Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 01.03.2011

LSG NRW: sinn und zweck der norm, auflage, ermessen, post, durchschnitt, rechtsschutzinteresse, einverständnis, erlass, bischof, mündlichkeit

Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen
Beschluss vom 01.03.2011 (rechtskräftig)
Sozialgericht Detmold S 4 AS 69/08 ER
Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen L 7 B 247/09 AS
Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Detmold vom 26.05.2009 geändert. Die
dem Antragsteller aus der Staatskasse zu zahlenden Gebühren und Auslagen werden auf 476,00 Euro festgesetzt. Im
Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.
Gründe:
I. Streitig ist die Höhe der erstattungsfähigen Rechtsanwaltsgebühren im Rahmen der durch das Sozialgericht (SG)
Detmold für ein Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes bewilligten Prozesskostenhilfe.
Mit Beschluss vom 05.08.2008 hat das SG den Antragstellern des Ausgangsverfahrens Prozesskostenhilfe für das
einstweilige Anordnungsverfahren bewilligt und den Beschwerdeführer, Rechtsanwalt O aus M beigeordnet. Nach
Beendigung des Verfahrens machte der Beschwerdeführer mit Kostenrechnung vom 10.09.2008 folgende Gebühren
gegen die Staatskasse geltend:
Verfahrensgebühr für 3 weitere Auftraggeber Nr. 3102, 1008 VV RVG 475,00 Euro Terminsgebühr Nr. 3106 VV RVG
200,00 Euro Post- und Telekommunikationspauschale Nr. 7002 VV RVG 20,00 Euro 19% Umsatzsteuer gemäß Nr.
7008 VV RVG 132,05 Euro Summe 827,05 Euro
Mit Kostenfestsetzungsbeschluss vom 23.09.2008 setzte der Urkundsbeamte der Geschäftsstelle des Sozialgerichts
die Gebühren und Auslagen wie folgt fest:
Verfahrensgebühr für 3 weitere Auftraggeber 187,50 + 90 v.H. 356,25 Euro Post- und Telekommunikation Nr. 7002 VV
RVG 20,00 Euro Nettobetrag 376,25 Euro 19% Umsatzsteuer 71,49 Euro Gesamtbetrag 447,74 Euro
Zur Begründung führte er aus, die von dem Prozessbevollmächtigten der Antragsteller angesetzte Gebühr sei unbillig.
Eine Minderung der Mittelgebühr um moderate 25 v.H. sei sachgerecht. Wegen Nr. 1008 VV RVG sei der geminderte
Betrag von 187,50 Euro um 90 v.H. bei vier vertretenen Mandanten und entsprechenden Beiordnungen sachgerecht.
Des Weiteren verneinte er die Voraussetzungen für die Entstehung einer fiktiven Terminsgebühr.
Hiergegen legte der Beschwerdeführer am 23.10.2008 Erinnerung ein und trug zur Begründung vor, dass die
Verfahrensgebühr jedenfalls in Höhe der Mittelgebühr entstanden sei. Die Angelegenheit sei insgesamt von
wenigstens durchschnittlicher Schwierigkeit gewesen. Zudem sei eine fiktive Terminsgebühr nach Nr. 3106 VV RVG
entstanden, weil der Rechtsstreit durch die Annahme des Anerkenntnisses der Antragsgegnerin des
Ausgangsverfahrens beendet worden sei.
Nachdem der Urkundsbeamte der Geschäftsstelle der Erinnerung nicht abgeholfen hatte, hat das SG mit Beschluss
vom 26.05.2009 die Erinnerung gegen den Kostenfestsetzungsbeschluss vom 23.09.2008 zurückgewiesen und zur
Begründung auf die Ausführungen im Kostenfestsetzungsbeschluss verwiesen.
Gegen den ihm am 09.06.2009 zugestellten Beschluss hat der Beschwerdeführer am 22.06.2009 Beschwerde
eingelegt und seine Begründung aus dem Erinnerungsverfahren wiederholt.
Der Beschwerdegegner ist der Auffassung, dass die angefochtene Entscheidung nicht zu beanstanden sei.
