Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 06.06.2007

LSG NRW: persönliche anhörung, eidesstattliche erklärung, zwangsarbeit, familie, eltern, beweiswürdigung, unmittelbare gefahr, arbeiter, polizei, anfang

Landessozialgericht NRW, L 8 R 54/05
Datum:
06.06.2007
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
8. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
L 8 R 54/05
Vorinstanz:
Sozialgericht Düsseldorf, S 39 RJ 170/04
Nachinstanz:
Bundessozialgericht, B 13 R 85/07 R
Sachgebiet:
Rentenversicherung
Rechtskraft:
nicht rechtskräftig
Tenor:
Das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 02.02.2005 wird geändert.
Der Bescheid der Beklagten vom 07.11.2003 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 25.05.2004 wird aufgehoben und die
Beklagte verurteilt, dem Kläger unter Berücksichtigung von glaubhaft
gemachten Beitragszeiten von Juli 1942 bis Mai 1943 mit Wirkung ab
01.07.1997 - gegebenenfalls nach erfolgter freiwilliger
Beitragsentrichtung - Regelaltersrente nach Maßgabe des ZRBG zu
gewähren. Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers
aus dem gesamten Verfahren. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
1
Der Kläger begehrt von der Beklagten Regelaltersrente nach Maßgabe des Gesetzes
zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto (ZRBG), das der
Deutsche Bundestag im Jahr 2002 erlassen hat (Bundesgesetzblatt - BGBl - Teil I
2074).
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Der Kläger wurde am 00.00 1926 in Ostecko, einem Ort am Ufer des Dnjestr im Kreis
Tluste des damaligen Polens geboren. Er hatte eine 1 1/2 Jahre ältere Schwester und
zwei jüngere Geschwister. Sein Vater war Spenglermeister und reparierte Blechdächer
sowie Dachrinnen. Seine Mutter war Hausfrau.
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In seinem Geburtsort Ostecko, der bis 1918 als Teil Galiziens zum Kaiser- und
Königreich Österreich gehört hatte, lebten ungefähr 100 jüdische Familien. Nach dem
Angriff Deutschlands auf Polen im September 1939 und dem Hitler-Stalin-Pakt fiel der
Ort zunächst an Russland bzw. die damalige UdSSR. Nach dem Angriff Deutschlands
und seiner Verbündeten, darunter Ungarn, auf die UdSSR am 22. Juni 1941 wurde die
Stadt Tluste am 08. Juli 1941 von ungarischen Truppen besetzt. Diesen folgte bald
deutsches Militär. Die Ungarn blieben Besatzungsmacht in der Gegend. Wie die
anderen Teile des östlichen Galiziens wurde auch der Bezirk Tluste am 01. August
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1941 als fünfter Distrikt (Distrikt Galizien) dem sog. Generalgouvernement (GG) mit der
Hauptstadt Krakau angegliedert. Für die Ghettos des Distrikts Tluste galten anfangs die
gleichen Prinzipien wie für das übrige Generalgouvernement. Nach den ersten
Progromen und Massenerschießungen im Sommer 1941, die die deutsche Eroberung
begleiteten, wurden zunächst meist offene Judenwohnbezirke eingerichtet. Sie blieben
in der Regel bis Mitte/Ende 1942 bestehen. Danach setzten die Massendeportationen in
das Vernichtungslager Belzec ein. Im Zuge dieser Vernichtungsaktionen wurden die
Judenwohnbezirke in den kleineren Orten vernichtet und es wurden geschlossene
Ghettos in den größeren Städten gebildet. Zwischen Ende 1942 und Anfang 1943
wurden diese im Zuge weiterer Vernichtungsdeportationen in Zwangsarbeiterlager
umgewandelt. Auch in Tluste kam es wie in vielen anderen Orten des Distrikts nach
dem Abzug der Sowjets durch die ukrainische Bevölkerung zu einem Pogrom an den
Juden, deren Zahl in der sowjetischen Besatzungszeit auf ca. 1.300 gesunken war.
