Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 12.01.2006

LSG NRW: örtliche zuständigkeit, alleinerziehender vater, aufenthaltserlaubnis, bedürftigkeit, wohnung, ausländer, behörde, anerkennung, ausreise, asylverfahren

Landessozialgericht NRW, L 20 B 11/05 AY ER
Datum:
12.01.2006
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
20. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
L 20 B 11/05 AY ER
Vorinstanz:
Sozialgericht Dortmund, S 30 AY 362/05 ER
Sachgebiet:
Sozialhilfe
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des
Sozialgerichts Dortmund vom 16.11.2005 geändert. Die
Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet,
dem Antragsteller Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz
ab Antragstellung bis zum Ende des Monats der gerichtlichen
Entscheidung nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu
gewähren. Dem Antragsteller wird für das Verfahren vor dem
Sozialgericht Dortmund Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt
D T, Am S, M, zu seiner Vertretung beigeordnet. Die Antragsgegnerin
trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Antragstellers.
Gründe:
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I.
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Der Antragsteller besitzt die iranische Staatsangehörigkeit. Sein Asylantrag wurde
rechtskräftig abgelehnt; ein Asylfolgeantrag wurde mit bestandskräftigem Bescheid des
Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) vom 28.06.2005 abgelehnt.
Aufgrund einer amtsärztlich bescheinigten Reiseunfähigkeit übersandte der Landrat des
Kreises P dem Antragsteller mit Schreiben vom 09.08.2005 ein Antragsformular für eine
Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25 Abs. 5 Aufenthaltsgesetz (AufenthG). Auf seinen
Antrag wurde ihm ein entsprechender Aufenthaltstitel erteilt.
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Der Antragsteller war mit Zuweisungsbescheid der Bezirksregierung vom 07.01.1999
am 14.01.1999 der Beigeladenen zugewiesen worden. Die Beigeladene erbrachte in
der Folgezeit Leistungen an den Antragsteller. Dabei wohnte der Antragsteller zuletzt
vor dem 30.09.2005 im Bereich der Beigeladenen unter der Adresse X 00. Träger und
Vermieter des dortigen Mietobjekts war ein örtlicher Flüchtlingshilfeverein; ein
Vereinsmitglied hatte sein Haus wegen eines längeren Auslandsaufenthaltes dem
Verein zur Weitervermietung an bedürftige Flüchtlinge überlassen, welche aus
familiären oder krankheitsbedingten Gründen nicht in Gemeinschaftsunterkünften
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untergebracht werden konnten. Wegen Rückkehr des Wohnungseigentümers räumte
der Antragsteller zum 30.09.2005 die Wohnung X 00.
Eine dem Antragsteller von der Beigeladenen zur Verfügung gestellte Unterbringung in
einer Gemeinschaftsunterkunft lehnte der Antragsteller mit Hinweis auf eine psychische
Erkrankung ab. Er legte ein Attest des Arztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. K vom
11.10.2005 vor, wonach er bei emotional instabiler Persönlichkeit zu teilweise
depressiven Reaktionen neige mit sehr häufig paranoider Verarbeitung der Situation bei
einem insgesamt zu vermutenden Borderline-Syndrom. Aufgrund dieser Erkrankung
seien Schwierigkeiten zu erwarten; der Antragsteller könne nicht in einer Unterkunft mit
mehreren Leuten in engerem Kontakt untergebracht werden. Solches lasse eine
Eskalation befürchten, wobei der Antragsteller gefährdet werden oder selbst aggressiv
reagieren könnte. Nervenärztlich empfehle sich eine Einzelunterkunft, nicht jedoch eine
Heimunterkunft.
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Der Antragsteller nahm ab dem 30.09.2005 im Gemeindegebiet der Antragsgegnerin bei
seinem Bekannten, Herrn L T1, Wohnung. Herr T1 ist alleinerziehender Vater einer
zweieinhalbjährigen Tochter; die von ihm und seiner Tochter sowie nunmehr vom
Antragsteller bewohnte Wohnung ist 60 Quadratmeter groß.