Ergänzend trägt er vor, dass eine fiktive Terminsgebühr im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nicht entstehe.
II.
Das Landessozialgericht entscheidet über die Beschwerde gemäß den §§ 56 Abs. 2 Satz 1, 33 Abs. 8 des
Rechtsanwaltsvergütungsgesetzes (RVG) durch den Berichterstatter als Einzelrichter. Die Sache weist keine
besonderen Schwierigkeiten rechtlicher oder tatsächlicher Art auf. Die Rechtssache hat auch keine grundsätzliche
Bedeutung (mehr), nachdem der Senat in der Besetzung mit drei Berufsrichtern im Beschluss vom 24.02.2011 (L 7 B
400/08 AS) das Entstehen einer fiktiven Terminsgebühr im einstweiligen Rechtsschutzverfahren verneint und seine
bisherige gegenteilige Auffassung aufgegeben hat.
Das Rubrum war von Amts wegen zu korrigieren. Antragsteller und Beschwerdeführer ist in Verfahren, die die Höhe
der Rechtsanwaltsvergütung bei gewährter Prozesskostenhilfe betreffen, der Rechtsanwalt selbst. Beschwerdegegner
ist die Landeskasse, vertreten durch den Bezirksrevisor. Die durch die Prozesskostenhilfe begünstigte Partei ist nicht
beteiligt (vgl. Hartmann, Kostengesetze, 40. Auflage 2010; § 56 RVG, Rn. 2-4; LSG NRW, Beschluss vom
24.11.2010, L 9 AS 878/10 B; LSG NRW, Beschluss vom 13.02.2009, L 12 B 159/08 AS; LSG NRW, Beschluss vom
15.07.2009, L 20 B 27/09 AS).
Die Beschwerde des Beschwerdeführers, der das SG nicht abgeholfen hat, ist gemäß § 56 Abs. 2 i.V.m. § 33 Abs. 3
Satz 1 RVG zulässig, weil der Wert des Beschwerdegegenstandes 200,00 Euro übersteigt. Sie wurde auch
fristgerecht eingelegt (§§ 56 Abs. 2, 33 Abs. 3 Satz 3 RVG).
Die Beschwerde ist jedoch nur hinsichtlich der Verfahrensgebühr teilweise begründet. Zu Recht hat das SG die
Voraussetzungen einer "fiktiven" Terminsgebühr verneint.
Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 14 Abs. 1 Satz 1 RVG sind bei der Bestimmung der
Rechtsanwaltsvergütung alle Umstände des Einzelfalles, insbesondere Bedeutung der Angelegenheit, Umfang und
Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit sowie die Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Antragstellers zu
berücksichtigen. Die Bestimmung der Gebühren liegt im pflichtgemäßen Ermessen des Anwalts.
Nach diesen Maßstäben ist die von dem Beschwerdeführer geltend gemachte Verfahrensgebühr unbillig. Die
Verfahrensgebühr ist aus dem in Nr. 3102 VV aufgeführten Gebührenrahmen zu bestimmen, sodass die
Mindestgebühr bei 40,00 Euro und die Höchstgebühr bei 460,00 Euro, mithin die Mittelgebühr bei 250,00 Euro liegt.
Ausgangspunkt ist stets die Mittelgebühr.
Der Umstand allein, dass ein Verfahren gemäß § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG betrieben worden ist, rechtfertigt keine
Kürzung. Der kürzeren Verfahrensdauer steht in der Regel die gedrängte Bearbeitung und die Dringlichkeit gegenüber,
so dass insoweit eine Kompensation stattfindet (vgl. Sächsisches Landessozialgericht, Beschluss vom 07.02.2008, L
6 B 33/08 AS-KO). Gleichwohl ist die Mittelgebühr im vorliegenden Fall unter Berücksichtigung der Kriterien des § 14
RVG nicht gerechtfertigt. In Abweichung zur Entscheidung des SG hält der Senat jedoch einen Betrag in Höhe von
200,00 Euro für angemessen. Der Umfang und die Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit erwiesen sich als
unterdurchschnittlich. Der Beschwerdeführer hat den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung in seinem
vierseitigen Schriftsatz vom 31.07.2008 begründet. Allerdings ist dies auch der einzige Schriftsatz mit derartigen
Ausführungen. Der weitere Schriftsatz vom 10.09.2008 beinhaltete bereits die Erledigungserklärung. Im zuvor unter
dem 08.08.2008 übersandten Schriftsatz ging der Bevollmächtigte bereits selbst davon aus, dass aufgrund des
Bewilligungsbescheides vom 29.07.2008 ein Rechtsschutzinteresse nicht mehr gegeben ist. Der Gegenstand des
Verfahrens betraf Leistungen nach dem SGB II, die die Antragsgegnerin des Ausgangsverfahrens mangels
Hilfebedürftigkeit wegen Verwertbarkeit eines Hausgrundstückes zunächst abgelehnt hatte. Die Einkommens- und
Vermögensverhältnisse der Antragsteller im Ausgangsverfahren liegen unter dem Durchschnitt. In den allermeisten
Fällen im Grundsicherungsbereich gehen jedoch, wie hier, schlechte Einkommens- und Vermögensverhältnisse mit
einer überdurchschnittlichen Bedeutung der Angelegenheit einher, sodass insoweit in der Regel eine Kompensation
eintritt (BSG, Urteil vom 01.07.2009, B 4 AS 21/09 R).
Hingegen kann der Beschwerdeführer eine "fiktive" Terminsgebühr nicht geltend machen. Die Voraussetzungen für
eine Terminsgebühr sind nicht gegeben. Diese ist nach Nr. 3106 des Vergütungsverzeichnisses (VV) der Anlage 1
zum RVG nicht angefallen. Grundsätzlich fällt eine Terminsgebühr an, wenn tatsächlich eine mündliche Verhandlung
stattgefunden hat. In den folgenden Nummern des Nr. 3106 VV RVG sind die Ausnahmefälle geregelt, in denen auch
ohne Termin eine sog. fiktive Terminsgebühr anfällt. Danach entsteht die Terminsgebühr in Verfahren vor den
Sozialgerichten, in denen Betragsrahmengebühren entstehen (§ 3 RVG) auch, wenn 1. in einem Verfahren, für das
mündliche Verhandlung vorgeschrieben ist, im Einverständnis mit den Parteien ohne mündliche Verhandlung
entschieden wird, 2. nach § 105 Abs. 1 SGG ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid entschieden wird
oder 3. das Verfahren nach angenommenen Anerkenntnis ohne mündliche Verhandlung endet.
Die Voraussetzungen der hier allein in Betracht kommenden Nr. 3 liegen nicht vor. Eine fiktive Terminsgebühr fällt in
Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes nicht an. Der Senat gibt seine abweichende Rechtsprechung (vgl. hierzu
Senatsbeschluss vom 24.02.2011, L 7 B 400/08 AS, unter Aufgabe der im Senatsbeschluss vom 26.04.2007, L 7 B
36/07 AS vertretenen Auffassung) insoweit auf. Zwar lässt sich zur Überzeugung des Senats die Rechtsfolge nicht
unmittelbar dem Wortlaut der Nr. 3 entnehmen. Dementsprechend wird zum Teil in Rechtsprechung und Literatur die
Auffassung vertreten, dass auch ein Anerkenntnis in einem Eilverfahren eine fiktive Terminsgebühr begründet (vgl.
LSG NRW, Beschluss vom 14.07.2010, L 1 AS 57/10 B unter Aufgabe seiner abweichenden Rechtsprechung;
Thüringer Landessozialgericht, Beschluss vom 26.11.2008, L 6 B 130/08 SF, Rn. 25; LSG NRW, Beschluss vom
18.09.2008, L 5 B 43/08 KR; Müller-Rabe in Gerold/Schmidt, Kommentar zum RVG, 19. Aufl. 2010, Nr. 3106 VV RVG
Rn. 6). Der Wortlaut der Nr. 3 lässt jedoch durchaus auch die Auslegung zu, dass hier nur eine Regelung in Bezug auf
solche Verfahren getroffen wurde, die regelmäßig aufgrund mündlicher Verhandlung entschieden werden. Jedenfalls
Sinn und Zweck der Norm sprechen dafür, dass Verfahren, die eine mündliche Verhandlung nicht zwingend erfordern
und im Regelfall durch Beschluss entschieden werden, einen Anspruch auf die Terminsgebühr nach Nr. 3106 VV-RVG
nicht auslösen (LSG NRW, Beschluss vom 03.01.2011, L 6 AS 1399/10 B, Beschluss vom 22.12.2010, L 19 AS
1138/10 B; Beschluss vom 24.11.2010, L 9 AS 878/10 B; Beschluss vom 03.03.2010, L 12 B 141/09 AS; Beschluss
vom 21.01.2010; Beschluss vom 20.10.2008, L 20 B 67/08 AS; Sächsisches LSG, Beschluss vom 7.2.2008, L 6 B
33/08 AS-KO, Rn. 48; VG Bremen, Beschluss vom 20.4.2009, S 4 E 518/09; SG Berlin, Beschluss vom 30.1.2009, S
165 SF 5/09 E; Curkovic in Bischof/Jungbauer/Bräuer/Curkovic/Mathias/Uher, Kommentar zum RVG, 3. Aufl. 2009,
Nr. 3106 VV RVG Rn. 7; siehe auch BVerwG, Beschluss vom 5.12.2007, 4 KSt 1007/07 bezogen auf Nr. 3104 Abs. 1
VV RVG; BGH, Beschluss vom 25.9.2007, VI ZB 53/06). Nach Nr. 3 soll vermieden werden, dass der Rechtsanwalt
von einer schriftlichen Annahmeerklärung absieht, damit ein Termin durchgeführt wird. Er soll bei einer schriftlichen
Annahmeerklärung nicht um eine Terminsgebühr gebracht werden, die im Klageverfahren grundsätzlich anfällt. Anders
als in Klageverfahren (§ 124 Abs. 1 SGG) ist in den Verfahren nach § 86b SGG eine mündliche Verhandlung jedoch
nicht vorgeschrieben. Im Regelfall ergeht eine Entscheidung nach § 86b SGG durch Beschluss ohne mündliche
Verhandlung (§ 124 Abs. 3 i. V. m. § 86b Abs. 4 SGG). Dies bedeutet, dass das Gericht nach Ermessen entscheidet,
ob eine mündliche Verhandlung anberaumt wird oder nicht (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, Kommentar
zum SGG, 9. Auflage 2008, § 124 Rn. 5). Die Beteiligten können eine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung
nicht verhindern, so dass keine Notwendigkeit besteht, eine (fiktive) Terminsgebühr zu gewähren, um
prozessökonomisches Verhalten des Rechtsanwalts nicht zu benachteiligen (VG Bremen, Beschluss vom 20.4.2009,
S 4 E 518/09). Diese Auslegung entspricht dem gesetzgeberischen Willen, der mit der Regelung bezweckte,
Rechtsanwälte, die an sich erwarten können, im Hinblick auf den Grundsatz der Mündlichkeit eine Terminsgebühr zu
verdienen, nicht gebührenrechtlich schlechter zu stellen, wenn sie durch eine bestimmte Verfahrensgestaltung auf
eine mündliche Verhandlung verzichten (vgl. BT-Drucks. 15/1971, S. 209).
Es ergibt sich folgende Berechnung:
Verfahrensgebühr gemäß Nr. 3102, 1008 VV RVG 380,00 Euro Auslagenpauschale gemäß Nr. 7002 VV RVG 20,00
Euro Nettobetrag 400,00 Euro 19% Umsatzsteuer gemäß Nr. 7008 VV RVG 76.00 Euro Summe 476,00 Euro
Die Beschwerde ist gebührenfrei; Kosten werden nicht erstattet (§ 56 Abs. 2 Satz 2 RVG).
Diese Entscheidung kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 56 Abs. 2
Satz 1, § 33 Abs. 4 Satz 3 RVG, § 177 SGG).