Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 13.03.2009

LSG NRW: zwangsarbeit, gegenleistung, arbeitskraft, arbeiter, bevölkerung, unterhalt, entgeltlichkeit, litauen, vermietung, arbeitsamt

Landessozialgericht NRW, L 13 R 35/06
Datum:
13.03.2009
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
13. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
L 13 R 35/06
Vorinstanz:
Sozialgericht Düsseldorf, S 54 (27) RJ 125/04
Sachgebiet:
Rentenversicherung
Rechtskraft:
nicht rechtskräftig
Tenor:
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts
Düsseldorf vom 11.01.2006 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
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Die Beteiligten streiten über einen Anspruch des Klägers auf Gewährung einer
Altersrente unter Berücksichtigung von Beitragszeiten nach dem ZRBG wegen
Beschäftigungen von Juli 1941 bis August 1943 in den Ghettos Widze, Swieciany und
Wilna (Litauen).
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Der 1920 geborene Kläger ist jüdischen Glaubens. Er lebt in Israel und besitzt die
israelische Staatsangehörigkeit. Der Kläger ist als Verfolgter des Nationalsozialismus
im Sinne des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG) anerkannt.
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Im Verfahren nach dem BEG gab er 1966 an, er sei im Ghetto Widze im Juli 1941 bis
zum Januar 1943, im Ghetto Swieciany von Januar 1943 bis März 1943 und von März
1943 bis August 1943 in Wilna inhaftiert gewesen.
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Im Verfahren um eine Entschädigung nach dem Art. 2-Fonds der Claims Conference
gab der Kläger im April 1995 an, er habe von 1941 bis Januar 1943 im Ghetto Widze
unter menschenunwürdigen Bedingungen gelebt, als man ihn zuerst ins Ghettos
Swieciany und später ins Ghetto Vilnius überführt habe. Die ganze Zeit habe er auch
schwerste Zwangsarbeit geleistet.
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Mit Schriftsatz vom 29.10.2002 beantragte der Kläger bei der Beklagten die Gewährung
einer Regelaltersrente unter Hinweis auf die- Vorschriften des Gesetzes zur Zahlbarma-
chung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto (ZRBG). Zur Begründung gab
er an, er habe außerhalb verschiedener Ghettos (Ghetto Widze von Juli 1941 bis Januar
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1943, Ghetto Swieciany von Januar 1943 bis März 1943 und Ghetto Wilna von März
1943 bis August 1943) gearbeitet. Im Ghetto Widze habe er in einer Werkstatt Filzstiefel
angefertigt. Sie hätten Filz aus Wolle hergestellt. In den beiden anderen Ghettos habe er
Wohnungen deutscher Soldaten gereinigt. Nicht auf dem Weg, aber während der Arbeit
sei er von deutschen Soldaten und lokaler Polizei bewacht worden. Für die Arbeit, die
ihm vom Judenrat vermittelt worden sei, habe er Lebensmittelkarten erhalten. Sie hätten
gearbeitet, um nicht ins KZ geschickt zu werden. Die Fragen nach dem Erhalt von
Barlohn und Sachbezügen verneinte der Kläger.
Mit Bescheid vom 15.09.2003 lehnte die Beklagte den Rentenantrag des Klägers ab.
Sie führte zur Begründung aus, unter Berücksichtigung der Gesamtumstände, etwa der
Bewa chung des Klägers während der Arbeit, habe es sich bei den behaupteten
Tätigkeiten um Zwangsarbeit gehandelt.
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Dagegen erhob der Kläger rechtzeitig Widerspruch, den die Beklagte mit
Widerspruchsbescheid vom 30.11.2004 zurückwies.
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Am 02.12.2004 hat der Kläger Klage erhoben. Er habe sich in den drei Ghettos über die
Verwaltung des Judenrates freiwillig verschiedene Tätigkeit als Arbeiter gesucht. Er
habe für die Tätigkeit einen Lohn in Form von Sachbezügen und Lebensmittelkarten
erhalten. Das empfangene Entgelt habe die geforderte Geringfügigkeitsgrenze
überstiegen. Angaben über eine freiwillige Arbeitsaufnahme und Entlohnung seien im
Entschädigungsverfahren nicht abgefragt worden und ohne Bedeutung gewesen. Die
Entlohnung habe eine wesentliche Gegenleistung für die geleistete Arbeit dargestellt
und sei von erheblicher wirtschaftlicher Bedeutung gewesen. Daher sei sie über den
Umfang freien Unterhalt hinausgegangen.
