Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 07.04.2005

LSG NRW: behandlung im ausland, krankenversicherung, belgien, eugh, rentner, gemeinschaftsrecht, berechtigung, versicherungsträger, doppelbelastung, ausstellung

Datum:
Gericht:
Spruchkörper:
Entscheidungsart:
Vorinstanz:
Nachinstanz:
Sachgebiet:
Tenor:
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Aktenzeichen:
Rechtskraft:
Landessozialgericht NRW, L 16 KR 159/04
07.04.2005
Landessozialgericht NRW
16. Senat
Urteil
L 16 KR 159/04
Sozialgericht Düsseldorf, S 34 KR 17/02
Bundessozialgericht, B 1 KR 13/05 R
Krankenversicherung
nicht rechtskräftig
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts
Düsseldorf vom 25. Mai 2004 wird zurückgewiesen. Die Beklagte hat der
Klägerin auch die Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten. Die
Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten um die Berechtigung der in Belgien lebenden Klägerin, Leistungen
der Krankenversicherung während ihres Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland
von der Beklagten zu erhalten.
Die am 00.00.1934 geborene Klägerin bezieht seit 1999 Altersrente und ist bei der
Beklagten in der Krankenversicherung der Rentner (KVdR) versichert. Da sie als deutsche
Staatsbürgerin ihren Wohnsitz in Belgien hat, ließ sie sich im November 1999 bei der
Fédèration des Mutualités Chrétiennes in Verviers zwecks Erhalts der Sachleistungen aus
der Krankenversicherung in Belgien einschreiben. Am 06.11.2001 begehrte sie von der
Beklagten die Herausgabe einer Krankenversicherungskarte und die Bewilligung von
Sachleistungen in der Bundesrepublik Deutschland, solange sie sich dort aufhalte. Mit
Bescheid vom 12.11.2001 lehnte die Beklagte den Antrag ab, weil die Klägerin als
Rentnerin mit Wohnsitz in Belgien nach den Bestimmungen der Europäischen Union (EU)
Anspruch auf Leistungen nach den geltenden Rechtsvorschriften des Mitgliedsstaates
habe, in dem sich der Wohnort befinde. Bei einem vorübergehenden Aufenthalt in einem
anderen Staat als dem des Wohnsitzes würden Leistungen nur zu Lasten letzteren Staates
unter Verwendung der entsprechenden Vordrucke gewährt. Darüber hinausgehende
Ansprüche aus der deutschen Krankenversicherung stünden Rentnern nicht zu, solange
nicht ein insoweit vorbereitetes Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und
Belgien in Kraft trete. Den hiergegen am 17.11.2001 eingelegten Widerspruch wies die
Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 14.01.2002 mit entsprechender Begründung
zurück.
Die Klägerin hat am 23.01.2002 vor dem Sozialgericht (SG) Düsseldorf Klage erhoben. Sie
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hat geltend gemacht, die Gewährung von Sachleistungen in Belgien solle lediglich ihrem
Schutz dienen, beschneide aber nicht ihre Ansprüche in Deutschland. Soweit das deutsche
Recht vorsehe, dass Ansprüche während des Aufenthalts im Ausland ruhten, stehe dies
ihren Ansprüchen gerade nicht entgegen, weil sie Leistungen während des Inlandsbesuchs
begehre.
Mit Urteil vom 25.05.2004 hat das SG antragsgemäß unter Aufhebung des Bescheides der
Beklagten vom 12.11.2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14.01.2002
festgestellt, dass die Klägerin berechtigt sei, in Deutschland Sachleistungen zu Lasten der
Beklagten in Anspruch zu nehmen. Auf die Entscheidungsgründe wird Bezug genommen.
Gegen das ihr am 04.06.2004 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 11.06.2004 Berufung
eingelegt. Sie verweist zunächst darauf, dass zu der streitigen Frage mehrere Verfahren
beim Bundessozialgericht (BSG) anhängig sind. Des Weiteren ist sie der Auffassung, der
Krankenversicherungsschutz der Klägerin beruhe infolge ihres Wohnsitzes in Belgien auf
den Vorschriften des Europäischen Gemeinschaftsrechts. Nach diesen beurteilten sich
auch die Sachleistungsansprüche der Klägerin im Fall der Krankheit. Entgegen der
Rechtsprechung des erkennenden Senates ergebe sich Gegenteiliges auch nicht aus der
Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG), weil dieses nur einen Fall gegenteilig
entschieden habe, in dem Leistungen im Streit standen, die durch den Versicherungsträger
des Wohnsitzstaates nicht gewährt wurden und daher am Ausgleichsverfahren zwischen
den Mitgliedsstaaten keinen Anteil nehmen konnten. Vorliegend seien aber sämtliche
Sachleistungsansprüche betroffen, so dass ihre - der Beklagten - Leistungsverpflichtung zu
einer gesetzeswidrigen Doppelbelastung führe.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des SG Düsseldorf vom 25.05.2004 zu ändern und die Klage abzuweisen,
hilfsweise, die Revision zuzulassen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen, hilfsweise, die Revision zuzulassen.