Durch den Zuzug von Juden aus dem Umland stieg der jüdische Bevölkerungsanteil in
Tluste bis 1942 auf wieder rund 5.000 an, von denen etwa 1.800 registriert waren. Noch
im Juli 1941 wurde eine nächtliche Ausgangssperre verfügt und die Bewegungsfreiheit
der Juden zeitlich und räumlich eingeschränkt. Im August 1941 wurde ein Judenrat unter
Dr. Abermann eingesetzt und ein jüdischer Ordnungsdienst aufgestellt. Die
Kennzeichnung durch eine Armbinde mit dem Davidstern folgte dem allgemeinen
Gebrauch im Generalgouvernement. Aus der Kreishauptmannstadt in Cortkiv/Czortków,
etwa 18 km nördlich von Tluste, kamen in unregelmäßigen Abständen Angehörige der
dortigen deutschen Polizeidienststelle nach Tluste. Im März 1942 wurde in Tluste ein
formal abgestecktes Ghetto mit Ghettotor eingerichtet, das östlich der nach
Cortkiv/Czortków führenden Straße zwischen der römisch-katholischen Kirche und den
Ruinen der Synagoge lag. Die Häuser waren mit Davidsternen als jüdisch bewohnt
gekennzeichnet. Bis Oktober 1942 gab es daneben auch Juden in gekennzeichneten
Häusern in drei angrenzenden Dörfern. Von 1941 an wurden Juden aus der Region
nach Lisivci/Lisowce östlich von Tluste gebracht, um auf den dortigen
Koksagysplantagen zu arbeiten. Koksagys, eine tabakähnliche Pflanze, aus der man
Kautschuk herstellen kann, war angesichts der Blockade Deutschlands und des Bedarfs
an Gummi ein damals als kriegswichtig angesehener Teil der Rüstungsproduktion.
Auch die Juden, die in der Koksagyslandwirtschaft eingesetzt waren, galten daher als
kriegswichtig. Sie wurden im allgemeinen auf den Gütern untergebracht, auf deren Land
der Anbau stattfand. Nachgewiesen sind insgesamt 24 Güter, auf denen 10.000 Juden
aus der Umgebung eingesetzt wurden. Im Tagebuch des jüdischen Arztes Baruch Milch,
der das Ghetto von Tluste überlebt hat, heißt es, dass die umliegenden Bauernhöfe
jüdische Arbeiter suchten und fanden, was die Lebensmittellage in Tluste verbesserte
und dass darüber hinaus in einer Entfernung von 2 km vom Ort ein Arbeitslager für
privilegierte Juden eingerichtet wurde, in das diejenigen entsandt wurden, denen der
Judenrat einen besonderen Gefallen tun wollte. Nach der Übernahme der
Arbeitsvermittlung von Juden durch den SS und Polizeiführer Ende 1942/Anfang 1943
erhielten diese Arbeiter das Kennzeichen "W" (für Wehrmacht) an ihre Kleidung. Die
Arbeiter auf den Koksagysfarmen erhielten das Kennzeichen "R" (für
Rüstungswirtschaft). Beide Kennzeichen schützten vor einer Ermordung im Zuge von
Deportationen. Die erste dieser Deportationen fand am 27. August 1942 statt, als etwa
300 Juden zusammengetrieben und nach Belzec in die Vergasung abtransportiert
wurden. Kleinere "Aktionen" fanden danach häufiger statt, als wieder eine Gruppe
Polizisten aus Czortków gefahren kam. Es herrschte daher ein ständiges Klima der
Angst in der Stadt, auch wenn die Juden von Tluste ansonsten weitgehend von
Deutschen unbeaufsichtigt blieben. Die nächste große "Aktion" in Tluste gab es am 05.
Oktober 1942. Etwa 1.000 Juden wurden nach Belzec deportiert, eine dreistellige Zahl
vor Ort ermordet. Die Judenhäuser in den Dörfern um Tluste herum wurden aufgelöst. Im
Winter 1942/1943 war die Lage in Tluste von einer Hungersnot geprägt. Das ließ die
zusätzliche Nahrungsmittelversorgung für die landwirtschaftlichen Arbeiter umso
attraktiver erscheinen. Eine für den April 1943 beabsichtigte "Aktion" wurde verschoben,
als die aus Czortków gekommenen Polizisten feststellten, dass sich fast die Hälfte der
Einwohner versteckt hatte. Die Vernichtung des Ghettos folgte am 27. Mai 1943. An
diesem Tag wurden etwa 3000 Juden auf dem jüdischen Friedhof der Stadt erschossen
und in Massengräbern begraben. Am 06. Juni 1943 kehrten die deutschen und
ukrainischen Bewaffneten zurück. Nun wurden alle verbliebenen etwa 1.000 Juden der
Stadt erschossen und Tluste wurde für "judenrein" erklärt. Nach Baruch Milch haben
das folgende Jahr nur etwa 200 Juden in Arbeitslagern überlebt. Diese Arbeitsstätten
wurden in Zwangsarbeiterlager unter der Leitung der SS umgewandelt.
Der Kläger und seine ältere Schwester haben die Zeit im Ghetto überlebt. Seine Eltern
und seine jüngeren Geschwister wurden bei der "Aktion" im Mai 1943 ermordet. Im April
1946 wanderte der Kläger nach Israel ein und war dort als Arbeiter bis zu seiner
Pensionierung rentenversicherungspflichtig tätig. Heute lebt er in S.
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1955 beantragte der Kläger nach dem Bundesentschädigungsgesetz (BEG) eine
Entschädigung wegen Schadens an Freiheit und gab dazu u.a. Folgendes an: "Im
September 1941 wurde in Tluste das Ghetto errichtet, in welchem auch ich und meine
Familie leben mussten. Das Ghetto befand sich im ehemaligen Judenviertel. Über 4.000
Juden aus der Stadt und der Umgebung mussten hier zusammengepfercht leben. Im
Ghetto gab es jüdische Miliz, auch wurde ein Judenrat gebildet, dessen Obmann erst
Herr S und dann Herr B war. Ich musste in der Landwirtschaft bei Pflanzung von
Kautschukbäumen arbeiten. Im Frühling 1943 wurde ich aus Tluste in ein Arbeitslager
geschickt, welches sich auf einem Gut von Maskowiecki in der Nähe von Tluste befand.
Das Lager war mit Stacheldraht umgeben und es wurde von ukrainischer Polizei und
der SS bewacht. Der SS-Lagerführer hieß G. Wir wohnten in Baracken und trugen
eigene Zivilkleidung mit weißer Armbinde und Judenstern. Wir mussten mehrere Male
am Tage zum Appell antreten. Es gab die übliche Lagerkost. Die deutsche
Wachmannschaft flüchtete am 23. März 1944. Am zweiten oder dritten Tag darauf
wurden wir von den Russen befreit." Die im BEG-Verfahren vom Kläger benannte
Zeugin H N erklärte u.a.: "Im Herbst 1942 wurden wir alle gezwungen, auf den Feldern
bei Pflanzung von Kautschukbäumen zu arbeiten. Wir arbeiteten unter Bewachung von
SS und ukrainischer Polizei. Im Frühling 1943 wurden wir ins ZAL Tluste überstellt. Es
befand sich auf dem Landgut des Polen Maskowiecki in der Nähe von Tluste. Dort
wohnten wir in Baracken und wurden von SS und ukrainischer Polizei bewacht. Das
Lager war mit Stacheldraht umzäunt. Hier arbeiteten wir über 12 Stunden am Tag bei
Feld- und Landarbeit. Am 23. März 1944 flüchteten die Deutschen. Da die Russen in der
Nähe waren, so wurden wir im März 1944 von den Russen in Tluste befreit." Die Zeugin
A T erklärte: "Das Ghetto Tluste war im ehemaligen jüdischen Viertel errichtet und
wurde von ukrainischer Miliz und SS bewacht. Im Ghetto sorgte die jüdische Miliz für
Ordnung, wir mussten den blauen Stern auf weißer Armbinde tragen. An der Spitze des
Judenrats stand Herr S und später Herr B. Wir arbeiteten dort bei Gummipflanzungen.
Diese Pflanze hieß Koksagies und war Ersatz für Kautschuk. Im Frühjahr 1943 wurden
wir in das ZAL Tluste überstellt. Dieses befand sich auf dem Landgut des Polen
Maskowiecki. Das Lager war mit Stacheldraht umzogen und wurde von SS und
ukrainischer Polizei bewacht. Wir wohnten hier in Holzbaracken und arbeiteten unter
Zwang 12 Stunden täglich bei Landarbeit. Der Lagerführer hieß G. Am 23. März, als die
Deutschen erfuhren, dass die Russen heranrückten, verließen sie fluchtartig das Lager
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und wir wurden am Tage darauf von russischen Truppen befreit." Im Jahr 1958 erkannte
das Bezirksamt für Wiedergutmachung Koblenz als Landesentschädigungsamt den
Kläger auf dieser Grundlage als Verfolgten des Nationalsozialismus an und sprach ihm
insgesamt 4500,- DM als Entschädigung für seinen Freiheitsschaden zu. Weitere
Anträge lehnte das Landesentschädigungsamt als verspätet ab.
Der Kläger erhält keine Leistungen nach dem Gesetz über die Errichtung der
Zwangsarbeiterstifung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft", das der Deutsche
Bundestag im Jahr 2000 erlassen hat (Stifungsgesetz - BGBl Teil I 1263). Er stellte
keinen Antrag auf Entschädigung für sein Verfolgungsschicksal bei der Jewish Claims
Conference (JCC).
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Am 5. November 2002 beantragte der Kläger die Gewährung einer Regelaltersrente
nach Maßgabe des ZRBG bei der Beklagten. Die Beklagte übersandte ihm einen
Fragebogen, in dem der Kläger im Oktober 2003 angab, von Juli 1942 bis März 1944 im
Ghetto Tluste in der Landwirtschaft gearbeitet zu haben. Er habe acht Stunden täglich
gearbeitet und hierfür Essen (Kartoffeln, Rüben und Kraut) erhalten. Durch Bescheid
vom 7. November 2003 lehnte die Beklagte den Antrag des Klägers auf Zahlung einer
Rente nach dem ZRBG ab. Zur Begründung führte sie aus, die behauptete
Beschäftigung von Juli 1942 bis März 1944 in Tluste sei nicht vom ZRBG erfasst, da es
sich nach den Unterlagen der Beklagten nicht um ein Ghetto, sondern um ein
Zwangsarbeiterlager gehandelt habe. Dagegen erhob der Kläger Widerspruch und
reichte eine eidesstattliche Erklärung von März 2004 ein, in der er ausführte, der
Judenrat habe ihn zu Arbeiten auf Feldern unter Bewachung der jüdischen Polizei
geschickt. Nach der Arbeit sei er jeden Abend in das Ghetto zurückgekehrt. Die
Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 25. Mai 2004 zurück.