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Die Beklagte hat dem entgegengehalten, dass die Entlohnung durch Lebensmittelkarten
nicht das Merkmal der Entgeltlichkeit erfülle.
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Mit dem angefochtenen Urteil vom 11.01.2006 hat das Sozialgericht die auf Gewährung
einer Regelaltersrente unter Berücksichtigung von Beitragszeiten von Juli 1941 bis
August 1943 gerichtete Klage abgewiesen. Der Kläger habe nicht glaubhaft gemacht,
dass er entgeltlich im Sinne von § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1lit b ZRBG tätig geworden sei.
Dem stehe § 1227 RVO a.F. entgegen, weil nichts dafür spreche, dass der Kläger
mittels der Lebensmittelkarten Naturalien in einem Umfang und einer Regelmäßigkeit
bezogen habe, der über das für die Selbstversorgung erforderliche Maß
hinausgegangen sei. Substantiiert vorgetragen habe der anwaltlich vertretene Kläger
dies nicht.
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Überdies sei auch ein freies Beschäftigungsverhältnis nicht überwiegend
wahrscheinlich, weil der Kläger von Bewachung bei der Arbeit berichtet habe. Zudem
habe er im Verfahren vor der Jewish Claims Conference von schweren Zwangsarbeiten
gesprochen; dies entspreche den im BEG-Verfahren beigebrachten Zeugenaussagen.
Mit seiner rechtzeitig eingelegen Berufung verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. Er
führt aus, im Reichskommissariat Ostland sei die Entlohnung für Jude von den Gebiets
Kommissaren festgelegt worden. Allein dieser Entgeltanspruch führe zu einem
Rentenanspruch. Die Angaben im Entschädigungsverfahren seien von anderen
Zwecken geprägt gewesen. Mit schriftlicher Erklärung vom 5.9.2006 hat der Kläger
angegebenen, er habe als Bewohner des Ghettos Widze bis Januar 1943 außerhalb
des Ghettos in einer Werkstatt für Filzstiefeln gearbeitet. In beiden Ghettos habe er
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freiwillig Reinigungsarbeiten geleistet. Für die Lebensmittelkarten habe er in die
Lebensmittellagern Lebensmittel erhalten. Tätigkeiten für die Ghettoverwaltung seien
eindeutig keine Zwangsarbeiter gewesen. Die Versuche der Judenräte über in
Eigenregie betriebene Handwerksbetriebe in und außerhalb des Ghettos das Überleben
zu sichern, seien vielfach bezeugt. Der Kläger beantragt schriftsätzlich, unter
Abänderung des angefochtenen Urteils des Sozialgerichts Düsseldorf vom 11.1.2006
und unter Aufhebung des Bescheides vom 15.9.2003 in der Fassung des
Widerspruchsbescheids vom 30.11.2004 die Beklagte zu verurteilen, ihm eine
Versicherungsunterlage über die Tätigkeit nach dem ZRBG herzustellen und die
Regelaltersrente ab 01.07.1997 mit der Verfolgungszeit als Ersatzzeit zu zahlen. Die
Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen. Maßgebend für die Beurteilung von
Arbeitszeit nach dem ZRBG seien jeweils die Umstände des Einzelfalls. Aus dem
Gutachten ergäben sich keine wesentlichen neuen Erkenntnisse. Ein Entgeltzahlung
direkt an den Judenrat, der dann wiederum entschieden habe, ob und in welcher Form
diese Entgeltzahlung an die betroffenen Arbeitnehmer weitergeleitet wird, reiche für eine
Entgeltlichkeit nicht aus. Rentenversicherungspflicht entstehe nur dann, wenn das
Entgelt den Beschäftigten persönlich zufließe. Die Abführung von Beiträgen des
Arbeitgebers für geleistete Arbeit an Dienststellen des Staates oder an andere Stellen
