortung und Zukunft", das der Deutsche Bundestag im Jahr 2000
erlassen hat (Stifungsgesetz - BGBl Teil I 1263), bei der Jewish Claim Conference
(JCC) einen Antrag auf Entschädigung für sein Verfolgungsschicksal. Er wurde von der
JCC daraufhin als Berechtiger des Artikel 2 Fonds anerkannt. Seine israelische
Altersrente bezieht der Kläger ausschließlich nach den in Israel zurückgelegten Zeiten.
Eine Berücksichtigung von Zeiten vor 1954 sieht das israelische Rentenrecht nicht vor.
Der Kläger erhält auch keine litauische Rente unter Berücksichtigung von Ghettozeiten.
Dies ist mangels eines entsprechenden israelisch-litauischen
Sozialversicherungsabkommens ausgeschlossen.
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Im August 2002 beantragte der Kläger die Gewährung einer Regelaltersrente nach
Maßgabe des ZRBG bei der Beklagten. Die Beklagte übersandte ihm einen
Fragebogen, in dem der Kläger angab, er habe sich von August 1941 bis Juli 1942 im
Ghetto Kaunas befunden und zunächst im Bekleidungslager gearbeitet. Danach sei er
von August 1942 bis Juli 1944 in der Flakfabrik von Kaunas mit der Reparatur von
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Flugabwehrkanonen beschäftigt gewesen. Ergänzend trug mit einer im Juni 2003 bei
der israelischen Sozialversicherungsanstalt Bituach Leumi aufgenommenen
eidesstattlichen Versicherung vor, die Arbeit sei durch Vermittlung des Arbeitsamtes
zustande gekommen und mit Coupons entlohnt worden. Diese Angaben bestätigten die
Zeuginnen G und W in entsprechenden eidesstattlichen Versicherungen. Die Beklagte
zog die Angaben des Klägers bei der JCC bei, in denen der Kläger 1993 erklärt hatte, er
habe im Ghetto hauptsächlich auf dem Flugplatz Zwangsarbeiten leisten müssen. Durch
Bescheid vom 20.10.2003 lehnte die Beklagte den Antrag des Klägers auf Zahlung
einer Rente nach dem ZRBG ab. Zur Begründung führte sie aus, dass auf Grund
widersprüchliche Angaben nicht glaubhaft sein, dass der Kläger im Ghetto aus eigenem
Willensentschlusss eine entgeltliche Beschäftigung ausgeübt habe. Den dagegen vom
Kläger erhobenen Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom
18.03.2004 zurück.
Das Sozialgericht (SG) Düsseldorf hat die vom Kläger dagegen erhobene Klage mit
Urteil vom 10.03.2005 abgewiesen. Eine Entlohnung durch Coupons hat das SG nicht
als überwiegend wahrscheinlich angesehen; vielmehr könne es so wie zunächst oder
auch wie später vorgetragen gewesen sein.
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Dagegen richtet sich die rechtzeitige Berufung des Klägers.
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Der Kläger beantragt,
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das Urteil des Sozialgericht Düsseldorf vom 10.03.2005 zu ändern und die Beklagte
unter Aufhebung des Bescheides vom 20.10.2003 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 18.03.2004 zu verurteilen, dem Kläger Altersrente nach
Maßgabe des ZRBG unter Berücksichtigung von Ghettobeitragszeiten von Januar 1942
bis November 1943 ab dem 01.07.1997 neu zu zahlen.
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Die Beklagte beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Der Senat hat zur historischen Situation im Ghetto Kaunas ein
Sachverständigengutachten des am Nord-Ost-Institut der Universität Hamburg tätigen
Historikers Dr. U eingeholt. Dieser hat ausgeführt, die Angaben des Klägers zu seinem
Verfolgungsschicksal seien zwar auf den ersten Blick widersprüchlich, da er in seinem
ersten Rentenantrag nur von einer Tätikgkeit auf dem Flugplatz Aleksotas gesprochen
habe. Es spreche jedoch eindeutig für die Glaubwürdigkeit des Klägers, dass seine
späteren Ausführungen durch eine direkte Quelle belegbar seien, die auch in
historischen Fachkreisen unbekannt gewesen sei. In der Belegübersicht der
Wehrmachtskommandatur in Kaunas vom 31.07.1943 sei nämlich eine Flakbeute-
Instandsetzungs-Werkstatt mit zwei Offizieren, drei Unteroffizieren und zehn
Mannschaften aufgeführt. Aus deren Materialausstattung (fünf LkW) ergebe sich zudem,
dass wehrmachtsfremdes Personal Verwendung gefunden habe. Da der Kläger eine
Schlosserlehre habe vorweisen können, sei sein dortiger Einsatz trotz seiner damaligen
Jugend nachvollziehbar. Auch die Existenz der vom Kläger im Bekleidungslager
erwähnten Jordan-Brigade sei historisch belegt. Insgesamt seien die Angaben des
Klägers in seiner eidesstattlichen Erklärung vom Juni 2003 daher zeitgeschichtlich
glaubhaft im Sinne einer guten Möglichkeit.
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Die Beklagte hat gemeint, durch das Gutachten des Sachverständigen ergäben sich
keine für die Beurteilung des Falles bedeutsamen Erkenntnisse. Konkrete Beweismittel
für die in Streit stehenden Beschäftigungsverhältnisse habe der Gutachter nicht
vorgelegt.
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Der Kläger ist vom Gericht gebeten worden mitzuteilen, ob er eine persönliche
Anhörung zu seinem Verfolgungsschicksal im Heimatland zu Zwecken der Gewährung
rechtlichen Gehörs und zur Aufklärung des Sachverhalts wünsche. Das hat er bejaht.
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Der Staat Israel hat der konsularischen Anhörung von israelischen Klägern
rentenrechtlicher Verfahren durch ein deutsches Gericht vor Ort gem. Art. 16 des Haager
Übereinkommens über die Beweisaufnahme im Ausland in Zivil- oder Handelssachen
(ZRHG) vom 18. März 1970 - BGBl Teil II 1274 - nach Vermittlung dieses Ersuchens
durch die deutsche Botschaft in Tel Aviv mit diplomatischen Verbalnoten vom 5.
Dezember 2006 und vom 13. Februar 2007 mit der Maßgabe der anschließenden
Bestätigung des jeweiligen Protokolls durch das Directorate of Courts in Jerusalem
zugestimmt.