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Die vom Antragsteller zu Leistungen aufgeforderte Antragsgegnerin lehnt Leistungen
ab. Sie ist der Ansicht, sie sei dafür örtlich nicht zuständig, weil weiterhin eine örtliche
Zuständigkeit der vom Senat beigeladenen Gemeinde L1 gegeben sei. Die örtliche
Zuständigkeit der Beigeladenen ergebe sich aus der seinerzeitigen Zuweisung des
Antragstellers an die Beigeladene. Diese Zuweisungsentscheidung sei weder
zurückgenommen, widerrufen oder anderweitig aufgehoben worden. Es sei auch kein
Fall ihrer Erledigung auf andere Weise eingetreten. Eine solche Erledigung auf andere
Weise trete nur ein, wenn der Leistungsberechtigte ausreise, sein tatsächlicher
Aufenthalt durch aufenthaltsbeendende Maßnahmen beendet werde oder bei Änderung
seines Aufenthaltsstatus, und zwar im Sinne eines die Anwendbarkeit des
Asylbewerberleistungsgesetzes (AsylbLG) ausschließenden Status, etwa im Falle der
Erteilung einer von § 1 Abs. 1 Nr. 3 AsylbLG nicht erfassten Aufenthaltsbefugnis. Die
dem Antragsteller erteilte Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG werde jedoch
von § 1 Abs. 1 Nr. 3 AsylbLG ausdrücklich erwähnt. Aufgrund der nach wie vor
wirksamen Zuweisungsentscheidung bestehe eine Zuständigkeit der Beigeladenen
nach § 10 a Abs. 1 Satz 1 AsylbLG.
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Mit Beschluss vom 16.11.2005 hat das Sozialgericht den Antrag auf Erlass einer
einstweiligen Anordnung und die Bewilligung von Prozesskostenhilfe abgelehnt. Ob die
Antragsgegnerin örtlich zuständig sei, könne dahinstehen, wobei allerdings die
besseren Argumente für deren örtliche Zuständigkeit sprächen, weil die
Zuweisungsentscheidung aufgrund des rechtskräftigen Abschlusses des Asylverfahrens
gegenstandslos geworden sei. Der Antragsteller habe jedoch nichts zu seiner
Bedürftigkeit vorgetragen; dies sei jedoch notwendig, weil sich in persönlichen und
wirtschaftlichen Verhältnissen jederzeit Änderungen ergeben könnten. Zum anderen
bestehe kein Anordnungsgrund. Denn auf dem Gebiet der Beigeladenen bestehe auch
die Unterbringungsmöglichkeit in einem Einzelzimmer. Die Beigeladene sei auch
grundsätzlich zu Leistungen nach dem AsylbLG bereit. Aus der vorgelegten
Bescheinigung des Dr. K ergäben sich keine hinreichende Anhaltspunkte für eine
Unzumutbarkeit der bei der Beigeladenen möglichen Unterkunft.
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Gegen den am 21.11.2005 zugestellten Beschluss hat der Antragsteller am gleichen
Tag Beschwerde eingelegt, der das Sozialgericht mit Beschluss vom 22.11.2005 nicht
abgeholfen hat.
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Der Antragsteller weist darauf hin, dass er weiterhin von der Beigeladenen Leistungen
nach dem Asylbewerberleistungsgesetz erhalte und nach wie vor ohne Einkommen und
Vermögen sei. Seine Bedürftigkeit habe auch außer Streit gestanden. Bei einer
Unterkunftnahme auf dem Gebiet der Beigeladenen würde er sich - unabhängig von
seinen medizinischen Argumenten - in Widerspruch zu seiner Forderung gegenüber der
Antragsgegnerin setzen. Denn bei einer Aufenthaltsnahme auf dem Gebiet der
Beigeladenen würde die örtliche Zuständigkeit der Antragsgegnerin enden. Ein
Hauptsacheverfahren wäre dann nicht mehr möglich. Die Beigeladene erbringe nach
wie vor Leistungen nur, um den Zuständigkeitsstreit nicht auf seinem Rücken
auszutragen.
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Die Antragsgegnerin verweist im Beschwerdeverfahren auf ihren bisherigen Vortrag.
Die Beigeladene trägt vor, der Antragsteller sei im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis
nach § 25 Abs. 5 AufenthG mit Freizügigkeit im Lande Nordrhein-Westfalen. Sie
gewähre dem Antragsteller Leistungen wegen bestehender Bedürftigkeit, seit dem
01.10.2005 jedoch ohne Anerkennung einer Rechtspflicht. Nach Abschluss des
Asylverfahrens und Erteilung eines entsprechenden Aufenthaltstitels sei die
Zuweisungsverfügung der Bezirksregierung hinfällig. Der ursprüngliche Verwaltungsakt
habe sich erledigt. Die örtliche Zuständigkeit liege nunmehr nach § 10 Abs. 1 Satz 2
AsylbLG bei der Antragsgegnerin. Allein weil sich diese als örtlich zuständige
Kommune weigere, den dringend notwendigen Lebensunterhalt des Antragstellers
sicher zu stellen, gewähre die Beigeladene als ursprüngliche Zuweisungsgemeinde
einstweilen weitere Leistungen.
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Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt
der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Akten (Verwaltungsvorgänge der
Antragsgegnerin und der Beigeladenen) Bezug genommen.
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II.
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Die Beschwerden des Antragstellers sind zulässig und begründet.
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Das Sozialgericht hat es zu Unrecht abgelehnt, die Antragsgegnerin im Wege der
einstweiligen Anordnung zu verpflichten, dem Antragsteller Leistungen nach dem
Asylbewerberleistungsgesetz zu erbringen.
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Nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) sind einstweilige Anordnungen
zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis
zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig
erscheint. Dabei müssen sowohl die Voraussetzungen des geltend gemachten
Anspruches als auch der Eilbedürftigkeit einer gerichtlichen Entscheidung glaubhaft
gemacht sein (Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund).
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Dass der Antragsteller auf Leistungen nach dem AsylbLG angewiesen ist, ist zwischen
den Beteiligten nicht streitig; dementsprechend gewährt ihm derzeit die Beigeladene,
allerdings ohne Anerkennung einer Rechtspflicht im Hinblick auf ihre örtliche
Zuständigkeit, entsprechende Leistungen.
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Die örtliche Zuständigkeit der Antragsgegnerin für solche Leistungen folgt aus § 10 a
Abs. 1 Satz 2 AsylbLG. Danach ist außerhalb der in § 10 a Abs. 1 Satz 1 AsylbLG
geregelten Fälle im Übrigen die Behörde zuständig, in deren Bereich sich der
Leistungsberechtigte tatsächlich aufhält. Der Antragsteller hält sich im Bereich der
Antragsgegnerin auf. Entgegen ihrer Ansicht besteht auch keine vorrangige
Leistungsverpflichtung der Beigeladenen nach § 10 a Abs. 1 Satz 1 AsylbLG. Danach
ist für Leistungen nach dem AsylbLG örtliche zuständig die nach § 10 bestimmte
Behörde, in deren Bereich der Leistungsberechtigte aufgrund der Entscheidung der vom
Bundesministerium des Innern bestimmten zentrale Verteilungsstelle verteilt oder von
der im Land zuständigen Behörde zugewiesen worden ist. Zwar hat ursprünglich eine
Zuweisungsentscheidung im Sinne dieser Vorschrift durch die Bezirksregierung
vorgelegen, welche den Antragsteller dem örtlichen Bereich der Beigeladenen
zugewiesen hat. Diese Zuweisungsentscheidung hat sich jedoch mit dem
rechtskräftigen Abschluss des ursprünglichen Asylverfahrens, spätestens jedoch mit
dem bestandskräftigen Abschluss des Asylfolgeverfahrens des Antragstellers, nach § 43
Abs. 2 Verwaltungsverfahrensgesetz NRW (VwVfG) "auf andere Weise erledigt". Denn
dem Antragsteller ist ein Aufenthaltstitel im Sinne von § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG erteilt
worden. Nach dieser Norm kann einem Ausländer, der vollziehbar ausreisepflichtig ist,
abweichend von § 11 Abs. 1 AufenthG eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn
seine Ausreise aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unmöglich ist und mit dem
Wegfall der Ausreisehindernisse in absehbarer Zeit nicht zu rechnen ist. Diese
Aufenthaltserlaubnis entspricht damit im Kern einer Duldung im Sinne des § 55 Abs. 2
des früheren Ausländergesetzes. Durch eine solche Aufenthaltserlaubnis (bzw. zuvor
durch eine solche Duldung) wird die asylverfahrensrechtliche Zuweisungsentscheidung
gegenstandslos, so dass § 10 a Abs. 1 Satz 1 AsylbLG nicht mehr die örtliche
Zuständigkeit bestimmen kann (Wahrendorf in Grube/Wahrendorf, SGB XII, 2005, § 10 a
AsylbLG Rz. 5 m.w.N.). Denn mit der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis wird dem
Ausländer ein Aufenthalt ermöglicht, der nicht mehr mit seinem Asylverfahren in
Zusammenhang steht. Der Ausländer hält sich vielmehr nach Beendigung seines
Asylverfahrens rechtmäßig weiter in der Bundesrepublik auf; es ist insoweit
gerechtfertigt, die Zuweisungsentscheidung in ihren Wirkungen auf das Asylverfahren
zu beschränken (a.a.O.; str., wie hier auch OVG NRW, Beschluss vom 30.03.2001 - 16 B
44/01; vgl. auch BverwG, Urteil vom 31.03.1992 - 9 C 155/90; OVG NRW, Urteil vom
01.12.1999 - 17 A 3994/98).