stelle keine Entlohnung dar (unter Berufung auf BSG Urteil vom 10.12.1974 - 4 RJ
379/73). Auch die Verordnung vom 18.08.1941 über die Einführung des Arbeitszwangs
für die jüdische Bevölkerung in Reichskommissariat Ostland stehe einem entgeltlichen
Beschäftigungsverhältnis auf freiwilliger Basis entgegen (unter Hinweis auf LSG NRW,
Urteil vom 13.1.2006 - L 4 RJ 113/04). Der Senat hat Beweis erhoben durch Einholung
eines Gutachtens des Historikers Dr. Tauber vom 16.1.2007. Danach verfügt der
Gutachter über keine unmittelbaren Erkenntnisse zu der vom Kläger erwähnten
Filzstiefelwerkstatt. Ihre Existenz könne jedoch aufgrund der deutschen
Wirtschaftspolitik im Generalskommissariat Weißrussland als überwiegend
wahrscheinlich angesehen werden (wird ausgeführt, Blatt 58ff Gerichtsakte). Auch die
Vermittlung des Klägers durch den Judenrat in Arbeit entspreche den Gegebenheiten in
den Ghettos. Der Wert der als Gegenleistung empfangenen Nahrungsmittel sei weit
über freien Unterhalt hinausgegangen und nicht als geringfügige Leistung zu
betrachten. Soweit die schwierige Quellenlage es gestatte, sei die Darstellung des
Klägers zu seinen Beschäftigungsverhältnissen völlig glaubhaft. Alle allgemeinen
Angaben zu den Ghettos stimmten mit den historischen Kenntnissen überein. Der Senat
hat den Sachverständigen im Termin zur mündlichen Verhandlung zu den historischen
Umständen des Arbeitseinsatzes jüdischer Ghettoinsassen im "Reichskommissariat
Ostland" befragt (Bl. 119ff. GA). Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die
beigezogenen Verwaltungs- und die Gerichtsakte verwiesen.
Entscheidungsgründe:
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Der Senat konnte ohne den Kläger und seinen Prozessbevollmächtigten verhandeln
und entscheiden, weil die ordnungsgemäß zugestellte Ladung auf diese Möglichkeit
hingewiesen und Anlass zur Vertagung nicht bestanden hat, § 110 Abs. 1 S. 2 SGG.
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Die zulässige Berufung ist unbegründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf
Regelaltersrente, weil er keine nach § 35 S. 1 Nr. 2 in Verbindung mit § 50 Abs. 1 S. 1
Nr. 1 SGB VI auf die Wartezeit anrechenbaren Beitragszeiten zurückgelegt hat.
Insbesondere die Anerkennung fiktiver Pflichtbeitragszeiten nach §§ 1,2 ZRBG kann der
Klägerin nicht verlangen. Der Senat hält es weiterhin nicht für überwiegend
wahrscheinlich, dass er aus eigenem Willensentschluss gegen Entgelt beschäftigt
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gewesen ist, § 1 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 lit. a und b ZRBG.
1.
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Noch nicht entscheidend gegen eine Tätigkeit aus eigenem Willensentschluss im Sinne
des ZRBG spricht die Bezeichnung der von Kläger verrichteten Arbeiten als
"Zwangsarbeit" oder "schwere Zwangsarbeit" in den Entschädigungsverfahren nach
dem BEG beziehungsweise vor der Jewish Claims Conference. Es ist bereits unklar, auf
welche Tätigkeiten sich diese Bezeichnung bezieht und ob sie mit denen im
Rentenverfahren geltend gemachten identisch sind.
17
2.
18
Auf der Grundlage der Ausführungen des Sachverständigen Dr. Tauber hegt der Senat
indes bereits ernsthafte Zweifel daran, ob es im Reichskommissariat Ostland außerhalb
der Ghettos überhaupt Tätigkeiten aus eigenem Willensentschluss gegeben hat, oder
ob nicht insoweit in der Regel von Zwangsarbeit auszugehen ist.