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Das Sozialgericht (SG) Düsseldorf hat die vom Kläger dagegen erhobene Klage mit
Urteil vom 2. Februar 2005 abgewiesen. Zur Begründung hat es gemeint, es sei nicht
glaubhaft gemacht, dass der Kläger im Ghetto Tluste in einem dem Grunde nach
versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis gestanden habe. Zwar habe
entgegen der Auffassung der Beklagten im streitigen Zeitraum im Ghetto Tluste ein
Ghetto bestanden. Dies ergebe sich u.a. aus dem bei Gudrun Schwarz, Die
nationalsozialistischen Lager, 2. Ausgabe 1996, S. 158, zitierten Abschlussbericht des
SS-Polizeiführers im Distrikt Galizien Katzmann vom 30. Juni 1943. Die Einordnung des
Ghettos Tluste in der Zeit von Sommer 1941 bis Sommer 1943 in ein Ghetto und nicht in
ein Zwangsarbeiterlager stimme auch überein mit den Informationen des Simon-
Wiesenthal-Center, die der Kläger zu den Gerichtsakten gereicht habe. Die nach den
Angaben des Klägers für seine damaligen landwirtschaftlichen Arbeiten erhaltenen
Lebensmittel (Kartoffeln, Rüben und Kraut) seien jedoch kein Entgelt gewesen, welches
Versicherungspflicht in der Rentenversicherung ausgelöst habe. Denn die Gewährung
von Lebensmitteln zum eigenen Verbrauch könne allenfalls als teilweise freier Unterhalt
gewertet werden, der zur unmittelbaren Befriedigung der notwendigen
Lebensbedürfnisse des Arbeitnehmers erforderlich sei. Sie stelle nach der
Sondervorschrift des § 1227 bzw. 1228 der Reichsversicherungsordnung (RVO) kein
versicherungspflichtiges Entgelt dar. Diese Auslegung des ZRBG habe das
Bundessozialgericht (BSG) durch Urteil vom 7. Oktober 2004 - B 13 RJ 59/03 R -
vorgegeben.
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Dagegen richtet sich die rechtzeitige Berufung des Klägers, der hierzu eine weitere
eidesstattliche Erklärung aus dem Jahr 2005 vorlegt. Darin heißt es: "Die Russen, bevor
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sie sich zurückzogen, bombardierten eine Brücke über dem Fluss Dnjestr, aber es blieb
ein großer Teil noch hängen. Die Deutschen bauten eine neue Brücke und bauten die
alte ab und einige von den Insassen des Städtchens Ostecko wurden genommen zur
Arbeit als Hilfe zu diesem Abbau der Brücke (ungefähr 20 Leute). Wir arbeiteten den
ganzen Winter, auch arbeiteten wir bei Straßenbau für die neue Brücke. Ich bin von dort
weggelaufen, weil bei der Beendigung der Arbeit die Deutschen uns erschießen
wollten. Ich kam ins Ghetto Tluste, wo ich meine Eltern traf, die noch zuvor ins Ghetto
kamen. Hier im Ghetto verrichtete ich landwirtschaftliche Arbeiten. Ich arbeitete bei
Gummibäume pflanzen, Erde umgraben, dass die Gummibäume Luft bekommen sollen
und besser wachsen. Wir arbeiteten 50 Leute in einer Reihe mit einer Hacke bei
Gummiplantagen. Diese Arbeit bekam ich mit der Hilfe des Judenrates und wurde
entlohnt - Lebensmittel für zu Hause - (wöchentlich). Die Lebensmittelpakete enthielten
Kartoffeln, Rüben, Kraut, Graupe, Zwiebel, Kohl, Salz, Zucker, Marmelade, Brot, Erbsen,
Öl. Diese Lebensmittel überschritten um Vieles meine persönlichen Bedürfnisse und
sogar konnte ich meinem Vater und meiner Schwester helfen." In einer weiteren
eidesstattlichen Versicherung von November 2005 erklärt der Kläger: "In den Angaben
für BEG und für Finanzministerium Israel habe ich angegeben, dass ich von September
1941 bis Frühling 1943 im Ghetto Tluste war. Dann hat man mich ins ZAL Tluste
überführt, welches sich auf dem Gut von Maskowiecki in der Nähe von Tluste befand.
Vielleicht habe ich mich jetzt in den Daten geirrt, aber dass ich im Ghetto Tluste fast
zwei Jahre war, ist richtig. Um zu existieren musste ich beim Judenrat um Arbeit bitten
und erfüllte landwirtschaftliche Arbeiten. So habe ich das auch in der eidesstattlichen
Erklärung für BEG geschrieben. Für meine Arbeit im Ghetto bekam ich von der
Ghettoverwaltung Mittagessen jeden Tag, zusätzliche Lebensmittel direkt oder
Lebensmittelcoupons. Genauer erinnere ich mich nicht und ich erinnere mich auch nicht,
ob ich zusätzlich Bargeld bekommen habe. Jedenfalls sicherte das damals mein und
nicht nur mein Überleben im Ghetto. Dann hat man mich ins ZAL Tluste überführt. Dort
habe ich fast dieselbe Arbeit erfüllt, aber kostenlos."