Sie beruft sich auf ein Urteil des Landessozialgerichts (LSG) Hamburg vom 10.03.2004
(Az.: L 1 KR 35/03).
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen,
die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung ist unbegründet. Das SG hat zu Recht festgestellt, dass die
Klägerin während ihres Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland Anspruch auf
Sachleistungen zu Lasten der deutschen Krankenversicherung hat.
Da sich die Beklagte weigert, diese Berechtigung anzuerkennen, hat die Klägerin
Anspruch auf Feststellung der entsprechenden Rechtsbeziehungen zur Beklagten (§ 55
Abs. 1 Nr. 1 Sozialgerichtsgesetz - SGG -). Die Klage auf Ausstellung der Kranken-
versichertenkarte (§ 291 Abs. 1 Satz 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch - Gesetzliche
Krankenversicherung - (SGB V)) ist kein vorrangig zu betreibender Rechtsbehelf. Mit der
Feststellung der Leistungsverpflichtung der Beklagten können keine begründeten Zweifel
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mehr an dem Anspruch der Klägerin auf Ausstellung der Krankenversichertenkarte
bestehen, so dass davon auszugehen ist, dass die Beklagte als Körperschaft des
öffentlichen Rechts ihrer entsprechenden Verpflichtung nachkommen wird.
Das SG hat auch in der Sache zutreffend festgestellt, dass die Klägerin als Mitglied der
Beklagten berechtigt ist, während ihres Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland zu
Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) Leistungen in Anspruch zu nehmen.
Die Klägerin, die allein eine Rente aus der deutschen Rentenversicherung bezieht, ist
gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 12 SGB V Mitglied in der GKV. Auch wenn § 3 Nr. 2 SGB IV -
Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung - die Versicherungspflicht und -
berechtigung grundsätzlich an den Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im
Geltungsbereich dieses Gesetzbuches - also in der Bundesrepublik Deutschland - knüpft,
bleibt ihr Versicherungsschutz aufgrund der Vorschriften des vorrangigen
Gemeinschaftsrechts der EU (Art. 22, 28, 31 EWGV 1408/71) während der Wohnsitznahme
in einem anderen Mitgliedsstaat der EU erhalten.
Allerdings beschränkt das Gemeinschaftsrecht in derartigen Fällen die Ansprüche der
Versicherten auf solche gegen den Versicherungsträger des Wohnsitzstaates - also hier
des belgischen Trägers - (vgl. EuGH Urt. vom 03.07.2003 - C-156/01 - van der Duin/van
Wegberg/van Brederode = SozR 4-6050 Art. 22 Nr. 1). Nach Art. 28 Abs. 1a EWGV
1408/71 gewährt die Sachleistungen nämlich der Träger des Wohnorts für Rechnungen
des Trägers des Versicherungsstaates, als ob der Rentner nach den Rechtsvorschriften
des Staates, in dessen Gebiet er wohnt, zum Bezug einer Rente berechtigt wäre und
Anspruch auf Sachleistungen hätte. Ergänzend bestimmt Art. 31 Abs. 1a EWGV 1408/71,
dass der Rentner während des Aufenthalts in einem anderen Staat als dem, in dem er
wohnt, Sachleistungen, die sich während des Aufenthalts im Gebiet eines anderen
Mitgliedsstaates als des Wohnstaates unter Berücksichtigung der Art der Leistungen und
der voraussichtlichen Aufenthaltsdauer als medizinisch notwendig erweisen, vom Träger
des Aufenthaltsorts nach den für diesen geltenden Rechtsvorschriften für Rechnung des
Trägers des Wohnorts des Rentners erhält. Auch wenn das Gemeinschaftsrecht danach
eine eindeutige Zuständigkeit des Trägers des Wohnortstaates begründet und keine
Ansprüche gegen den Träger des Versicherungsstaates vorsieht (EuGH a.a.O.), ist es den
Mitgliedsstaaten allerdings unbenommen, darüber hinaus zusätzliche soziale Leistungen
zu gewähren (EuGH a.a.O. Rdn. 41). Zwar enthält das SGB V keine ausdrückliche Norm
diesen Inhalts, das BSG hat aber aus dem Zusammenhang der Regelungen des
Gemeinschaftsrechts und denjenigen des deutschen Krankenversicherungsrechts den
Fortbestand eines Versicherungsverhältnisses i.S.d. deutschen Rechts und zur deutschen
zuständigen Krankenkasse mit der Folge bestätigt, dass die Leistungspflicht letzterer
während des Aufenthalts des Residenten im Inland bestehen bleibt (BSG SozR 3-2400 § 3
Nr. 6 S. 8 ff.).