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Zwangsarbeit ist von dem in §§ 1 bis 3 ZRBG beschriebenen Typus des freiwilligen und
entgeltlichen Beschäftigungsverhältnisses, das sich auf einen vereinbarungsgemäßen
Austausch wirtschaftlicher Werte (Arbeit gegen Lohn) richtet, in wertender Betrachtung
nach den Umständen des Einzelfalls (vgl. BVerfG, Beschluss v. 20.05.1996 - 1 BvR
21/96 SozR 3 - 2400 § 7 Nr. 11 Rn. 11) abzugrenzen. Eine Arbeit ist umso eher
Zwangsarbeit, als sie von hoheitlichen Eingriffen geprägt wird, denen sich der
Betroffene nicht entziehen kann, wie etwa Bewachung während der Arbeit zur
Fluchtverhinderung, Einschränkung der Bewegungsfreiheit am Ort der Arbeitsstätte,
einseitige Zuweisung an bestimmte Arbeitgeber, Vorenthaltung von Entgelt (vgl. BSG,
Urteil vom 14.07.1999, B 13 RJ 71/99 R m.w.Nw), Misshandlungen oder Missachtung
elementarer Arbeitsstandards zum Schutz von Leben und Gesundheit.
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Schon die Verordnungslage im Reichskommissariat Ostland, in dessen Gebiet die vom
Kläger genannten Ghettos lagen, spricht auf den ersten Blick generell eher gegen die
Möglichkeit von Beschäftigungsverhältnissen aus eigenem Willensentschluss. Alle
Juden zwischen dem 14. und 60. Lebensjahr unterlagen nach der "Verordnung über die
Einführung des Arbeitszwangs für die jüdische Bevölkerung" des Reichsministers für
die besetzten Ostgebiete vom 16.08.1941 dem Arbeitszwang, der mit Zuchthaus und
ggf. sogar der Todesstrafe durchgesetzt werden kobgbnnte. Nach den "Vorläufigen
Richtlinien für die Behandlung der Juden im Reichskommissariat Ostland" vom 02.
08.1941 waren die arbeitsfähigen Juden nach Bedarf zur "Zwangsarbeit"
heranzuziehen. Ihre Vergütung hatte nicht der Arbeitsleistung zu entsprechen, sondern
nur dazu zu dienen, den notdürftigen Lebensunterhalt der Zwangsarbeiter und ihrer
nicht arbeitsfähigen Familienmitglieder zu sichern. Die privaten Einrichtungen und
Personen, zu deren Gunsten die Zwangsarbeit erfolgte, hatten ein "angemessenes
Entgelt" an die Kasse des Gebietskommissars zu zahlen, der wiederum die Vergütung
an die Zwangsarbeiter auszahlen sollte. Der Erlass des Reichskommissars Ostland,
Abteilung Finanzen, vom 27.08.1942 zur Verwaltung der jüdischen Ghettos behandelt
die Ausnutzung der "Arbeitskraft der Juden" als "Vermögensverwaltung" und beschreibt
die Nutzung der jüdischen Arbeitskraft als "Vermietung" durch das örtlich zuständige
Arbeitsamt und spricht von der "Zuweisung" der "angeforderten" Juden an den
Arbeitgeber. Für die "Miete" von Facharbeitern war der "übliche Lohn" zu zahlen. Dieser
"Lohn" wurde aber ersichtlich nicht als (individuelle) Gegenleistung für die verrichtete
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Arbeit angesehen, vielmehr sollte mit der Zahlungspflicht vermieden werden, "dass der
Unternehmer aus der Beschäftigung von Juden zusätzliche Vorteile zieht". Der Erlös
sollte laut Erlass in den Haushalt des Reichskommissars fließen.
Auf der Grundlage dieser rechtlichen Konstruktion der "Vermietung" von Arbeitskräften
auf der Grundlage behördlicher Zuweisung, die eine Beschäftigung in freien
Arbeitsverhältnissen wie im so genannten Generalgouvernement an sich nicht
ausdrücklich vorsah, drängt sich auf, dass jedenfalls Beschäftigungsverhältnisse von
Ghettoinsassen mit Arbeitgebern außerhalb des Ghettos derart durch hoheitliche
Eingriffe begründet und geprägt gewesen sind, dass sie keine ausreichende Ähnlichkeit
mit dem Typus des versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses mehr
aufweisen konnten (in diesem Sinne ausführlich LSG NRW, Urteil vom 12.5.2006 - L4
RJ 123/04 Juris "öffentlich-rechtlich organisierte Dienstverschaffung"; zuletzt
vergleichbar LSG NRW, Urt. v. 16.02.2009 - L 3 R 214/08). Dafür lässt sich auch der
grundsätzlich bestehende Arbeitszwang für jüdische Ghettobewohner anführen. Die
vom Sachverständigen in seinem Gutachten vom 22.11.2005 beispielhaft für das Ghetto
Schaulen geschilderte Aufforderung der deutschen Ghettoverwaltung an den Judenrat,
aus einer "inaktiven" Reservekolonne von 1000 Personen weitere 500 Personen für
Arbeitseinsätze zur Verfügung zu stellen, zeigt, dass dieser Arbeitszwang bei Bedarf
auch durchgesetzt wurde.
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Auf der der anderen Seite ist allerdings auch nicht zu verkennen, dass die genannten
Vorschriften nach den Ausführungen des Sachverständigen Dr. Tauber in der
mündlichen Verhandlung zwar den Rahmen für die jüdische Arbeitsleistung bildeten,
jedoch - insbesondere was die Lohnzahlung anbelangt - unterschiedlich gehandhabt
wurden und auch Umsetzungsspielräume ließen. Einerseits musste der Judenrat als
Scharnier zwischen den rechtlosen Ghettoinsassen und der allmächtigen deutschen
Verwaltung Anforderungen von Arbeitskräften durch das deutsche Arbeitsamt unbedingt
erfüllen. Für die Ghettobewohner bestand Arbeitspflicht, die - wenn auch mit
vergleichsweise milden Sanktionen - vom Judenrat durchgesetzt wurde. Andererseits
verfügte der Judenrat bei der Zuordnung einzelner Ghettobewohner zu den zu
besetzenden Arbeitsstellen über einen gewissen Handlungsfreiraum, etwa bei der
Zuteilung von Bewerbern je nach Qualifikation zu bestimmten Arbeitsplätzen.
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Den Umsetzungsspielräumen der Arbeitsverwaltung des Judenrates entsprachen
Wahlmöglichkeiten der Arbeiter, die ihre Arbeitsstelle in gewissen Umfang auswählen
und wieder wechseln konnten, wenn sie sich auch der endgültigen Zuweisung an einen
Arbeitsplatz nicht einseitig entziehen konnten. Ferner gab es "arbeitslose"
Ghettobewohner. Der Gutachter hat dem Senat auch historische Beispiele für die
Möglichkeit der Arbeitenden genannt, zumindest in Randbereichen auf die
Arbeitsbedingungen wie Dauer von Arbeitspausen und die Form der Entlohnung
(Lebensmittel statt Bargeld) Einfluss zu nehmen (wenn diese Einflussmöglichkeit
ersichtlich auch von den individuellen Beziehungen zwischen dem jeweiligen Brigadier
und dem "Arbeitgeber" abhängig war). Möglicherweise näherten sich
Beschäftigungsverhältnisse von Ghettobewohnern auf diese Weise - zumindest in
Ausnahmefällen - sogar der in der Kriegswirtschaft weit verbreiteten Rechtsform
"diktierter" Verträge an. Solche Verträge entstanden zwar durch Hoheitsakt, der als
Rechtsgrund die nach der allgemeinen Vertragslehre erforderlichen übereinstimmenden
Willenserklärungen ersetzte, trugen aber in der Abwicklung Züge eines
Vertragsverhältnisses (vgl. dazu allgemein Nipperdey, Kontrahierungszwang und
diktierter Vertrag, 1920, S. 135 ff.; Palandt/Heinrichs, 8. Aufl., vor § 145 Rn. 8; für ein
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aktuelles Beispiel vgl. Röhl, Die Regulierung der Zusammenschaltung, S. 229 ff.
m.w.Nw.). Ob allerdings tatsächlich die beschriebenen Einflussmöglichkeiten auf
Arbeitsplatz, Art und Ausgestaltung der Arbeit bzw. der Entlohnung jeweils für sich
genommen oder in ihrer Summierung ausreichen, um den Typus eines
versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses zu erfüllen, oder ob sie nicht nur
als "Wahl" zwischen verschiedenen Formen von Zwangsarbeit zu qualifizieren sind,
erscheint zweifelhaft. Auch wenn das Bild einer ausschließlich einseitigen Zuweisung
jüdischer Arbeitskräfte in maßgeblich von hoheitlichen Eingriffen geprägte
Arbeitsverhältnisse, auf die der Einzelne keinerlei Einfluss hatte, differenzierter
gezeichnet werden muss, liefert jedenfalls die Verordnungslage zumindest für Arbeiten
außerhalb der Werkstätten des Judenrats zumeist ein Indiz gegen eine Tätigkeit aus
eigenem Willensentschluss.