Der Kläger beantragt,
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wie erkannt.
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Die Beklagte beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Sie bezieht sich auf die Internetquelle www.keom.de/denkmal. Danach habe in Tluste
lediglich ein Zwangsarbeiterlager von Januar 1942 bis März 1944 existiert, dessen
Insassen Arbeiten in den Koksagyskautschukplantagen und landwirtschaftliche Arbeiten
verrichteten. Dies ergebe sich auch aus den bei der Bezirksregierung Düsseldorf
vorliegenden Lagerlisten.
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Der Senat hat zur historischen Situation der Juden am Ort Tluste während des 2.
Weltkrieges ein Sachverständigengutachten des Lehrstuhlinhabers für osteuropäische
Geschichte an der Universität Hamburg, Prof. Dr. Golczewski, eingeholt. Dieser hat die
Angaben des Klägers zu seinem Verfolgungsschicksal , abgesehen von der partiell
ungenauen Terminierung, als durchweg glaubhaft eingeschätzt. Sie folgten den
Bedingungen, die für das Ghetto Tluste bekannt seien.
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Demgegenüber sei die Annahme der Beklagten, seit Januar 1942 habe in Tluste nur ein
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Zwangsarbeiterlager bestanden, problematisch. Denn die Beklagte stütze sich dazu nur
auf die Datei des Osthausmuseums in Hagen. Dessen Angaben seien aber ohne
weitere Quellenangabe und stammten aus den zu sehr unterschiedlichen Zeiten und
Bedingungen zusammengestellten Daten des Internationalen Suchdienstes (ITS). Sie
spiegelten zudem nur den Wissensstand von 1979 vor Öffnung der osteuropäischen
Archive in den 90-er Jahren wider. Der Suchdienst selber qualifiziere die eigenen Daten
ganz richtig als unzureichende Information, die nicht einmal eine genauere
Lokalisierung ermögliche. Es könne sich nämlich um zeitlich durchaus irrtümliche
Angaben eines Suchenden handeln. Der Titel der Publikation des ITS besage ferner,
dass hier nur "Haftstätten" des Reichssicherheitshauptamtes erfasst waren, während die
Ghettos zu der in Frage stehenden Zeit (März 1942) noch nicht in SS-Strukturen,
sondern in der Regel der Zivilverwaltung unterstanden. Dass dennoch einige Ghettos in
den Listen geführt würden, liege an der häufigen Vermengung der hier benutzten
Kategorien. Auch die Hagener Projektleitung, die unter dem Titel "Deutschland, ein
Denkmal" die sog. Keom-Liste als Datenbank im Internet zur Verfügung stelle, weise in
ihrem Erläuterungstext darauf hin, dass die in der Datenbank aufgeführten Orte sich
grundsätzlich nur auf separate Lager bezögen, während auswärtige Arbeitseinsätze nur
unter dem jeweiligen Lager selbst aufgeführt seien. Dieser Erläuterungstext sei
ebenfalls im Internet abrufbar und werde von der Beklagten nicht zur Kenntnis
genommen.
Die Existenz des Ghettos in Tluste werde demgegenüber neben eigenen
Forschungsarbeiten des Sachverständigen auch durch das 1996 erschienene Werk des
Historikers Dieter Pohl, Nationalsozialistische Judenverfolgung in Ostgalizien 1941 bis
1944, bestätigt, ferner durch das Erinnerungsbuch des überlebenden Arztes aus Tluste,
Baruch Milch, Can heaven be void? Jerusalem 2003, sowie durch Bilder der deutschen
Luftwaffe vom Mai 1944 gestützt, auf dem der jüdische Friedhof sowie die Überreste der
Synagoge und des früheren jüdischen Ghettos erkennbar sind. Schließlich seien die
Massengräber der Erschießung im Mai 1943 in Tluste durch eine 1996 durchgeführte
US-amerikanische Untersuchung der Überreste jüdischer Friedhöfe in Tluste
nachgewiesen.
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Die Beklagte hat eingewandt, allein aus dem Sachverständigengutachten lasse sich die
Glaubhaftigkeit der Angaben des Klägers nicht herleiten. Insbesondere könne der
historische Sachverständige keine Aussage zur individuellen Glaubwürdigkeit des
Klägers treffen.
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Der Kläger ist vom Gericht gebeten worden mitzuteilen, ob er eine persönliche
Anhörung zu seinem Verfolgungsschicksal im Heimatland zu Zwecken der Gewährung
rechtlichen Gehörs und zur Aufklärung des Sachverhalts wünsche, was er bejaht hat.
Die Beklagte ist der geplanten Anhörung in Israel zum einen mit der Begründung
entgegengetreten, die Risiken einer unmittelbaren Anhörung hochbetagter Kläger/innen
dürften höher sein als ihr Nutzen, weil eine unmittelbare Konfrontation der Betroffenen
mit Angaben aus vorangegangenen Verfahren vielfach mit Überforderungssituationen
verbunden sein könnte. Die bisherige langjährig bewährte Praxis, nach der notwendige
persönliche Anhörungen der Beteiligten und Zeugen im Wege der Rechtshilfe durch ein
israelisches Gericht durchgeführt würden, halte die Beklagte auch weiterhin für den
geeigneteren Weg. Diese Vorgehensweise entspreche der aller anderen Senate des
Landessozialgerichts (LSG) NRW und auch der Kammern des SG Düsseldorf in
gleichgelagerten Fällen. Sämtliche dortigen Entscheidungen basierten auf der
Erhebung und Auswertung von Beweisen, ohne dass es hierzu einer persönlichen
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Anhörung der Betroffenen in Israel bedurft habe. Auch unter Beachtung des
Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit sehe die Beklagte daher keine Notwendigkeit, an
dem in Israel vorgesehenen Befragungstermin teilzunehmen.
Der Staat Israel hat der konsularischen Anhörung von israelischen Klägern
rentenrechtlicher Verfahren durch ein deutsches Gericht vor Ort gem. Art16 des Haager
Übereinkommens über die Beweisaufnahme im Ausland in Zivil- oder Handelssachen
(ZRHG) vom 18. März 1970 - BGBl Teil II 1274 - nach Vermittlung dieses Ersuchens
durch die deutsche Botschaft in Tel Aviv mit diplomatischen Verbalnoten vom 5.
Dezember 2006 und vom 13. Februar 2007 mit der Maßgabe der anschließenden
Bestätigung des jeweiligen Protokolls durch das Directorate of Courts in Jerusalem
zugestimmt.