Allerdings betraf letztere Entscheidung die Kostenerstattung für Zahnersatzleistungen, die
der Träger des Wohnsitzstaates nach dessen Rechtsvorschriften nicht gewährte und die
daher auch nicht Gegenstand der pauschalen Ausgleichszahlung des deutschen
Krankenversicherungsträgers waren. Jedoch trifft das deutsche Krankenversicherungsrecht
keine unterschiedliche Regelung danach, ob Leistungen am Wohnsitzort im Ausland
pauschalierungsfähig sind oder nicht (daher hat das BSG entgegen der Auffassung der
Beklagten gerade nicht zwischen den einzelnen Leistungen differenziert, SozR 3-2400 § 3
Nr. 6 S. 15). Allein § 13 Abs. 4 SGB V in der zum 01.01.2004 in Kraft getretenen Fassung
des GKV-Modernisierungsgesetzes (BGBl. I 2003 S. 2190) enthält insoweit eine Regelung,
aber nur in Bezug auf die Behandlung im Ausland, nicht jedoch für den hier maßgeblichen
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Fall des vorübergehenden Verweilens des Residenten im Inland. Auch im Übrigen regelt
das SGB V nur das Ruhen der Leistungsansprüche während des Auslandsaufenthaltes (§§
16 und 18 SGB V), enthält aber keine entsprechenden Beschränkungen für die Dauer des
Inlandsaufenthalts bei einem Auslandswohnsitz.
Sieht man daher mit dem BSG das Versicherungsverhältnis in der GKV in der Weise als
fortbestehend an, dass Leistungsansprüche in der Bundesrepublik Deutschland zu Lasten
der deutschen Krankenkassen trotz der insoweit einschränkenden Regelungen des
Gemeinschaftsrechts bestehen, so kann es allerdings zu einer Doppelbelastung der
Krankenkassen kommen, weil sie im Fall notwendiger Krankenbehandlung im Inland auch
solche Sachleistungen erbringen müssen, die sie aufgrund der an die Träger des
Wohnsitzstaates gezahlten Pauschalen abgegolten haben (kritisch zur Rechtsprechung
des 1. Senats des BSG a.a.O. daher jetzt der 12. Senat des BSG, Urt. vom 26.01.2005 - B
12 P 4/02 R - unter 3 b) bb), ohne die Frage abschließend zu behandeln). Dem lässt sich
allerdings entgegenhalten, dass Art. 36 Abs. 3 EWGV 1408/71 die Mitgliedsstaaten
ermächtigt, andere Erstattungsvereinbarungen zu treffen oder den Verzicht auf Erstattungen
zu vereinbaren (vgl. BSG SozR 3-2400 § 3 Nr. 6 S. 15), wie er zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich Belgien nur aufgrund der
entsprechenden Ermächtigung des Art. 70 Abs. 2 EWGV 1408/71 für Arbeitslose geregelt
ist (Abkommen vom 04.12.1975 - BGBl. II 1976 S. 590), um derartige
Doppelverpflichtungen zu vermeiden.
Selbst wenn aber entgegen der Rechtsprechung des 1. Senats des BSG sowie derjenigen
des erkennenden Senats (vgl. zuletzt Urt. vom 08.01.2004 - L 16 KR 185/02 -, Revision
anhängig unter B 1 KR 4/04 R) eine ausdrückliche Regelung über die Erweiterung der
Leistungspflicht in derartigen Fällen als erforderlich anzusehen wäre, müsste der Klägerin
jedenfalls aus Vertrauensschutzgründen der Leistungsanspruch während des
Inlandsaufenthaltes so lange zugebilligt werden, wie das BSG seine Rechtsprechung nicht
geändert hat. Aufgrund der Entscheidung vom 16.06.1999 (= SozR 3-2400 § 3 Nr. 6)
durften die Residenten, die Mitglied der GKV sind, davon ausgehen, dass ihnen
uneingeschränkte Sachleistungsansprüche nach dem Recht des SGB V während des
Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland zustehen. Aus diesem Grunde brauchten
sie keinen Anlass zu sehen, sich gegen das Krankheitsrisiko während des
Inlandsaufenthaltes und insbesondere für solche Krankenbehandlungen, die das Recht
des Wohnsitzstaates nicht vorsieht, abzusichern. Da auch der EuGH mit seiner
Entscheidung vom 03.07.2003 (= SozR 4-6050 Art. 22 Nr. 1) solche Leistungsansprüche
nicht ausgeschlossen, sondern nur nach dem Gemeinschaftsrecht für nicht gegeben, nach
dem Recht der einzelnen Mitgliedsstaaten aber als möglich angesehen hat, durfte dieser
Kreis der Versicherten weiterhin darauf vertrauen, diesen erweiterten Versicherungsschutz
zu genießen. Sollte man letzteren diesen Versicherten nunmehr versagen, ohne dass die
höchstrichterliche Rechtsprechung ihre gegenteilige Auffassung aufgegeben hätte,
bedeutete dies eine nach-haltige Erschütterung der Vertrauensposition, die die Klägerin in
ihren Rechten aus Art. 2 Abs. 1 Grundgesetz (GG) i.V.m. dem rechtsstaatlichen Grundsatz
des Vertrauensschutzes verletzte.
Die Berufung der Beklagten war daher mit der auf § 193 SGG beruhenden
Kostenentscheidung zurückzuweisen.
Der Senat hat wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache die Revision
zugelassen (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG).