Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 17.11.1998

LSG NRW (wiedereinsetzung in den vorigen stand, kläger, freiwillige versicherung, krankenversicherung, 1995, wiedereinsetzung, gesetzliche frist, beitrittserklärung, arbeitsamt, stand)

Landessozialgericht NRW, L 5 KR 44/97
Datum:
17.11.1998
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
5. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
L 5 KR 44/97
Vorinstanz:
Sozialgericht Duisburg, S 9 Kr 93/96
Nachinstanz:
Bundessozialgericht, B 12 KR 28/98 R
Sachgebiet:
Krankenversicherung
Rechtskraft:
nicht rechtskräftig
Tenor:
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts
Duisburg vom 18.07.1997 geändert. Die Beklagte wird unter Aufhebung
des Bescheides vom 20.06.1996 in der Fassung des
Widerspruchsbescheides vom 21.08.1996 verurteilt, die
Krankenversicherung des Klägers ab dem 29.08.1995 als freiwillige
Versicherung fortzuführen. Die Beklagte trägt die außergerichtlichen
Kosten des Klägers in beiden Rechtszügen. Die Revision wird
zugelassen.
Tatbestand:
1
Die Beteilgten streiten über die Berechtigung des Klägers, die Krankenversicherung im
Anschluß an eine Pflichtversicherung bei der Beklagten freiwillig fortzusetzen.
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Der 36-jährige geschiedene türkische Kläger verfügt über keinen Schul- oder
Berufsabschluß. Er erlitt als ungelernter Arbeiter am 23.07.1986 bei einem Arbeitsunfall
schwere Quetschverletzungen beider Hände. Seine Schwerbehinderteneigenschaft
stellte das Versorgungsamt E im Jahre 1987 fest (derzeitiger Grad der Behinderung -
GdB-: 90). Der Kläger erhält von der Berufsgenossenschaft der chemischen Industrie
(BG) eine Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um 80 v.H ...
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Seit Mai 1988 bezog der Kläger mit kurzen Unterbrechungen bei dem Arbeitsamt X
Arbeitslosenhilfe, zuletzt durchgängig ab 17.01.1990. Während der Zeit des
Leistungsbezuges war der Kläger bei der Beklagten pflichtversichert (§ 5 Abs. 1 Nr. 2
des Sozialgesetzbuchs - Gesetzliche Krankenversicherung - (SGB V) i.V.m. § 155 Abs.
1 des Arbeitsförderungsgesetzes -AFG- in der bis zum 31.12.1997 geltenden Fassung).
Im Rahmen der Neufestsetzung des Bemessungsentgelts der Arbeitslosenhilfe im
August 1995 ergab sich, daß der Anrechnungsbetrag aus der Verletztenrente den
Leistungssatz der Arbeitslosenhilfe übertraf. Das Arbeitsamt X hob daraufhin die
Leistungsbewilligung mit Bescheid vom 24.08.1995 mit Wirkung zum 28.08.1995 auf.
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Am 29.08.1995 versandte das Arbeitsamt X an den Kläger eine(n)
"Leistungsnachweis/Entgeltbescheinigung". Der an den Kläger versandte Text ist nicht
aktenkundig. Entsprechende Computerausdrucke enthalten zunächst die Mahnung, den
Nachweis für das Finanzamt und den Rentenversicherungsträger aufzubewahren. Es
folgen Angaben zu den bezogenen Leistungen. Schließlich heißt es: "Für die Zeit, in der
sie keine Leistungen beziehen, sind sie durch das Arbeitsamt nicht krankenversichert.
Um Nachteile zu vermeiden, erkundigen sie sich bitte umgehend bei ihrer
Krankenkasse über Möglichkeiten zur Wahrung des weiteren Versicherungsschutzes
(z.B. durch freiwillige Weiterversicherung)." Der Kläger behielt in der Folgezeit die
Krankenversicherungskarte der Beklagten.
Im April 1996 sprach der Kläger bei der Beklagten wegen einer Zuzahlungsbefreiung
vor. Der Zeuge N, Verwaltungsangestellter der Beklagten, zog die
Krankenversicherungskarte ein und verwies den Kläger hinsichtlich des
Krankenversicherungsschutzes auf private Krankenversicherungen, die BG und das
Sozialamt. Vom 28.04. bis 07.05.1996 wurde der Kläger stationär im St. X-Spital F
behandelt. Das Krankenhaus stellte ihm 3851,80 DM in Rechnung. Am 14.05.1996
beantragte der Kläger durch einen Bevollmächtigten die Weiterversicherung, hilfsweise
die Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Eine Mitteilung des Endes
des Krankenversicherungsschutzes durch die Beklagte sei nicht erfolgt. Deshalb habe
er die Dreimonatsfrist zur Anzeige des Beitritts nicht einhalten können.
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Mit Bescheid vom 20.06.1996 stellte die Beklagte fest, daß die Pflichtversicherung des
Klägers am 26.08.1995 mit dem Ausscheiden aus dem Arbeitslosenhilfe-Bezug geendet
habe. Ausscheidende Mitglieder müßten von der Krankenkasse nicht darauf
aufmerksam gemacht werden, daß sie sich um die Fortsetzung ihrer
Krankenversicherung kümmern müßten. Der Kläger solle sich einmal vorstellen,
welcher Aufwand damit betrieben werden müsse. Schließlich habe der Kläger vom
Arbeitsamt den Hinweis erhalten, sich unverzüglich mit der letzten Krankenkasse in
Verbindung zu setzen. Die Dreimonatsfrist zur Anzeige des Beitritts zur freiwilligen
Versicherung habe er versäumt. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand könne nicht
gewährt werden, weil ihn ein Verschulden an der Nichtbeachtung der Frist treffe und er
die Zweiwochenfrist des § 27 des Sozialgesetzbuchs - Verwaltungsverfahren - (SGB X)
versäumt habe. Den Widerspruch des Klägers vom 01.07.1996 wies der
Widerspruchsausschuß der Beklagten mit Widerspruchsbescheid vom 21.08.1996 als
unbegründet zurück.
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Mit der am 24.09.1996 bei dem Sozialgericht Duisburg (SG) erhobenen Klage hat der
Kläger geltend gemacht, seine Krankenversicherung über den 27.08.1995 hinaus im
Wege der freiwilligen Versicherung fortzuführen. Er sei davon ausgegangen, trotz der
Aufhebung der Arbeitslosenhilfebewilligung weiter bei der Beklagten krankenversichert
gewesen zu sein. Es seien unbeanstandet Leistungen in Anspruch genommen worden
sein.
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Das SG hat die Klage mit Urteil vom 18.07.1997 abgewiesen. Die
Versicherungsberechtigung des Klägers scheitere gem. § 9 Abs. 2 SGB V daran, daß er
der Beklagten nicht innerhalb von drei Monaten nach Beendigung der
Pflichtmitgliedschaft den Beitritt zur freiwilligen Versicherung angezeigt habe. Da der
Kläger nicht ohne Verschulden gehindert gewesen sei, die Frist einzuhalten, komme die
Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht in Betracht. Die
Belehrung durch den Vordruck des Arbeitsamtes sei ausreichend. Der Kläger habe
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auch nicht aufgrund des Besitzes der Krankenversicherungskarte auf den Bestand des
Versicherungsschutzes vertrauen dürfen. Der sozialrechtliche Herstellungsanspruch
komme nicht in Betracht, weil ein der Beklagten zurechenbarer Beratungsfehler nicht
vorliege. Eine Beratungspflicht von Amts wegen, also unverlangt, bestehe nicht.
Gegen das am 18.08.1997 zugestellte Urteil des SG hat der Kläger am 17.09.1997
Berufung eingelegt. Die Beklagte habe mit der fortgesetzten Leistungsgewährung einen
Vertrauenstatbestand geschaffen. Sie habe im Verhältnis zum Kläger eine besondere
Betreuungspflicht gehabt. So habe es ihr zumindest oblegen, unverzüglich die
Versicherungskarte zurückzufordern und dem Kläger dadurch rechtzeitig die Rechtslage
zur Kenntnis zu bringen.
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Der Kläger beantragt,
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das Urteil des Sozialgerichts Duisburg vom 18.07.1997 zu ändern und die Beklagte
unter Aufhebung des Bescheides vom 20.06.1996 in der Fassung des
Widerspruchsbescheides vom 21.08.1996 zu verurteilen, seine Krankenversicherung ab
dem 29.08.1995 als freiwillige Versicherung fortzuführen.
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Die Beklagte beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Die Beklagte trägt vor: Das Arbeitsamt habe im Rahmen des Meldeverfahrens zwischen
Kranken- und Arbeitslosenversicherung den Kläger bei der Beklagten am 19.09.1995
zum 28.08.1995 abgemeldet. Üblicherweise erhielten die ehemaligen Versicherten
dann automatisch ein Schreiben mit der Bitte, die Krankenversicherungskarte
zurückzusenden. Bei erstmaliger Übersendung der Karte würden die Mitglieder
automatisch durch ein Anschreiben über die Gültigkeitsdauer informiert. Es sei davon
auszugehen, daß dies auch bei dem Kläger geschehen sei. Bewilligungsbescheide des
Arbeitsamtes enthielten den Hinweis auf die mit dem Leistungsbezug verbundene
Mitgliedschaft in einer Krankenkasse. Ein Beratungsbedarf des Klägers sei für die
Beklagte nicht ersichtlich gewesen. Die Inanspruchnahme ärztlicher bzw. zahnärztlicher
Leistungen mittels der Krankenversicherungskarte könne die Beklagte nicht ermitteln.
Auf der Grundlage der Mindestbemessungsgrundlage ergebe sich im Falle des
Obsiegens des Klägers für die Zeit bis zum 30.09.1998 eine Beitragsforderung i.H.v.
7092,84 DM. Die Höhe der dagegenstehenden Leistungen sei unbekannt.
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Der Berichterstatter hat in einem Erörterungstermin den Zeugen N vernommen. Der
Zeuge hat bekundet, daß er den Kläger anläßlich der Vorsprache wegen einer
Zuzahlungsbefreiung auf den fehlenden Versicherungsschutz hingewiesen habe. Der
Kläger sei ungehalten gewesen. Was der Kläger genau gesagt habe, wisse er nicht
mehr. Er könne auch nicht sagen, ob der Kläger überrascht gewesen sei. Ein
ausführliches Gespräch sei wegen Sprachschwierigkeiten nicht zustande gekommen.
Nach seinem Kenntnisstand werde bei Eingang einer Abmeldung des Arbeitsamtes
durch die EDV automatisch die Rückforderung des Versichertenausweises veranlaßt.
Genau könne er dies aber nicht sagen.
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Der Internist Dr. L hat auf gerichtliche Anfrage am 20.07.1998 mitgeteilt, daß er den
Kläger am 24.07.1995, 25.03.1996, 11.04.1996 und 25.04.1996 behandelt habe.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Prozeßakte
und die Verwaltungsakten der Beklagten, der Bundesanstalt für Arbeit, des
Versorgungsamtes E und der BG Bezug genommen. Diese Akten haben vorgelegen
und sind ihrem wesentlichen Inhalt nach Gegenstand der mündlichen Verhandlung
gewesen.
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Entscheidungsgründe:
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Die Berufung des Klägers ist zulässig und begründet. Das SG hat die Klage zu Unrecht
abgewiesen, weil dem Klager im Wege der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand die
Berechtigung zur freiwilligen Fortsetzung der Krankenversicherung bei der Beklagten
einzuräumen ist.
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Die Pflichtversicherung des Klägers aufgrund des Bezuges von Arbeitslosenhilfe endete
gem. § 5 Abs. 1 Nr. 2 SGB V i.V.m. § 155 Abs. 3 Satz 2 AFG (seit 01.01.1998: § 190
Abs. 12 SGB V) mit Ablauf des letzten Tages, für den die Leistung bezogen worden ist,
also am 28.08.1995. Das Ende der Mitgliedschaft trat kraft Gesetzes ein, ohne daß es
einer bescheidmäßigen Feststellung durch die Beklagte bedurfte (vgl. KassKomm-
Peters, § 190 SGB V RdNr. 3; Leitherer in: Schulin, HS-KV, § 19 RdNr. 216).
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Der Kläger war nach § 9 Abs. 1 Nr. 1 SGB V weiterversicherungsberechtigt. Er erfüllte
die Vorversicherungszeit dieser Vorschrift. Er hätte der Beklagten den Beitritt zur
freiwilligen Versicherung gem. § 9 Abs. 2 Nr. 1, § 188 Abs. 3 SGB V innerhalb von drei
Monaten nach Beendigung der Pflichtmitgliedschaft schriftlich anzeigen müssen. Dies
ist nicht erfolgt. Die Versicherungsberechtigung besteht jedoch ungeachtet dieses
Fristversäumnisses, weil der Kläger ohne Verschulden verhindert war, die
Beitrittserklärung zur freiwilligen Weiterversicherung rechtzeitig abzugeben.
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Nach § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist auf Antrag demjenigen Wiedereinsetzung in den
vorigen Stand zu gewähren, der ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Frist
einzuhalten. Der Rechtsanspruch auf Gewährung von Wiedereinsetzung greift auch
dann ein, wenn eine hier vorliegende materiell-rechtliche Ausschlußfrist unverschuldet
versäumt worden ist (vgl. BSGE 64, 153, 155 ff.; BSGE 73, 56, 58 f. = SozR 3 - 1200 §
14 Nr. 9). Ein krankenversicherungsrechtlicher Ausschluß der Wiedereinsetzung liegt
nicht vor (§ 27 Abs. 5 SGB X; KassKomm-Peters, § 9 SGB V RdNr. 31, § 8 SGB V RdNr.
20).
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Der Kläger war unverschuldet verhindert, die Beitrittsfrist zu wahren, weil die Beklagte
ihn nach dem Ende der Versicherungspflicht nicht auf die Form- und Fristerfordernisse
der Beitrittserklärung zur freiwilligen Weiterversicherung hingewiesen hat. Die
Rechtsunkenntnis des Klägers ist wegen dieser Verletzung der sozialbehördlichen
Beratungspflicht als unverschuldet i.S. des § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB X anzusehen.
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Aufgrund der Beratungspflicht aus § 14 des Sozialgesetzbuchs - Allgemeiner Teil -
(SGB I) ist ein Versicherungsträger gehalten, auf klar zu Tage liegende
Gestaltungsmöglichkeiten hinzuweisen, die sich offensichtlich als zweckmäßig
aufdrängen und die von jedem verständigen Versicherten mutmaßlich genutzt werden
(BSG SozR 3 - 1200 § 14 Nr. 5 und Nr. 6, jeweils m.w.Nw.). In der Rechtsprechung ist
anerkannt, daß Versicherungsträger trotz Nichtvorliegens eines Beratungsbegehrens
gehalten sind, Versicherte bei einem konkreten Anlaß von sich aus "spontan" auf solche
klar zu Tage liegende Gestaltungsmöglichkeiten hinzuweisen (BSGE 41, 126, 128 =
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SozR 7610 § 242 Nr. 5; BSGE 46, 124, 126 = SozR 2200 § 1290 Nr. 11; BSGE 60, 79,
86 = SozR 4100 § 100 Nr. 11; BSG SozR 3 - 5750 Art. 2 § 6 Nr. 7, Bl. 30 f.; BSG, Urteil
vom 26.10.1994 - 11 RAr 5/94 -, Umdr. S. 6). Darin liegt keine Überforderung der
Sozialleistungsträger. Die engen Verknüpfungen der verschiedenen Zweige der
sozialen Sicherung, die von Betroffenen oftmals nicht überschaut werden, machen es
erforderlich, die Beratungspflicht der Versicherungsträger dahin abzugrenzen, daß
Versicherte zumindest auf Fragen, die für die Aufrechterhaltung des
Versicherungsschutzes oder erhebliche Leistungsnachteile bedeutsam sind, bei
konkretem Anlaß hingewiesen werden (BSGE 73, 56, 59 ff. m.w.Nw.; s.a. BSG SozR 3 -
2600 § 58 Nr. 2, Bl. 6 f.; BSG, Urteil vom 06.08.1992 - 8 RKn 9/91 -, Umdr. S. 5). Diese
Pflichtenstellung der Versicherungsträger bildet einen Gegenpol zu der komplexen
Sozialrechtsmaterie und ihrer häufig existenziellen Bedeutung für Versicherte, wobei
sich eine normative Begründung aus dem gesetzlichen Auftrag zur möglichst
weitgehenden Verwirklichung sozialer Rechte in § 2 Abs. 2 SGB I ergibt (BSG SozR 3 -
1200 § 14 Nr. 22, Bl. 74 f.; SG Dortmund, Breithaupt 1997, 587, 589).
Ein solcher konkreter Anlaß für eine "Spontanberatung" des Klägers durch die Beklagte
ist darin zu sehen, daß für die Krankenkasse aufgrund der Abmeldung des Klägers
durch das Arbeitsamt der Lauf der Dreimonatsfrist des § 9 Abs. 2 Nr. 1 SGB V erkennbar
war. Trotz der - inzwischen aufgegebenen - Verweisung in das Arbeitsförderungsrecht
sind die Krankenkassen Träger der Krankenversicherung der Arbeitslosen. Von daher
obliegt ihnen als zuständige Sozialversicherungsträger gegenüber bei ihnen
versicherten Arbeitslosen eine besondere Betreuungspflicht, die auch die
Aufrechterhaltung des Versicherungsschutzes nach dem Ende der Versicherungspflicht
umfaßt. Die jeweilige Krankenkasse hat aus dem vorbestehenden
Versicherungsverhältnis die nachgehende Nebenpflicht, den Betroffenen rechtzeitig
über die Möglichkeit und die Voraussetzungen der Aufrechterhaltung des
Versicherungsschutzes nach § 9 SGB V zu beraten, wobei die gesetzliche
Dreimonatsfrist besonders herauszustellen ist. Die Versicherungsberechtigung nach
Ablauf der Versicherungspflicht beruht nämlich darauf, daß von einem Fortbestehen der
sozialen Schutzbedürftigkeit ausgegangen wird. Sie stellt damit eine notwendige
Ergänzung der Versicherungspflicht dar (KassKomm-Peters, § 9 SGB V RdNr. 2).
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Dieser Zusammenhang ist für die Beklagte erkennbar bei dem Kläger gegeben: Als
Arbeitsunfallopfer und Schwerbehinderter (s.a. die hier nicht mehr greifende
Versicherungsberechtigung nach § 9 Abs. 1 Nr. 4, Abs. 2 Nr. 4 SGB V) ist der Kläger seit
Jahren auf Sozialleistungen angewiesen. Er gehört damit nicht zu dem Personenkreis,
der aufgrund seiner wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit für in der Lage gehalten wird,
das Krankheitsrisiko privat abzusichern (vgl. § 6 Abs. 1 Nr. 1 SGB V). Vor diesem
Hintergrund erhält die Beitrittsfrist des § 9 Abs. 2 SGB V eine besondere Bedeutung:
Nach Ablauf der Ausschlußfrist kommt die Rückkehr in die gesetzliche
Krankenversicherung außerhalb der erneuten Verwirklichung eines
Versicherungspflichttatbestandes nicht mehr in Betracht.
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Auf die bei fehlendem anderweitigem Krankenversicherungsschutz - z.B. im Rahmen
der Familienversicherung - offensichtlich zweckmäßige rechtzeitige Beitrittserklärung
zur freiwilligen Weiterversicherung hätte die Beklagte nach der Abmeldung aus dem
Leistungsbezug der Arbeitsverwaltung isoliert oder im Zusammenhang mit der
Rückforderung der Krankenversicherungskarte hinweisen müssen. Die Krankenkasse
hat gem. § 291 Abs. 4 SGB V bei Beendigung des Versicherungsschutzes die
Krankenversicherungskarte von dem Versicherten einzufordern. Ein Kontakt mit dem
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Versicherten aus Anlaß der Beendigung der Mitgliedschaft ist demnach gesetzlich
vorgesehen. Die Beklagte trägt vor, sie übersende regelmäßig eine Auffordung zur
Rückgabe der Krankenversicherungskarte, wobei der Zeuge N dies bezogen auf den
Kläger nicht ausdrücklich bestätigen konnte. Weder das von der Beklagten vorgelegte
Anschreiben an eine andere Versicherte bezüglich der Kartenrückgabe noch das
"Begrüßungsschreiben" enthalten einen Hinweis auf die befristete Möglichkeit zur
Weiterversicherung nach dem Ende der Versicherungspflicht.
Die Beklagte kann sich auch nicht entlasten, indem sie auf Bewilligungsbescheide und
den Leistungsnachweis des Arbeitsamtes verweist. Der von ihr vorgelegte
Arbeitslosenhilfebescheid enthält lediglich den Hinweis, daß der Arbeitslose bei der
AOK L kranken- und pflegeversichert und zuständiger Rentenversicherungszweig die
Rentenversicherung der Arbeiter sei. Der Aufhebungsbescheid des Arbeitsamtes X vom
24.08.1995 verhält sich überhaupt nicht zu krankenversicherungsrechtlichen Folgen der
Leistungseinstellung. Lediglich der Leistungsnachweis vom 29.08.1995 enthält den
wörtlich wiedergegebenen Hinweis. Dieser ist indes nicht ausreichend: Zwar hätte dem
Kläger bei der ihm abzuverlangenden Lektüre - ggfs. nach Übersetzung - klar werden
müssen, daß eine Krankenversicherung durch das Arbeitsamt nicht mehr erfolgte. Ein
allgemeiner Hinweis auf die Möglichkeit der Weiterversicherung war vorhanden.
Entscheidend ist jedoch, daß die laufende Ausschlußfrist und die Notwendigkeit einer
schriftlichen Beitrittserklärung bei der Beklagten nicht erwähnt wurden. Darüber hinaus
wäre es angesichts der Bedeutung der Weiterversicherung in der gesetzlichen
Krankenversicherung auch nicht angemessen, diese Belehrung am Ende eines zur
Vorlage bei Finanzamt und Rentenversicherungsträger bestimmten
Leistungsnachweises "zu verstecken".
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Der von der Bundesanstalt für Arbeit gegebene Hinweis ist somit nicht geeignet, die
primär der Beklagten obliegende individuelle Beratung des Klägers zu ersetzen. Nach
den Umständen ist davon auszugehen, daß der Kläger die Dringlichkeit einer Beratung
durch die Beklagte trotz des allgemeinen Hinweises in dem arbeitsamtlichen
Leistungsnachweis nicht realisiert hat. Angesichts der Weitergewährung von
Krankenbehandlungsleistungen konnte bei dem eher ungebildeten Kläger der Eindruck
bestehen, daß aus einem anderen Grunde als dem AFG- Leistungsbezug (z.B.
fortbestehende Arbeitslosigkeit, Unfallrentenbezug mit Heilbehandlungsanspruch,
Schwerbehinderung) die Krankenversicherung fortgeführt würde. Dies kommt
insbesondere dann in Betracht, wenn die Rückforderung der
Krankenversicherungskarte unterblieben ist. Hierfür spricht, daß die Beklagte ansonsten
bei Nichtrückgabe nachgefaßt hätte.
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Das fehlende Verschulden des Klägers i.S. des § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB X folgt
schließlich daraus, daß die Pflichtverletzung der Beklagten ursächlich für den
sozialrechtlichen Schaden des Klägers in Gestalt des Ausschlusses von der freiwilligen
Fortsetzung des Versicherungsverhältnisses ist. Mangels sinnvoller
Handlungsalternativen (der unfallversicherungsrechtliche Heilbehandlungsanspruch ist
beschränkt auf den durch den Arbeitsunfall verursachten Gesundheitsschaden, § 556
Abs. 1 Nr. 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) a.F., § 26 Abs. 2 Nr. 1 des
Sozialgesetzbuchs - Gesetzliche Unfallversicherung - (SGB VII)) ist davon auszugehen,
daß der Kläger bei rechtzeitiger Beratung fristgemäß den Beitritt zur freiwilligen
Krankenversicherung bei der Beklagten erklärt hätte. Die verletzte
Spontanberatungspflicht der Beklagten ist darauf gerichtet, gerade die hier eingetretene
Versäumung der rechtzeitigen Beitrittserklärung bei Beendigung der
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Versicherungspflicht zu verhindern (Schutzzweckzusammenhang zwischen
Pflichtverletzung und sozialrechtlichem Nachteil, vgl. zum sozialrechtlichen
Herstellungsanspruch: BSG SozR 3 - 2600 § 58 Nr. 2, Bl. 5 f.).
