Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 29.08.2005

LSG NRW: migräne, kopfschmerzen, neurologie, psychiatrie, form, prozessökonomie, befund, auflage, absicht, rechtskraft

Landessozialgericht NRW, L 6 B 10/05 SB
Datum:
29.08.2005
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
6. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
L 6 B 10/05 SB
Vorinstanz:
Sozialgericht Duisburg, S 30 SB 32/05
Sachgebiet:
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Dem Kläger wird auf seine Beschwerde für das Klageverfahren
Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwältin C M, F,
bewilligt.
Gründe:
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Die Beteiligten streiten über die Höhe des Grades der Behinderung (GdB) des Klägers
nach dem zum 01.07.2001 in Kraft getretenen Sozialgesetzbuch - Neuntes Buch (SGB
IX) sowie darüber, ob die gesundheitlichen Voraussetzungen für den
Nachteilsausgleich "RF" (Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht) vorliegen.
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Mit Bescheid vom 21.10.1999 stellte der Beklagte bei dem 1950 geborenen Kläger
wegen der Behinderungen 1. Alkoholkrankheit im Stadium der Heilungsbewährung
(Einzel-GdB 30) 2. Wirbelsäulenfunktionsstörung (Einzel-GdB 20) 3. Schulter-Arm-
Syndrom (Einzel-GdB 20) 4. Depressive Verstimmung (Einzel-GdB 10) 5. Migräne,
hyperkinetisches Herzsyndrom (Einzel-GdB 10)
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einen GdB von 40 fest. Im August 2004 beantragte der Kläger die Feststellung eines
höheren GdB sowie die Zuerkennung des Nachteilsausgleichs "RF". Der Beklagte holte
einen Befundbericht des Orthopäden Dr. T vom 02.09.2004 mit weiteren
röntgenologischen Arztbriefen, einen Bericht der Neurologin und Psychiaterin Dr. H vom
03.09.2004, einen Bericht des HNO-Arztes L vom 01.09.2004 und einen Bericht der
Fachärztin für Allgemeinmedizin N vom 12.10.2004 ein. Nach Auswertung dieser
Unterlagen lehnte er die Feststellung eines höheren GdB sowie des
Nachteilsausgleichs "RF" ab (Bescheid vom 04.11.2004 und Widerspruchsbescheid
vom 25.01.2005).
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Der Kläger hat am 09.02.2005 Klage beim Sozialgericht (SG) Duisburg erhoben und die
Bewilligung von Prozesskostenhilfe (PKH) unter Beiordnung von Rechtsanwältin N
beantragt. Zur Begründung hat er angeführt, dass seine Beschwerden infolge eines im
März 2004 erlittenen Hörsturzes erheblich seien. Er leide unter einer deutlichen
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Hörminderung und Druckgefühl auf beiden Ohren. Außerdem trete plötzlicher Schwindel
mit Übelkeit und Erbrechen auf. Er sei bereits häufiger einfach umgefallen. Darüber
hinaus habe sich die bekannte Wirbelsäulenfunktionsstörung seit 1999 zunehmend
verschlechtert. Nunmehr liege ein chronisches Schmerzsyndrom vor, das zu
erheblichen psychischen Belastungen führe. Auch leide er unter permanenten
Kopfschmerzen und sei dauerhaft auf die Einnahme von Schmerzmitteln angewiesen.
Das SG hat die Einholung von Befundberichten der Ärzte L und Dr. T verfügt und dem
Kläger unter dem 13.06.2005 mitgeteilt, dass über den PKH-Antrag nach Vorlage der
Befundberichte entschieden werde.
Hiergegen hat der Kläger am 23.06.2005 Beschwerde erhoben. Er ist der Auffassung,
die Mitteilung des SG verzögere die Entscheidung über den Antrag auf PKH und komme
damit einer beschwerdefähigen Ablehnung gleich. In der Sache dokumentiere das
Gericht durch die Einholung der Arztberichte, dass es die hinreichende Erfolgsaussicht
der beabsichtigten Rechtsverfolgung bejahe.
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Das SG hat dem Kläger mitgeteilt, dass eine hinreichende Erfolgsaussicht noch nicht
angenommen werden könne, wenn das Gericht zunächst sachverständige
Zeugenaussagen der behandelnden Ärzte einhole, um zu prüfen, ob ein Gutachten
erforderlich sei. Die Regelung des § 118 Abs. 2 ZPO zeige, dass nicht jede
Ermittlungstätigkeit des Gerichts die erforderliche Erfolgsaussicht begründe. Das SG hat
der Beschwerde nicht abgeholfen (Nichtabhilfebeschluss vom 21.07.2005).
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Am 11.07.2005 ist der Befundbericht des HNO-Arztes L eingegangen. Dieser hat die
Bezeichnung der vom Beklagten festgestellten Leiden auf HNO-Gebiet für vollständig
und zutreffend angesehen.
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II.
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Die Beschwerde ist zulässig auch wenn ein förmlicher Beschluss des SG über den
Antrag auf PKH nicht vorliegt. Das Sozialgericht hat durch die an den Kläger gerichtete
Mitteilung vom 13.06.2005 deutlich zum Ausdruck gebracht, dass derzeit eine
Entscheidung über die PKH nicht beabsichtigt sei, weil zunächst Befundberichte
eingeholt würden. Eine solche Mitteilung kommt in der Sache einer ablehnenden
Entscheidung gleich (vgl. hierzu Meyer-Ladewig, SGG, 8. Aufl. 2005, § 73 a Rn 12 e;
BVerfG, Beschluss vom 19.07.2001, 2 BvR 1175/01; BayVGH, Beschluss vom
06.08.1996, 7 C 96.1262). Mit der späteren Begründung dieser Aurfassung und der
Nichtabhilfeentscheidung hat das SG zudem an seiner Absicht festgehalten, über den
Antrag auf PKH derzeit förmlich nicht entscheiden zu wollen.