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Entgegen der Ansicht des Sozialgerichts fehlt es auch nicht an einem
Anordnungsgrund. Das die fehlende Bedürftigkeit des Antragstellers nicht
nachgewiesen sei, ist nicht nachvollziehbar; immerhin erbringt die Beigeladene - ohne
dass auch die Antragsgegnerin die Bedürftigkeit in Frage stellen würde - nach wie vor
Leistungen nach dem AsylbLG zu Sicherung des notwendigen Lebensunterhalts des
Antragstellers. Eine der Beigeladenen ggf. mögliche Bereitstellung einer
Einzelunterkunft würde den Antragsteller zu einer erneuten Wohnsitznahme auf dem
Gebiet der Beigeladenen zwingen. Dies ist ihm, der sich rechtmäßig in ganz Nordrhein-
Westfalen aufhalten darf, jedoch nicht zuzumuten; er hat gerade rechtmäßig das Gebiet
der Beigeladenen verlassen, um auf dem Gebiet der Antragsgegnerin Wohnung zu
nehmen. Dass seine vorübergehende Aufnahme durch einen Bekannten nicht bis zur
rechtskräftigen Erledigung des Hauptsacheverfahrens andauern kann, liegt auf der
Hand. Es gibt keine rechtliche Verpflichtung des Herrn T1, die von ihm notfallmäßig
akzeptierte Aufnahme des Antragstellers in die von ihm und seiner zweieinhalbjährigen
Tochter bewohnte, kleine Wohnung möglicherweise auf längere Sicht weiter
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hinzunehmen.
Überwiegende Interessen der Antragsgegnerin, die gegen ihre einstweiligen
Verpflichtung sprechen könnten, sind darüber hinaus nicht ersichtlich. Es ist der
Antragsgegnerin zuzumuten, ggf. die Durchführung eines Hauptsacheverfahrens
abzuwarten, in dem endgültig geklärt werden kann, ob sie oder die Beigeladene
leistungspflichtig ist. Sollte sich im Hauptsacheverfahren endgültig eine Leistungspflicht
der Beigeladenen ergeben, so wäre zwischen Beigeladener und Antragsgegnerin eine
Erstattung der zunächst von der Antragsgegnerin erbrachten Leistungen möglich.
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Der Senat geht davon aus, dass die Antragsgegnerin auch über die Dauer des Monats
der gerichtlichen Entscheidung hinaus einstweilen weiterhin Leistungen an den
Antragsteller erbringen wird, solange sich die maßgebliche Sach- und Rechtslage nicht
ändert.
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Hat der Antragsteller mit seinem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung Erfolg,
so steht ihm für das Verfahren vor dem Sozialgericht Dortmund auch Prozesskostenhilfe
zu. Das Sozialgericht hat zu Unrecht eine mangelnde Erfolgsaussicht der
Rechtsverfolgung verneint.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG. Dabei sind Kosten für das
Beschwerdeverfahren hinsichtlich der Bewilligung von Prozesskostenhilfe nicht zu
erstatten (§ 73 a SGG i.V.m § 127 Abs. 4 ZPO).
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).
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