Die Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand scheitert nicht an den
Handlungsfristen des § 27 SGB X.
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Die Jahresfrist des § 27 Abs. 3 SGB X hat der Kläger gewahrt.
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Die Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist innerhalb von zwei
Wochen nach Wegfall des Hindernisses zu beantragen. Innerhalb der Antragsfrist ist die
versäumte Handlung nachzuholen (§ 27 Abs. 2 Satz 1, Satz 3 SGB X).
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Nicht feststellbar ist, an welchem Tag im April 1996 der Kläger bei der Beklagten wegen
der Zuzahlungsbefreiung vorgesprochen hat. Nach dem diesbezüglichen
handschriftlichen Aktenvermerk in den Unterlagen der Beklagten soll es sich um den
07.04.1996 gehandelt haben. Da dieser Tag Ostersonntag war, dürfte die Angabe
unzutreffend sein. Der Kläger will Ende April vorgesprochen haben. Weil er sich ab dem
28.04.1996 in stationärer Behandlung befand, muß die Vorsprache und damit die
Kenntnisnahme von dem Fristversäumnis zuvor erfolgt sein. Hierfür spricht, daß sich der
Kläger am 17.04.1996 bei der BG nach einer Übernahme von
Krankenversicherungsbeiträgen erkundigt hat. Die Zweiwochenfrist des § 27 Abs. 2
SGB X wäre somit bei Eingang des Weiterversicherungsantrages am 14.05.1996
abgelaufen gewesen. Der Senat geht jedoch aufgrund des Aktenvermerkes der
Beklagten und der Bekundungen des Zeugen N davon aus, daß der Kläger bereits bei
der Vorsprache im April 1996 hinreichend deutlich zum Ausdruck gebracht hat, daß er
bei der Beklagten weiterhin versichert seien möchte und damit rechtzeitig - in seinen
Worten - die Gewährung von Wiedereinsetzung beantragt hat. Da die Beklagte
daraufhin nicht die erforderliche schriftliche Beitrittserklärung des Klägers
aufgenommen, sondern ihn mit wenig zweckmäßigen Hinweisen auf andere
Leistungsträger in die Irre geleitet hat, ist dem Kläger hinsichtlich der Nachholung der
Beitrittserklärung gem. § 27 Abs. 2 Satz 3 SGB X ebenfalls Wiedereinsetzung in den
vorigen Stand zu gewähren.
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Der Kläger ist so zu behandeln, als hätte er die schriftliche Beitrittserklärung fristgerecht
abgegeben. Die Mitgliedschaft in der freiwilligen Krankenversicherung hat deshalb gem.
§ 188 Abs. 2 SGB V am 29.08.1995 begonnen.
35
Der Senat braucht nicht zu entscheiden, ob der bei einer Beratungspflichtverletzung
ebenfalls einschlägige sozialrechtliche Herstellungsanspruch durch die Anwendbarkeit
des § 27 SGB X verdrängt wird (bejahend: BVerwG NJW 1997, 2966; verneinend:
Schneider-Danwitz in: Bley u.a., Gesamtkommentar Sozialversicherung, Band 4, § 27
SGB X Anm. 9 b und KassKomm- Krasney, § 27 SGB X RdNr. 2).
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Die Revision wird wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen (§
160 Abs. 2 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes- SGG -). So hat der 12. Senat des BSG in
einer Entscheidung vom 11.05.1993 (SozR 3 - 2200 § 176 b Nr. 1, Bl. 6) ausdrücklich
offengelassen, ob sich wegen der Bedeutung des Krankenversicherungsschutzes aus §
14 SGB I eine Hinweispflicht auf die freiwillige Weiterversicherung ergibt.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
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