21
Zur Vorbereitung der Anhörung hat das Gericht die an der Universität Frankfurt tätige
klinische Psychologin Prof. Dr. R, die durch Forschungsarbeiten über die
Interpretationen autobiographischer Erzählungen von Überlebenden des Holocaust
hervorgetreten ist, mit der Erstattung eines Sachverständigengutachtens über die bei der
Befragung und Auswertung der Ghettoüberlebenden anzuwendenden Grundsätze
beauftragt und parallel dazu Oberstaatsanwalt außer Dienst B, der mit der Vertretung
der durch die Generalstaatsanwaltschaft Düsseldorf erhobenen Anklage im Majdanek-
Verfahren betraut war, als weiteren Sachverständigen zu seinen Erfahrungen mit der
Vernehmung jüdischer Opferzeugen in Israel befragt.
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In der Zeit vom 05. bis zum 29. März 2007 sind sodann 21 Kläger und Klägerinnen in
Tel Aviv und in Jerusalem durch den Berichterstatter angehört worden, darunter am
06.03.2007 auch der Kläger. Dabei ist das Gericht im Fall des Kläges von dem
historischen Sachverständigen Dr. U vor Ort durch ergänzende Fragen unterstützt
worden. Die zu allen Terminen ordnungsgemäß geladene Beklagte ist den Anhörungen
ferngeblieben; sie hat gemeint, für die Kläger bestehe die Gefahr von
Überforderungssituationen; zudem sei ihren Terminvertetern die Teilnahme an den
Anhörungen in Israel nicht zumutbar.
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Der Kläger hat im Wesentlichen auf Befragen des Berichterstatters, des
Sachverständigen sowie seiner Bevollmächtigten im Termin Folgendes erklärt:
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"Ich bin 17 Jahre alt gewesen, als ich ins Ghetto kam. Ich habe im August sofort nach
Schließung des Ghettos, als der Zaun gezogen wurde, angefangen zu arbeiten. Ich war
der einzige Mann in der Familie. Ich hatte noch 2 Schwestern. Eine war sehr schwer
krank und musste oft versteckt werden, außerdem meine Mutter. Ich musste mich um
den Unterhalt kümmern. Mein Vater arbeitete in L in einer Mühle. Von dort ist er nach
Kasachstan geflohen. Ich war der Mann, der die Familie ernähren musste. Ich war 17
Jahre alt, das kann man mit einem heute 17jährigen gar nicht vergleichen. Zunächst
habe ich in einem Kleiderlager gearbeitet, bei der Jordanbrigade. In Kaunas gab es
zwei große Kirchen mit einem sehr hohen Dach. Sie waren voller Kleidungsstücke. Wir
mussten auswählen zwischen guten und schlechten Kleidungsstücken, die dann nach
Deutschland geschickt wurden. So habe ich gearbeitet. Wir wurden während der Arbeit
25
nicht bewacht, sondern waren frei. Wir sind zu Fuß zur Arbeit gegangen ca. 1 km. Es
gab einen Gruppenführer. Der Gruppenführer war ein kleiner von uns, der sehr gut
deutsch sprach. Den haben sie dann zum Gruppenführer gemacht. Wir gingen dann zu
Fuß zum Kleiderlager ohne Bewachung. Der Gruppenführer hatte dafür besondere
Papiere. Dort habe ich dann ca. 1 Jahr 10 - 11 Monate gearbeitet. Genau erinnere ich
mich nicht.
Wie bin ich an die Arbeit in der Jordanbrigade gekommen? Es gab einen SA-Mann oder
SS-Mann am Tor des Ghettos. Dort wurden 10 Freiwillige gesucht. Ich war Teil dieser
10. Wir wurden dann zu einer großen Kirche gebracht und uns wurde gesagt, was zu tun
sei. An uns direkt konnte sich niemand wenden. Das ging über das Arbeitsamt. Dort hat
man 10 Leute gesucht. Ob ich freiwillig zum Arbeitsamt gegangen bin: Das Arbeitsamt
hat um 10 Leute gebeten. Einige hatten Angst, aber ich bin hingegangen. Es kamen
Leute zum Arbeitsamt und das Arbeitsamt hat dann vermittelt. Bei mir waren es 10.
Manchmal waren es 10, 12, 15, die angefordert wurden und die dann in Gruppen jeden
Morgen zur Arbeit gehen mussten. Das Arbeitsamt lag neben dem Ghettotor. Sein Leiter
hieß N. Dann gab es noch einen Polizisten B. Das waren alles Juden. Im Ghetto gab es
nur Juden. Es gab keine Deutschen. Ich habe den Jordan selbst bei der Arbeit gesehen.
Er war ein hoher "schöner Junge". Da war auch noch jemand mit Namen Q. Der war
jeden Tag mit uns. Was ich für die Arbeit bekommen habe: Wir haben Coupons
bekommen. Das war gut für uns. Die habe ich der Mutter gegeben. Soweit ich mich
erinnern kann, habe wir die Coupons einmal pro Woche vom Judenrat bekommen. Was
drauf war: Brot 100 g pro Person und Kartoffeln faule nicht richtige Kartoffeln wie sie
sein sollten. Außerdem gab es Suppenpulver um so Suppe zu machen. Kleider durfte
ich mir nicht selber nehmen, das war "verboten"! Wenn wir dabei erwischt worden
wären, wären wir ermordet und getötet worden. Diese Sachen gehörten uns nicht: Die,
die nicht gearbeitet haben, haben keine Coupons erhalten, soweit ich mich erinnern
kann. Aber ich habe mich um meine Arbeit gekümmert. Ich war froh, dass ich Essen für
die Familie besorgen konnte. Die eine Schwester war 15 Jahre alt, die ältere war sehr
krank. Wir mussten sie verstecken, damit sich nicht geholt wurde.
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Wir mussten uns mit dem begnügen, was wir bekamen. Der Norm entsprechend 100 g
Brot pro Kopf. Nein, das reichte nicht. Außer Coupons habe ich kein Bargeld erhalten.
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Es gab besondere Stellen im Ghetto, wo die Mutter die Coupons hinbrachte und im
Gegenzug Essen bekam. Die Coupons wurden außerhalb des Ghettos nicht anerkannt.
Nur im Ghetto. Ob man im Ghetto gegen Coupons z. B. Schuhe eintauschen konnte,
habe ich nicht gesehen. Ich habe mich damit nicht befasst. Ich war bei der Arbeit, und
mit Essenbeschaffung war die Mutter beschäftigt. Ich hatte keine Zeit Vergleiche zu
anderen, die nicht arbeiteten, anzustellen. Ich musste ein bis zwei Mal pro Woche auch
nachts Wache halten in dem Kleiderlager. Am Arbeitsort bekamen wir keine
Verpflegung, nein. Wir hatten auch nichts, was wir zur Arbeit mitnehmen konnten.
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Später, als die Flak Arbeiter suchte - professionelle Fachkräfte - habe ich dort als
Schweißer und Schlosser gearbeitet. Ich habe auch diese Arbeit über das Arbeitsamt
bekommen. Die Inhaber der Flak haben Fachkräfte gesucht und da habe ich mich
gemeldet. Ich habe bei der Flak keine Wehrmacht gesehen, nur einen Deutschen, einen
sehr großen Elektriker und Ukrainer. Ob es eine Firma oder die Wehrmacht war, dazu
kann ich nichts sagen. Vorher, als die Russen noch da waren, hatte ich in einer kleinen
Fabrik in Litauen als Schlosser bzw. als Schweißer gearbeitet. Zur Flak sind wir mit dem
Lastwagen gebracht worden. Die Flak war nicht auf dem Gelände des Flughafens
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Anexotas. Sie gehörte nicht dazu, sondern sie war in einer besonderen Fabrik
untergebracht, außerhalb des Geländes. Es gab keine deutschen Wachen. Es waren
russische Flugabwehrgeschütze, die wir passend für die deutsche Norm machen
mussten. Ich habe dort Schweißarbeiten gemacht. Ich habe in der dortigen Zeit erst
autogen geschweißt und dann später elektrisches Schweißen gelernt. Dazu kam ein
hervorragender Fachmann aus Deutschland, der mich angelernt hat. Ungefähr 1 bis 1 ½
Monate. Danach habe ich alles repariert, was kaputt war und auf die deutschen Normen
abgestimmt. Es gab auch Skizzen. Dort arbeiteten ungefähr 20 bis 25 Menschen.
Bei der Flak bekam ich manchmal - wirklich nur manchmal - und wenn der Deutsche
geprüft hatte, ob alles in Ordnung war, vom Fahrer Zigaretten oder auch einmal ein
Sandwich. Die Coupons habe ich der Mutter weiter gegeben. Wenn ich ein Sandwich
bekam, war ich froh, dann konnte ich der Familie mehr Essen geben. Auf den Coupons
waren 100 g Brot und Pulver für die Suppe.
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Die Arbeit bei der Flak und bei der Jordanbrigade habe ich gegenüber der JCC nicht
angegeben, weil diese Fragen nicht gestellt wurden. Hier wurden andere Fragen
gestellt, nach meiner Familie, wie ich ins Ghetto gekommen bin, wie alt ich war. Das dort
von der Arbeit auf dem Flughafen Alexotas bis Januar 1942 die Rede ist, verstehe ich
nicht. Ich war in Alexotas nur 2 bis 3 Tage.
31
Meine Mutter ist später in Deutschland verhungert, zusammen mit meiner Schwester.
Das war zwei Tage vor der Befreiung in Stutthoff. Das habe ich von einer Angehörigen
gehört. Die Schwester, die jünger war, kam dann über Deutschland nach Amerika. Sie
war damals 14. Sie kann sich an nichts mehr erinnern. Sie weiß nur, dass ich die
Coupons besorgt habe. Sie hat nicht gearbeitet, dafür war sie damals zu jung. Ich bin
dann zurück nach Kaunas gekommen. Mein Vater kam erst in den 60er Jahren aus
Kasachstan nach Kaunas zurück. Er hat mich dann an meinem Muttermal am Hals von
hinten erkannt. Wir dachten, dass mein Vater tot und bei Kriegsbeginn gestorben sei.
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Ich bedaure, dass ich mich an das alles erinnern muss, was ich verdrängen wollte. Ich
habe den Kindern möglichst nichts erzählt. Ich versuche die Dinge zu verdrängen. Ich
kann nur sagen, ich bin 82 Jahre alt. Viel bleibt mir nicht mehr."
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Der Sachverständige hat erklärt, dass er keine Zweifel an der Glaubhaftigkeit der vom
Kläger bekundeten Umstände habe. Der Berichterstatter hat zu Protokoll gegeben, dass
der Kläger nach dem in dem Termin gewonnenen persönlichen Eindruck glaubwürdig
sei.
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Die Anhörung des Klägers ist im Einverständnis mit allen im Termin Anwesenden durch
eine Videokamera aufgezeichnet worden.
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Im Verhandlungstermin vom 04.07.2007 hat der erkennende Senat die
Videoaufzeichnung der Anhörung des Klägers vollständig in Augenschein genommen.
36
Wegen der weiteren Einzelheiten des Beteiligtenvorbringens und des
Beweisergebnisses wird auf die Sitzungsniederschriften des erkennenden Senats, die
eingeholten Sachverständigengutachten, die Gerichtsakte mit Anlagen, die
Verwaltungsvorgänge der Beklagten, sowie auf die Videoaufzeichnung der Anhörung
des Klägers verwiesen, die sämtlich Gegenstand der mündlichen Verhandlung
gewesen sind.
37
Entscheidungsgründe:
38
Die zulässige Berufung ist unbegründet. Die angefochtenen und vom SG bestätigten
Bescheide der Beklagten erweisen sich nach der Gesamtwürdigung der gerichtlichen
Ermittlungen sowie des Beteiligtenvorbrigens im Berufungsverfahren im Ergebnis nicht
als rechtswidrig. Sie beschweren den Kläger daher nicht i.S.d. § 54 Abs. 2
Sozialgerichtsgesetz (SGG) in seinen sozialen Rechten. Für einen Rentenanspruch auf
Grundlage der §§ 1 bis 3 ZRBG fehlt es am Erfordernis der Entgeltlichkeit. Dabei geht
der Senat für die Auslegung der vorgenannten Vorschriften von den unter A.
dargelegten Kriterien aus. Die zur zu diesen Voraussetzungen im Einzelfall des Klägers
getroffenen Feststellungen beruhen auf der tatrichterlichen Würdigung aller Umstände
des Einzelfalles durch den erkennenden Senat (hierzu unter B). Einwände gegen eine
Aufklärung des Sachverhalts auf Basis der persönlichen Anhörung des Klägers
besttanden nicht (dazu unter C).
39
A.
40
I. Der erkennende Senat hält im Kern an der vom 13. Senat des BSG im Urteil vom 7.
Oktober 2004 - B 13 RJ 59/03 - vertretenen Auffassung fest, dass es sich bei den
Vorschriften der §§ 1 bis 3 ZRBG um Bestimmungen handelt, die auf dem Boden der bis
zum Jahr 2002 ergangenen sogenannten Ghettorechtsprechung des 5. und 13. Senats
des BSG stehen und die das bis dahin in Kraft befindliche Rentenrecht einschließlich
des Fremdrentengesetzes (FRG) und des Gesetzes zur Wiedergutmachung
nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG) ergänzen und nur
teilweise verdrängen. Der Auffassung des 4. Senats im Urteil vom 14. Dezember 2006 -
B 4 R 29/06 R - Rn 104 - , als Entgelt i.S.d. § 1 Abs. 1 Nr. 1b ZRBG genüge jede
Zuwendung wegen geleisteter Arbeit, unabhängig von ihrer Art oder Höhe, vermag der
erkennende Senat nicht beizutreten. Soweit der 4. Senat des BSG (aaO Rn 102)
ausführt, das Nichtvorliegen von Zwangsarbeit sei keine Tatbestandsvoraussetzung des
§ 1 ZRBG, folgt der erkennende Senat dem nicht. Das gilt auch für die Annahme des 4.
Senats (aaO Rn 50 und 65), dass nach § 1 Abs. 3 ZRBG die Entstehung eines Rechts
auf Altersrente, soweit sie auf der gleichgestellten Vorleistung von Ghettobeitragszeiten
i.S.d. ZRBG beruht, die Erfüllung einer allgemeinen Wartezeit von 60 Monaten nicht
voraussetzt (dazu unter II.).
41
Im Übrigen legt der erkennende Senat hinsichtlich der Auslegung der Begriffe
"Zwangsarbeit", "Ghetto" und "Beschäftigung aus eigenem Willen" Folgendes
zugrunde:
42
1. Um ein "Ghetto" im Sinne des § 1 ZRBG handelt es sich jedenfalls bei solchen
Wohnbezirken, in denen Juden durch eine Aufenthaltsbeschränkung vollständig und
nachhaltig durch die Androhung schwerster Strafen oder durch Gewaltmaßnahmen von
der Umwelt abgesondert wurden und die sich in einem Gebiet befanden, das rechtlich
als vom Deutschen Reich besetzt oder diesem eingegliedert zu qualifizieren ist, womit
der faktische Herrschaftsbereich des NS-Staates gemeint ist. Es kann hier dahingestellt
bleiben, ob auch ein sogenanntes "offenes" Ghetto unter den Ghetto-Begriff i.S.d. § 1
ZRBG fällt. Denn auf den Unterschied zwischen "offenem" und "geschlossenen" Ghetto
kommt es im Fall des Klägers rechtlich nicht an. Vielmehr lässt sich aus den unter B.
dargelegten Gründen feststellen, dass er in seiner Zeit in Kaunas in einem
"geschlossenen" Ghetto war (eingehend zum Problemkreis des Ghettobegriffs: LSG
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NRW, Urteil v. 1. September 2006 - L 14 R 41/05; Urteil v. 15. Dezember 2006 - L 13 RJ
112/04 - mit anhängiger Revision - B 5 R 12/07 R -).
2. "Beschäftigung" i.S.d. § 1 ZRBG ist jede nicht selbständige Arbeit. Das Bestehen
eines Arbeitsverhältnisses ist nicht notwendig. Anhaltspunkte sind eine von Weisungen
eines anderen hinsichtlich Zeit, Ort, Dauer, Inhalt oder Gestaltung abhängige Tätigkeit
sowie eine gewisse funktionale Eingliederung in die Arbeitsorganisation des
Unternehmens oder Weisungsgebers, wobei die tatsächlichen Umstände des
Einzelfalls und das sich daraus ergebende Gesamtbild der ausgeübten Tätigkeit
maßgeblich sind. Auch Arbeiten und Dienstleistungen, die außerhalb des räumlichen
Bereichs eines Ghettos verrichtet wurden, werden dabei vom ZRBG erfasst, wenn sie
Ausfluss der Beschäftigung im Ghetto waren (4. Senat des BSG a.a.O. Rn. 99 mit
Hinweis auf Bundestagsplenarprotokoll 14233 vom 25. April 2002, 23281). Die Arbeit
muss dem Verfolgten lediglich von einem Unternehmer oder einer Ghettoautorität mit
Sitz im Ghetto (z.B. dem örtlichen Judenrat) angeboten oder ähnlich einer
Arbeitnehmerüberlassung oder einer Arbeitsvermittlung zugewiesen worden sein. Eine
direkte Rechtsbeziehung mit unmittelbarem Entgeltzufluss zwischen einer deutschen
Dienststelle und den betroffenen Ghettobewohnern ist daher nicht erforderlich.
44
3. Eine freiwillige Beschäftigung "aus eigenem Willen" scheidet dann aus, wenn der
Arbeitende von hoher Hand unter Ausschluss jeder freien Willensbetätigung zur Arbeit
gezwungen wurde, z.B. bei Strafgefangenen oder KZ-Häftlingen. Ein eigener
Willensentschluss i.S.d. ZRBG liegt demgegenüber vor, wenn die Arbeit vor dem
Hintergrund der wirklichen Lebenslage im Ghetto jedenfalls auch noch auf einer wenn
auch auf das Elementarste reduzierten Wahl zwischen wenigstens zwei
Verhaltensmöglichkeiten beruhte. Solange NS-Verfolgte hinsichtlich des
Zustandekommens und/oder der Durchführung der zugewiesenen angebotenen
Arbeiten noch eine gewisse Dispositionsbefugnis hatten, sie also die Annahme
und/oder Ausführung der Arbeiten gegenüber dem, der sie ihnen zuwies, auch ohne
unmittelbare Gefahr für Leib, Leben und ihre Restfreiheit ablehnen konnten, liegt keine
Unfreiwilligkeit vor, auch dann nicht, wenn sie deshalb mangels eines Entgelts weniger
oder nichts mehr zu Essen hatten. Gleiches gilt für eine nur den Zwangsaufenthalt im
Ghetto aufrecht erhaltende, also vor allem eine fluchtverhindernde Bewachung bei
Beschäftigungen außerhalb des räumlichen Ghettobereichs (vgl. 4. Senat des BSG aaO
Rn 102 mwN).
45
II. Nach wie vor erachtet der erkennende Senat indes zur Anwendung des ZRBG die
Abgrenzung von der Zwangsarbeit nach dem sozialversicherungsrechtlichen Typus des
Beschäftigungsverhältnisses für geboten. Dazu ist nicht nur auf den Grad der
Freiwilligkeit abzustellen, sondern auch auf eine von Zwangsarbeitsbedingungen
deutlich unterscheidbare Entgelthöhe. Der erkennende Senat gründet diese Auslegung
auf die Erkenntnis, dass der Gesetzgeber mit dem ZRBG trotz des Betretens von
Neuland in der rentenrechtlichen Tradition der durch die BSG-Urteile des Jahres 1997
vorgezeichneten Ghetto-Rechtsprechung geblieben ist und an der Differenzierung
zwischen Zwangsarbeit und Beschäftigung im sozialversicherungsrechtlichen Sinne
festhält (hierzu unter 1.). Der Senat sieht sich jedoch aufgrund neuer historischer
Erkenntnisse gehalten, seine bisherige Rechtsprechung zur Feststellung einer für die
Anwendung des ZRBG ausreichenden Höhe des Entgelts zu modifizieren und stellt
dazu - als Hilfstatsache bei Beweisnot - nunmehr auch auf die Frage ab, ob das im
Ghetto erhaltene Entgelt objektiv dazu ausreichte, neben dem Arbeitenden selbst auch
weitere Menschen über einen erheblichen Zeitraum zu ernähren oder hierzu einen
46
entscheidenden Beitrag zu leisten (hierzu unter 2.). Im Übrigen setzt auch ein
Rentenanspruch nach dem ZRBG die Erfüllung der allgemeinen Wartezeit von 60
Monaten voraus, nicht aber die Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis
(hierzu unter 3.).
1. Die grundsätzliche Fortgeltung der sogenannten Ghettorechtsprechung des BSG
(Urteile vom 18. Juni 1997 - 5 RJ 66/95 -; 21. April 1999 - B 5 RJ 48/98 R -; 14. Juli 1999
- B 13 RJ 61/98 R) für die Auslegung des ZRBG ergibt sich aus der
Gesetzesbegründung (Bundestagsdrucksachen - BT-Drs. - 14/8583 Seiten 1, 5 und
14/8602 Seiten 1, 5), die ausdrücklich auf diese Urteile Bezug nimmt, sowie aus dem
Wortlaut der gesetzlichen Überschrift ("Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten ...") (
ebenso LSG NRW, Urteil v. 7. Mai 2007 - L 3 R 34/07). Zudem vertraten in der
Bundestagsdebatte alle Fraktionen des Deutschen Bundestages die Auffassung, das
ZRGB schließe eine rentenrechtliche Lücke für den besonderen Personenkreis der
Ghettoüberlebenden (BT-Plenarprotokoll 13/233; 23279 ff). Für die hier vertretene
Auffassung spricht darüber hinaus der systematische Zusammenhang zu dem auch vom
4. Senat des BSG genannten Stiftungsgesetz, vor allem dessen § 16 Abs. 2 Satz 1, der
ausdrücklich bestimmt, dass mit Beantragung der dortigen Leistungen durch Erklärung
auf jede darüber hinaus gehende Geltendmachung von Forderungen für Zwangsarbeit
gegen die öffentliche Hand unwiderruflich verzichtet werde, während gemäß § 16 Abs. 3
Stiftungsgesetz weitergehende Ansprüche gegen die öffentliche Hand unberührt
bleiben. Hieraus hat der erkennende Senat mit rechtskräftigem Urteil vom 29. Juni 2005
- L 8 RJ 97/02 - die Notwendigkeit der Abgrenzung von Zwangsarbeit (zu entschädigen
nach dem Stiftungsgesetz) und entgeltlicher Arbeit i.S.d ZRBG abgeleitet. Die
Rentenversicherungsträger sind diesem Urteil auch bundesweit gefolgt. Der Senat hält
an dieser Entscheidung fest. Schließlich sind auch die außerhalb des Rentenrechts
bestehenden allgemeinen entschädigungsrechtlichen Bestimmungen des BEG für die
im Ghetto erlittene Freiheitsentziehung und Gesundheitsbeschädigung durch Hunger
und Misshandlung als Beleg heranzuziehen, insbesondere § 43 Abs. 3 BEG, der
Zwangsarbeit unter haftähnlichen Bedingungen der Freiheitsentziehung gleichachtet
(hierzu Bundesgerichtshof - BGH -, Urteil v. 25. Juni 1970 - IX 241/67 - mwN). Wären
Ansprüche nach dem ZRBG demgegenüber, entsprechend dem Verständnis des 4.
Senats des BSG, unabhängig vom Vorliegen oder Nichtvorliegen von Zwangsarbeit und
einer deren Bedingungen typischerweise deutlich übersteigenden Entgelthöhe zu
gewähren, so würde sich in der Tat die auch vom 4. Senat am Ende seiner
Entscheidung (Rn 118) aufgeworfene Verfassungsfrage stellen, warum nicht auch alle
anderen Gruppen von Zwangsarbeitern, also auch solchen, die nicht in einem Ghetto
leben mussten, Anspruchsberechtigte dieser Leistung sein sollen. Eine generelle
Entschädigung aller im 2. Weltkrieg zur Arbeit für Deutschland gezwungenen
Kriegsopfer würde jedoch deutlich über den im ZRBG erklärten gesetzgeberischen
Willen hinausgehen. Bisheriger außen- und staatspolitischer Praxis der Bundesrepublik
Deutschland folgend ist eine solche generelle Reparationsregelung vielmehr in allen
völkerrechtlichen Verträgen zur Regelung der Folgen des 2. Weltkrieges, angefangen
vom Londoner Schuldenabkommen vom 27. Februar 1953 - BGBl Teil II 331 - in Art 5
Abs. 2 bis hin zum Zwei-plus-Vier-Vertrag vom 12. September 1990- BGBl Teil II 1317 -,
bei der Wiedervereinigung Deutschlands vermieden worden (vgl. Bericht der
Bundesregierung über Wiedergutmachung und Entschädigung für
nationalsozialistisches Unrecht - BT-Drs. 10/6287, S. 8 ff, s. auch § 1 Abs. 1 des
Allgemeinen Kriegsfolgengesetzes - AKG - aus dem Jahr 1957 - BGBl Teil I 1745,
hierzu Pagenkopf AKG 1958, Einführung und Art 1 Anmerkung 1 ff). Eine Änderung
dieser Grundentscheidung hätte außerordentlich weitreichende staats-, außen- und
47
haushaltspolitische Konsequenzen und hätte, wenn sie mit dem ZRBG hätte bewirkt
werden sollen, klaren Ausdruck im Gesetz finden müssen. Auch das
Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat den in dieser Frage bestehenden
außerordentlich weiten politischen Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers
ausdrücklich anerkannt (Beschluss des 2. Senats vom 13. Mai 1996 - 2 BvL 33/93 -;
allgemein zu den Auslegungsgrenzen: BVerfGE 11, 16, 130)). Zu einer mittelbaren
Änderung der in der Gesetzgebung zum ZRBG getroffenen politischen
Grundentscheidung sieht der erkennende Senat die Rechtsprechung als dem Gesetz
unterworfene Gewalt gemäß Artikel 20 Abs. 3 und Artikel 97 Abs. 1 Grundgesetz (GG)
iVm § 31 Sozialgesetzbuch Erstes Buch (SGB I) daher nicht befugt (so auch 13. Senat
des BSG, Urteil v. 7. Oktober 2004, aaO Rn 44).
2. Unabhängig davon gibt das Urteil des 4. Senats des BSG vor dem Hintergrund neuer
historischer Erkenntnisse Anlass, die bisherige Rechtsprechung zum Entgeltbegriff des
ZRBG zu modifizieren. Nach dieser Rechtsprechung war festzustellen, zur Zuteilung
welcher genauen Mengen welcher Nahrungsmittel die Coupons im jeweiligen Ghetto
berechtigten und welchen Gegenwert diese Dinge damals besaßen. Es hat sich in der
(den Beteiligten des Verfahrens bekannten) Praxis der jüngsten Beweiserhebungen des
erkennenden Senats zu den Gebieten des Baltikums, Polens und der Ukraine im 2.
Weltkrieg gezeigt, dass diese Umstände für die allermeisten Überlebenden nach so
langer Zeit nicht erinnerbar und auch historisch kaum aufklärbar sind, zumal sich daran
weitere ungeklärte Fragen anschließen, wie etwa, ob für den Wert von Lebensmitteln
auf offiziell von deutscher Seite festgelegte Preise oder die real auf dem (schwarzen)
Markt in Ghettos geltenden Tauschrelationen abzustellen ist. Letzteres konnte und kann
indes zur Überzeugung des erkennenden Senats schon deswegen kein tragfähiger
Maßstab sein, weil es sich damit um weitere außerhalb des eigentlichen
Beschäftigungsverhältnisses liegende Umstände handelt, die täglich schwanken
konnten und von individuellen Zufällen geprägt waren.
48
Die Anerkennung eines ZRBG-Anspruchs hing damit davon ab, ob die jeweiligen
lokalen NS-Machthaber in Ghettos oder besetzten Gebieten in irgendeiner Form
"ortsübliche Löhne" festsetzten oder nicht. Nur im Ghetto Lodz, das sowohl dem BSG in
seiner Ghettorechtsprechung wie auch dem Deutschen Bundestag bei Verabschiedung
des im Anschluss an diese Rechtsprechung ergangenen ZRBG vor Augen stand, galt
nämlich wegen - zwar völkerrechtswidriger (so schon v. Moltke 1940 unter Hinweis auf
die Haager Landkriegsordnung in: Sitzung der Sektion Völkerrecht der Akademie für
deutsches Recht, Diskussionsprotokoll, Bundesarchiv Berlin/Koblenz R 61/360; ferner
Ipsen, Völkerrecht, 5. Auflage 2004, § 23 Rn 42 ff), aber formal-juristisch wirksamer
Annexion der westlichen Teile der Republik Polen durch das Deutsche Reich die RVO
(Ostgebiete-Verordnung v. 22. Dezember 1941 - Reichsgesetzblatt Teil I 777) und damit
auch die §§ 1227 bzw. 1228 RVO, auf denen die o.g. Einschränkungen beruhen.
49
Für die außerhalb des ("groß"-) deutschen Reichsgebiets liegenden besetzten Gebiete
ergibt sich demgegenüber nach den neuesten auch den Beteiligten bekannten
historischen Erkenntnissen des erkennenden Senats sowohl nach den
unterschiedlichen Phasen und Orten des Kriegs- sowie Besatzungsverlaufs als auch
den verschiedenen im NS-Staat willkürlich miteinander rivalisierenden NS- und
Militärorganisationen (Wehrmacht, Rüstungsindustrie, Organisation Todt, SS, SA,
Einzelpersonen- und Firmen etc.) ein von reinen Zufällen und gravierenden inneren
Widersprüchen gekennzeichnetes Bild über die Festsetzung der örtlichen Löhne sowohl
für die nicht-jüdische Bevölkerung als auch für die dort verfolgten Juden. "Recht" war
50
das, was örtliche NS-Machthaber als Lohn oder Ration in Ghettos verordneten, ohnehin
in keinem Fall (grundlegend: Radbruch, Gesetzliches Unrecht und überpositives Recht,
in: Süddeutsche Juristenzeitung 1946, 105 ff unter III.; vgl. auch 4. Senat des BSG aaO
Rn 109, 114). Die aus heutiger Sicht gebotene wenigstens nachträglich gleiche
Anwendung vergleichbarer Maßstäbe für vergleichbare Umstände darf von diesem
willkürverzerrten Verhalten lokaler NS-Stellen nicht abhängig sein. Dies verkennt die
sogenannte Anspruchstheorie, nach der die Anwendung des ZRBG - unabhängig von
der tatsächlichen Gewährung von Entgelt - allein von einem hierauf theoretisch
bestehenden Rechtsanspruch abhängen soll (dagegen schon Urteil des erkennenden
Senats - L 8 R 249/05 -).
Zudem geht der Senat davon aus, dass der Deutsche Bundestag bei Erlass des ZRBG
nicht ernstlich gewollt haben kann, dass für die Anwendung dieses Gesetzes durch
Verwaltung und Rechtsprechung zu Lasten der Betroffenen so hohe Nachweishürden
für die Entgeltlichkeit der Tätigkeit aufgestellt würden, dass für die Überlebenden, die im
Regelfall über keinerlei Dokumente aus der damaligen Zeit verfügen, ein Nachweis der
entgeltlichen Beschäftigung praktisch unmöglich gemacht wird (vgl. auch § 2 Abs. 2, 2.
Halbsatz SGB I). Dem deutschen Bundestag konnte bei Erlass des ZRBG der neueste
historische Befund allerdings noch nicht bekannt sein, weil die historische Forschung zu
den Ghettos des 2. Weltkrieges im Jahr 2002 erst am Anfang stand und sich seit der
Öffnung der Archive in den Staaten des ehemaligen Ostblocks seit Ende der 90er Jahre
des vergangenen Jahrhunderts im Umbruch befindet (vgl. auch BT-Drs. 15/1476 zu den
bei Erlass des ZRBG fehlenden Möglichkeiten die Zahl der Anträge und ihre Ergebnisse
zu prognostizieren).
51
Damit ergab sich für den erkennenden Senat das Erfordernis, ein neues vor Gericht
noch heute objektiv überprüfbares aber auch regelmäßig nachweis- und erinnerbares
Kriterium zu finden, welches die Unterscheidbarkeit von reiner Zwangsarbeit einerseits
und freiwilliger entgeltlicher Tätigkeit andererseits mit dem für die Glaubhaftmachung
gebotenen Gewissheitsgrad richterlicher Überzeugungsbildung ermöglicht. Für nicht
ausreichend hält der Senat dabei nach wie vor die bloße Versorgung des Betroffenen
mit Nahrungsmitteln selbst, selbst wenn diese Ernährung besser war und im Ghetto u.U.
größere Überlebenschancen bot (wie im durch den 13. Senat des BSG am 7.Oktober
2004 entschiedenen Fall, dem tatsächliche Feststellungen des erkennenden Senats
zugrunde lagen). Das gilt auch, wenn die Nahrungsmittel objektiv nur dazu geeignet
waren, den mit der Arbeit verbundenen Kalorienmehrbedarf zu decken (so auch LSG
NRW, Urteil v. 8. Dezember 2006 - L 13 R 144/06). Denn die Ernährung zum Zwecke
des Erhalts der eigenen Arbeitskraft ist ein Umstand, der in gleicher Weise für
Zwangsarbeit typisch ist - schon aus dem reinen Eigeninteresse desjenigen, der die
Arbeitskraft der Zwangsarbeiter für sich ausbeutet. Einen deutlichen Unterschied sieht
der Senat jedoch dann als hinreichend glaubhaft gemacht an, wenn das Maß des
empfangenen Entgelts - unabhängig davon, ob in Form von Bargeld, Coupons oder
Naturalien gewährt - objektiv bewertet dazu ausreichte, um nicht nur den Arbeitenden
selbst, sondern mindestens eine weitere Person für einen erheblichen Zeitraum zu
ernähren oder hierzu einen entscheidenden Beitrag zu leisten, und sei es nur auf dem
im Ghetto allgemein herrschenden außerordentlich niedrigen Ernährungsniveau. Denn
die Möglichkeit zur Mitversorgung weiterer Angehöriger ist auch nach dem historischen
Befund, nach den wirtschaftlichen Bedingungen wie auch im Erleben der Opfer ein
grundlegender Unterschied zu der für echte Zwangsarbeit charakteristischen totalen
Ausbeutung, wie sie in den Zwangsarbeiterlagern und dann noch später bei der
Vernichtung durch Arbeit in den Konzentrationslagern stattfand. Ob dieses Kriterium der
52
objektiven Eignung zur Mitversorgung von Angehörigen jeweils gegeben war oder nicht,
ist nach den tatrichterlichen Erfahrungen des erkennenden Senats, der sich insoweit
nicht nur auf eine langjährige Praxis und eine Vielzahl von Fällen, sondern auch auf die
durch den Berichterstatter in den persönlichen Anhörungen von NS-Opfern in Israel
gewonnenen Erkenntnisse stützen kann, praktisch allen Überlebenden der Ghettos,
soweit sie heute noch verhandlungsfähig sind, erinnerlich. Denn dieses Kriterium betrifft
in aller Regel die nächste eigene Familie, deren Schicksal am intensivsten erlebt wurde.
3. Im Übrigen bleibt es für die Rechtsanwendung des ZRBG bei dem allgemeinen
rentenrechtlichen Erfordernis der allgemeinen Wartezeit von 60 Monaten gemäß §§ 35
Nr. 2, 50 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI). Entsprechend
hat der erkennende Senat seine Entscheidung daher als Grundurteil tenoriert. Die
Vorschrift des § 1 Abs. 3 ZRBG, die der 4. Senat hier als generelle Regel zitiert, betrifft
nämlich nur den auch im Verhältnis zu Israel eingreifenden speziellen Fall, dass
zwischen- oder überstaatliches Recht Sonderregeln zur Mindestanzahl an
rentenrechtlichen Zeiten trifft (sog. Kleinstzeitenregeln). Ohne diesen Ausschluss des §
1 Abs. 3 ZRBG wären Rentenzeiten von weniger als 12 Monaten (im Verhältnis zu
Israel) bzw. von 18 Monaten (im Verhältnis zu den USA) durch den anderen Staat
abzugelten (BT-Drs. 14/8583). Der vom 4. Senat des BSG insoweit ergänzend genannte
§ 3 Abs. 2 ZRBG regelt ebenfalls etwas anderes, nämlich die Frage des
Zugangsfaktors, die aber für die Grundvoraussetzungen der Wartezeit nicht relevant ist.
In der Praxis liegt darin indes für die Anwendung des ZRBG zugunsten der Berechtigten
keine erhebliche Hürde. Fehlende Zeiten können danach nämlich durch das Recht zur
freiwilligen Weiterversicherung gemäß § 7 SGB VI über nachträgliche Annahme von
Beiträgen seitens der Beklagten gemäß §§ 197 Abs. 3, 198 Satz 1 SGB VI iVm Art 2
Abs. 1, Art 3 Abs. 1 a) und Art 4 Abs. 1 Satz 1 des Deutsch-Israelischen
Sozialversicherungsabkommens (DISVA) vom 17. Dezember 1973 - BGBl. Teil II 246,
443 - in der Fassung des Änderungsabkommens vom 7. Januar 1986 - BGBl Teil II 863,
1099 -, das in Israel lebende israelische Staatsangehörige mit deutschen Versicherten
in Deutschland gleichstellt, ausgeglichen werden. Diese Rechtsfolgen haben
Rückwirkung bis zum frühestmöglichen Rentenbeginn nach dem ZRBG, d.h. bis zum 1.
Juli 1997 (näher hierzu zuletzt Senatsurteil vom 23. Mai 2007 - L 8 R 28/07 - mwN).
53
Anderes gilt freilich für das Erfordernis des deutschen Sprach- und Kulturkreises (dSK),
das im ZRBG ausdrücklich aufgegeben ist und das sich auch nicht aus den allgemeinen
Bestimmungen des FRG bzw. des WGSVG in das ZRBG "hineininterpretieren" lässt,
wie der 4. Senat des BSG aaO (Rn 105 ff, 114) zutreffend dargelegt hat. Eine solche
einschränkende Auslegung würde nämlich dem ursprünglichen Gesetzeszweck
zuwiderlaufen (so auch die Stellungnahme der Bundesregierung zu dieser Frage - BT-
Drs. 16/5720).
54
B.
55
Die nach den unter A. ausgeführten rechtlichen Voraussetzungen sind im Fall des
Klägers nicht erfüllt. Denn die dazu erforderliche Entgeltlicheit der Arbeit lässt sich
aufgrund richterlicher Beweiswürdigung des Gesamtergebnisses des Verfahrens gemäß
§§ 128, 202 SGG iVm § 294 der Zivilprozessordnung (ZPO) nicht als glaubhaft gemacht
bzw. überwiegend wahrscheinlich i.S.d. § 3 WGSVG und § 4 FRG festellen.
56
1. Zwar bestand im streitbefangenen Zeitraum in Kaunas ein geschlossenes Ghetto.
57
2. Der Kläger war während des streitbefangenen Zeitraums bei dem örtlichen Judenrat,
also einer "Ghettoautorität" im Sinne des § 1 ZRBG beschäftigt. Er war auch in dessen
"Betrieb", der durch die systematische Vermittlung von Arbeitskräften an deutsche
Bedarfsträger, so unter anderem das Bekleidungslager bzw. die "Jordan-Brigade" und
die Reperaturwerkstatt der Flak, im notwendigen Umfang organisatorisch eingegliedert.
Auf die Existenz eines etwaigen arbeitsrechtlichen Verhältnisses zu den deutschen
Bedarfsträgern oder auch zum Judenrat kommt es nach der oben genannten
Rechtsprechung nicht an. Die erforderliche gewisse Dauerhaftigkeit seiner
Eingliederung ergibt sich für den Kläger schon daraus, dass er für seine Tätigkeiten
auch angelernt wurde, so insbesondere für die Arbeit bei der FLAK durch den von ihm
noch erinnerten deutschen Vorarbeiter.
58
3. Die Beschäftigung hat der Kläger aus eigenem Willensentschluss (§ 1 Abs. 1 Satz 1
Nr. 1 Buchst. a) ZRBG) ausgeübt, denn er hat sich nach seinen glaubhaften
Bekundungen bei der persönlichen Anhörung selbst beim örtlichen Judenrat um die
Arbeit bemüht, um so für den Familienunterhalt etwas verdienen zu können. Hinweise
darauf, dass der Kläger unter Bedrohung für Leib oder Leben unmittelbar zur Arbeit
gezwungen wurde, gibt es nicht. Auch eine Bewachung bei der Arbeit, die als Indiz für
eine Unfreiwilligkeit zu werten wäre, hat es nach den Bekundungen des Klägers, die mit
den historischen Erkenntnissen übereinstimmen, nicht gegeben. Die Begleitung zur
Arbeitsstelle durch einen jüdischen "Brigadier" schließlich war eine typische Maßnahme
zur Dokumentation und Aufrechterhaltung der allgemeinen Ghettodisziplin und daher
ebenfalls kein gegen die Freiwilligkeit der Arbeit sprechender Umstand.
59
4. Der Kläger erhielt jedoch nach seinen eigenen glaubhaften Angaben aus der
persönlichen Anhörung kein Entgelt im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 Buchst. b) ZRBG für
seine Arbeitsleistung. Denn die ihm gewährte Zusatzration reichte bei objektiver
Betrachtung nur dazu aus, um seinen eigenen Kalorienmehrbedarf als Arbeiter zu
decken. 100 Gramm Brot, faule Kartoffeln und etwas Suppenpulver für eine ganztägige
körperliche Arbeit sind so wenig, dass selbst unter den Hungerverhältnissen des
Ghettos eine Versorgung weiterer Familienmitglieder objektiv ausgeschlossen war.
Dass der Kläger seine Rationen in der Familie dennoch teilte bzw. die Coupons der
Mutter gab, genügt nach der vom erkennenden Senat als erforderlich angesehenen
objektiven Betrachtungsweise nicht aus, um sein Entgelt von dem eines
Zwangsarbeiters zu unterscheiden.
60
Zwar hat es im Ghetto Kaunas auch nach den Ermittlungen des erkennenden Senats in
anderen Fällen an besonderen Arbeitsorten auch Beschäftigungen gegeben, die
deutlich über den allgemein festgesetzten Rationen vergütet wurden (so z.B. im
Verfahren L 8 RJ 27/03, das der Senat durch Vergleich zugunsten des dortigen Klägers
beenden konnte). Doch hat sich der Kläger in der persönlichen Anhörung auch auf
ausdrückliche mehrfache Nachfrage des Berichterstatters gerade nicht an eine über der
allgemeinen (für mehrere Menschen zu geringe) liegende Arbeitsration erinnert. Diese
Umstände hat auch der historische Sachverständige Dr. U im einzelnen im Detail
bestätigt und näher beschrieben. Damit steht als Ergebnis des Berufungsverfahrens
zwar fest, dass der Kläger in der persönlichen Anhörung über seine streitbefangene Zeit
im Ghetto Kaunas die Wahrheit bekundet hat, so wie er sich heute noch daran erinnert.
Doch die Grenze der individuellen menschlichen Erinnerungsfähigkeit des Klägers als
Überlebender des Ghettos bedeutet gleichzeitig auch die Grenze der richterlichen
Erkenntnis. Andere Beweismöglichkeiten gibt es nicht mehr. Die vom Kläger benannten
beiden Zeuginnen haben zur Entgelthöhe nichts über das vom Kläger selbst
61
Angegebene bekundet, und seine Schwester, die sonst als Zeugin in Betracht käme,
kann sich als damals kleines Kind nach den eigenen Angaben des Klägers an nichts
mehr erinnern. Das hat der Kläger selbst so angegeben.
C.
62
Die persönliche Anhörung des Klägers - bei der es sich nicht um eine im
sozialgerichtlichen Verfahren nicht vorgesehene Parteivernehmung, sondern eine nach
§§ 103,106 in das pflichtgemäße Ermessen des Gerichts gestellte
Aufklärungsmaßnahme handelte, war zur Sachverhaltsaufklärung zulässig und
verhältnismäßig. Wie von den Sachverständigen R und B generell hervorgehoben,
empfindet sich der Kläger individuell mit Recht als wichtigen Zeitzeugen, der etwas von
Bedeutung für die Nachwelt auch jenseits des ganz persönlichen Schicksals zu
berichten hat. Schon deswegen, weil ihm widersprüchliches Vorbringen vorgehalten
wurde, war es ein Gebot der Verfahrensfairness, ihm die Möglichkeit zu geben, sich
persönlich im Termin dazu zu äußern. Nur er selbst konnte zudem umfassend zu
seinem Schicksal Auskunft geben, weil es außer seiner eigenen Erinnerung keine
anderen Beweismöglichkeiten gab. Sowohl zur Ausschöpfung aller bei der
Amtsermittlung zu Gebote stehenden Möglichkeiten wie auch zur Gewährung
rechtlichen Gehörs nach Art 103 Grundgesetz und § 60 SGG war die persönliche
Anhörung des Klägers daher angemessen.
63
D.
64
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
65
Der erkennende Senat hat die Revision gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 2 SGG
zugelassen.
66