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Die Beschwerde ist auch begründet. Dem Kläger ist für das Klageverfahren PKH zu
bewilligen.
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Voraussetzung für die Gewährung von PKH ist nach § 73 a Abs.1 Satz 1 des
Sozialgerichtsgesetzes (SGG) i.V.m. § 114 der Zivilprozessordnung (ZPO) unter
anderem, dass die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg
bietet. Dies ist der Fall, wenn das Gericht den Rechtsstandpunkt des Klägers für
zumindest vertretbar hält. Sind Beweiserhebungen notwendig, so kann die
Erfolgsaussicht in der Regel nicht verneint werden. Etwas anderes gilt lediglich dann,
wenn ein günstiges Ergebnis der eingeleiteten Beweisaufnahme unwahrscheinlich bzw.
die Erfolgschance nur eine entfernte ist (vgl. Meyer-Ladewig, SGG, 8. Aufl. 2005, § 73 a
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Rn 7a; LSG NRW, Beschluss vom 27.09.2004, L 10 B 17/04 und Beschluss vom
25.06.2003, L 10 B 6/03 SB). Lässt sich die Erfolgsaussicht der Klage nicht beurteilen,
so kann das Gericht gemäß § 118 Abs. 2 ZPO in engen Zulässigkeitsgrenzen (hierzu
Thomas/Putzo, ZPO, 26. Auflage 2002, § 118 Rn 6 f.; Münchener Kommentar zur ZPO,
2. Aufl. 2000, § 118 Rn 22 f.) klärende Erhebungen vornehmen.
Ausgehend hiervon ist dem Kläger PKH zu gewähren. Holt das Gericht wie vorliegend
im Rahmen des § 106 SGG Befundberichte ein, so beginnt bereits damit - und nicht erst
mit der späteren Einholung eines Gutachtens - die Beweisaufnahme. Zutreffenderweise
bezeichnet das SG die Befundberichte dementsprechend auch als sachverständige
Zeugenaussagen (vgl. auch BSG, Urteil vom 09.02.2000, B 9 SB 8/98 R; Urteil vom
09.04.1997, 9 RVs 6/96).
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Ein günstiges Ergebnis dieser vom SG begonnenen Beweiserhebung ist auch durchaus
möglich. Zwar liegen die gesundheitlichen Voraussetzungen des vom Kläger
beanspruchten Nachteilsausgleichs "RF" offensichtlich nicht vor. Nach den
aktenkundigen Befunden ist es jedoch nicht unwahrscheinlich, dass die in der
Klagebegründung vorgetragenen Leiden eine höhere Bewertung des GdB bedingen.
Hiernach drängen sich - selbst unter Berücksichtigung des bereits vorliegenden
Befundberichtes von Herrn L - weitere Beweisermittlungen auf. Die vorliegenden
ärztlichen Unterlagen genügen nicht, um die gesundheitlichen Beeinträchtigungen des
Klägers ausreichend würdigen zu können. So haben die behandelnden Ärzte Dr. T und
N im Jahr 2004 gehäufte Vorstellungen des Klägers wegen Wirbelsäulenbeschwerden
angegeben (April, Juli, September und Oktober). Festgestellt wurden röntgenologisch
degenerative Veränderungen und Bandscheibenvorwölbungen sowie klinisch
Bewegungseinschränkungen. Da nähere Angaben fehlen, insbesondere auch nicht
mitgeteilt wird, welche Wirbelsäulenabschnitte konkret in welchem Umfang nur
eingeschränkt beweglich waren, ist hier ohne weitere Ermittlungen eine Bewertung
dieser Funktionsstörungen nach Nr. 26.18 (S. 116) der Anhaltspunkte für die ärztliche
Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem
Schwerbehindertenrecht 2004 (Anhaltspunkte) nicht möglich. Gleiches gilt für die
Beurteilung des psychischen Zustandes des Klägers. Sowohl die behandelnde
Hausärztin Frau N als auch die Ärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. H haben ein
psychoreaktives Syndrom bzw. ein Überforderungssyndrom mit Somatisierung
diagnostiziert. Ohne nähere Angaben zu den Auswirkungen der offensichtlich
bestehenden psychischen Beeinträchtigung lässt sich der hierfür nach Nr. 26.3 (S. 48)
der Anhaltspunkte zu gewährende GdB nicht bestimmen. Schließlich ist auch der Frage
nachzugehen, in welcher Form und Häufigkeit der vom Kläger angegebene erhebliche
Kopfschmerz auftritt. Dies gilt im Hinblick auf die Bewertung in Nr. 26.2 (S.39) der
Anhaltspunkte umso mehr, wenn die Kopfschmerzen als Migräne auftreten, wie von
Frau N unter Diagnosen aufgeführt.
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Danach waren für die Prüfung der Erfolgsaussicht keine Vorerhebungen nach § 118
Abs. 2 ZPO notwendig, vielmehr der PKH-Antrag vor Einholung der Befund berichte
entscheidungsreif.
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Da der Kläger die Kosten der Prozessführung nach den von ihm angegebenen
persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen nicht aufbringen kann, ist ihm ratenfreie
Prozesskostenhilfe zu gewähren.
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Der Senat hat, weil auch die persönlichen und wirtschaftlichen Voraussetzungen
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vorliegen, dem Kläger die PKH unmittelbar zugesprochen. Er hat aus Gründen der
Prozessökonomie davon abgesehen, den Antrag lediglich zur Entscheidung an das SG
zurückzugeben.
Die Entscheidung kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht
angefochten werden (§ 177 SGG).
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