3.
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Letztlich kann die Frage, ob der Kläger bei seinen Beschäftigungen aus eigenem
Willensentschluss tätig war, aber dahinstehen, weil jedenfalls nicht überwiegend
wahrscheinlich ist, dass er dafür ein Entgelt im Sinne von § 1 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 lit. b
ZRBG erhalten hat.
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Mit dem Kriterium der Entgeltlichkeit wollte der ZRBG-Gesetzgeber an der
grundsätzlichen Abgrenzung von Beschäftigungsverhältnissen im Sinne der deutschen
Sozialversicherung von nicht versicherter Zwangsarbeit festhalten, wie sie die Ghetto-
Rechtsprechung des Bundessozialgerichts vorgezeichnet hat (Bundestagsdrucksachen
- BT-Drs. - 14/8583, 1, 5 und 14/8602, 1, 5; im Einzelnen LSG NRW, Urteil vom
04.07.2007 - L 8 R 74/05, Juris Rz. 44). Unverzichtbares Indiz für den Typus einer
solchen vom ZRBG erfassten Beschäftigung bildet ein Entgelt, das mittelbar oder
unmittelbar als Gegenleistung für die geleistete Arbeit gezahlt wird. Eine Beschäftigung
in diesem Sinne muss - auch vor dem Hintergrund der historischen Verhältnisse in den
Ghettos - noch maßgeblich vom abredegemäßen Austausch wirtschaftlicher Werte in
einer Gegenseitigkeitsbeziehung geprägt sein (vgl. BSG, Urteil vom 18.06.1997 - 5 RJ
66/95 zum Ghetto Lodz, Juris Rz. 17; Urteil vom 07.10.2004 - B 13 RJ 59/03 R, Juris Rz.
51; Senat, Urteil vom 15.09.2006 - L 13 R 69/06). Die Gegenleistung (Lohn) braucht
nicht gleichwertig mit der erbrachten Arbeitsleistung sein, darf dazu aber andererseits
auch nicht völlig außer Verhältnis stehen (Senat, Urteil vom 01.09.2006 - L 13 R 27/06).
Es genügt nicht, wenn sie ersichtlich keinem Austausch wirtschaftlicher Werte, sondern
nur noch der notdürftigen Ernährung des Arbeitenden zur Erhaltung seiner Arbeitskraft
dient (Senat, Urteil vom 05.09.2006, L 13 R 69/06; vgl. bereits BSG, Urteil vom
10.04.1979 - 1 RA 95/78, Sozialrecht 5070 § 14 Nr. 9, S. 26 zum Ghetto Tarnow), selbst
wenn die Arbeitenden zum Ausgleich ihres Kalorienmehrbedarfs aufgrund körperlicher
Betätigung mehr erhalten als andere Ghettobewohner (Senat, Urteil vom 08.12.2006 - L
13 R 144/06). Denn eine solche Ernährung allein zum Erhalt der Arbeitskraft ist typisch
für Zwangsarbeit - schon aus dem reinen Eigeninteresse desjenigen, der die Arbeitskraft
der Zwangsarbeiter für sich ausbeutet (LSG NRW, Urteil vom 04.07.2007 - L 8 R 74/05
Rz. 49; Senat, Urteil vom 14.12.2007 - L 13 R 84/07); sie lässt sich nicht mehr unter den
Typus einer "entlohnten" Beschäftigung fassen, wie ihn der Gesetzgeber des ZRBG vor
Augen hatte (vgl. BT-Plenarprotokoll 14/233, S. 23279, 23280).
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Entgelt im Sinne des ZRBG liegt zudem nur vor, wenn die Gegenleistung den Umfang
freien Unterhalts im Sinne des § 1227 RVO a.F. übersteigt. Freier Unterhalt ist das Maß
an Wirtschaftsgütern, das der Arbeitnehmer unmittelbar braucht, um seine notwendigen
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Lebensbedürfnisse zu befriedigen. Bei Gewährung von Lebensmitteln ist daher zu
prüfen, ob sie nach Umfang und Art des Bedarfs unmittelbar zum Gebrauch oder
Verbrauch oder vorbestimmt zur beliebigen Verfügung gegeben werden (Senat, Urteil
vom 01.09.2006 - L 13 R 27/06 m.w.Nw. der Rechtsprechung des BSG).
Danach spricht vor dem Hintergrund der historischen Verhältnisse in Litauen beim
Kläger mehr dafür, dass er für seine Arbeit ikein Entgelt im Sinne des § 1 Abs. 1 S. 1 Nr.
1 lit. b ZRBG erhalten hat.
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Der Kläger hat im Rentenverfahren eine Entlohnung durch Lebensmittelkarten geltend
gemacht, ohne den Umfang der darauf empfangenen Nahrungsmittel näher zu
beschreiben. Die von seinem Prozessbevollmächtigten auf Nachfrage des Senats
zuletzt mit Schriftsatz vom 07.05.2008 im Namen des Klägers aufgestellte Behauptung,
dieser habe nicht hungern müssen und sogar genug Nahrungsmittel gehabt, um sie
gegen andere Dinge zu tauschen, sieht der Senat nicht als überwiegend wahrscheinlich
an. Nach den Angaben des Sachverständigen Dr. Tauber waren die von arbeitenden
Ghettobewohnern im Reichskommissariat Ostland empfangene Lebensmittelrationen
zwar doppelt so hoch wie für nicht arbeitende Ghettobewohner und verbesserten damit
die Lebenssituation der Empfänger erheblich. Die Ration für Arbeitende entsprach
andererseits nur der normalen Ration der Bevölkerung außerhalb des Ghettos. Das den
Beteiligten bekannte Gutachten der historischen Sachverständigen Frau Hansen (vom
16.09.2008 für das SG Hamburg) nennt als Satz für Arbeiter in den Ghettos in Litauen
pro Woche 1700 g Brot, 175 g Fleisch 50 g Grütze/Nahrungsmittel 10 g Salz und 5 g
Kaffeezusatz. Der Senat geht davon aus, dass Nahrungsmittel dieser Art und Menge
allenfalls zum Überleben reichten und keinesfalls über den Umfang freien Unterhalts
hinausgingen. Bei der zuletzt von seinem Prozessbevollmächtigten übermittelten
Angabe des Klägers dürfte es sich daher um ein gesteigertes und
verfahrensangepasstes Vorbringen handeln, zumal er im Rentenverfahren zunächst den
Erhalt von Sachbezügen verneint hatte. In diesem Zusammenhang ist auch zu
berücksichtigen, dass Dr. Tauber in seinem Gutachten vom 03.09.2007 die
Wochenration in Vilnius für die nichtjüdische Bevölkerung mit 1800 g Brot, 200 g
Fleisch, 100 g Butter, 50 g Zucker, 400 g Mehl, 150 g Graupen und 50g Salz angegeben
hat. Diese Ration lag, vor allem was den Fettanteil anbelangt, also noch deutlich über
der Ration für arbeitende Ghettobewohner.
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Gegen den Entgeltcharakter der empfangenen Nahrungsmittel spricht weiter, dass ihre
Menge nach Aussage des Sachverständigen - anders als im Fall der Zahlung von
Barlohn, den der Kläger nicht behauptet hat - nicht nach Alter, Geschlecht oder
Arbeitsleistung differenziert wurde. Ein Austauschverhältnis zwischen Arbeit und
Gegenleistung lässt sich insoweit nicht feststellen. In diese Richtung deutet auch die
Verordnungslage, die ausdrücklich festlegte, dass der Lohn der Arbeiter nicht der
Arbeitsleistung entsprechen, sondern nur ihrem notdürftigen Lebensunterhalt dienen
sollte. Dem entspricht es, dass die Hälfte der von den Arbeitgebern abzuführenden
Löhne in die Kasse des Gebietskommissars floss. In einer solchen teilweisen
Vorenthaltung des Entgelts liegt ein weiteres Indiz, das Zweifel am Typus eines
versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses nährt.
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Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 193 SGG und folgt der Entscheidung in der
Hauptsache.
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Die Revision hat der Senat mit Blick auf den von der Rechtsprechung des BSG nach
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wie vor ungeklärten Entgeltbegriff nach § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG zugelassen.