21
Zur Vorbereitung der Anhörung hat das Gericht die an der Universität Frankfurt tätige
klinische Psychologin Prof. Dr. R, die durch Forschungsarbeiten über die
Interpretationen autobiographischer Erzählungen von Überlebenden des Holocaust
hervorgetreten ist, mit der Erstattung eines Sachverständigengutachtens über die bei der
Befragung und Auswertung der Ghettoüberlebenden anzuwendenden Grundsätze
beauftragt. Die Sachverständige hat ausgeführt, bei einer Anhörung von NS-Verfolgten
sei davon auszugehen, dass es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um traumatisierte
Menschen handele. Es werde wahrscheinlich schwierig sein, die Kläger zu einem
offenen, vertrauensvollen Erzählen, das einer Beweiswürdigung förderlich wäre, zu
bewegen. Zu erwarten sei eine angespannte Gesprächssituation, in der sich der Kläger
möglicherweise paradoxerweise um Rechtfertigung bemühen werde. Dem sei von
Seiten des Befragers unbedingt entgegenzuwirken. Wenig sinnvoll sei in diesem
Zusammenhang, mit dem Befragten in eine Diskussion zu geraten, in der verschiedene
Sichtweisen gegenüberständen oder ihn auf mögliche Widersprüche in seinen
Aussagen hinzuweisen, da dies den eventuellen Druck, sich zu rechtfertigen,
unterstützen würde. Insofern seien Retraumatisierungen durch erneute Befragungen
potentiell denkbar. Das Hauptaugenmerk solcher Befragungen sollte sich daher nicht
nur auf den Inhalt der Fragen richten, sondern wesentlich auch auf die Gestaltung der
Gesprächsatmosphäre. Eine Steuerung des Gesprächs durch gezielte Fragen erscheine
wenig sinnvoll. Zielführender sei es, den Gefragten mit offenen Fragen zu möglichst
spontanem Erzählen anzuregen und durch solche Fragen Interesse an seiner Erzählung
zu signalisieren und den Erzählfluss in Gang zu halten. Für die spätere Beweisführung
erschienen solche spontanen Erzählsequenzen am geeignetsten. Um eine solche Art
der Gesprächsführung angesichts des nicht unproblematischen Kontexts des Gesprächs
überhaupt in Gang zu setzen, sei es notwendig, das Vertrauen des Befragten zu
gewinnen. Empfehlenswert sei es, bei dem ersten Anzeichen einer zunehmenden
affektiven Beteiligung das Thema zu wechseln bzw. das Gespräch zu unterbrechen und
eine Pause einzulegen. Im Übrigen gälten in diesen spezifischen Aspekten der
Befragung von NS-Verfolgten dieselben Empfehlungen auch wie für
Zeugenbefragungen (Hinweis auf Arntzen: Psychologie der Zeugenaussage - System
der Glaubhaftigkeitsmerkmale - 4. Auflage 2007). Zur Nachbereitung des Gesprächs sei
eine Aufzeichnung der subjektiven Eindrücke des Befragers, seiner Gedanken und
Empfindungen sowie Besonderheiten und Auffälligkeiten im Gespräch, umgehend nach
seiner Beendigung von Nutzen. Der Gefahr der unbewussten Gegenübertragung - etwa
durch unbemerkte Auswirkung von Schuldgefühlen auf Grund deutscher Herkunft -
müsse durch bewusste innere Gegensteuerung von Seiten des Befragers
entgegengewirkt werden.
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Als Zivilisationsbruch stelle die NS-Verfolgung und Massenvernichtung der
europäischen Juden einen tiefgreifenden Einbruch in die Lebensgeschichte der
Verfolgten dar, der grundlegende Handlungsorientierungen fundamental in Frage stelle
und die Konstruktion einer konsistenten durchgängigen Lebensgeschichte unmöglich
mache. Lebensgeschichte zerfalle vielmehr in eine Zeit vorher und eine Zeit danach, in
der nichts mehr so sei wie vorher. Über die Verfolgungszeit selber werde zumeist in
gleichförmiger schematisiert wirkender und gefühlsmäßig scheinbar wenig beteiligter
Weise berichtet. Die Verfolgten sprächen über ihre Verfolgungserfahrung manchmal in
einer Weise, die den Eindruck erwecke, als seien sie selbst gar nicht dabei gewesen.
Dieses Phänomen der Depersonalisierung und der Dissoziation verweise auf
traumatisches Erleben und sei oft auch noch nach Jahrzehnten bei Überlebenden der
NS-Verfolgung anzutreffen. Verschiedene Teile der Lebensgeschichte könnten
psychisch nicht integriert werden, sondern seien zumeist nur oberflächlich miteinander
verbunden. Nichts desto weniger seien die meisten Verfolgten im weiteren Leben
unablässig darum bemüht, eine solche Verbindung herzustellen und die
Verfolgungserfahrung psychisch zu bewältigen. Dies gelte insbesondere für die
Überzeugung, die sich regelhaft bei Überlebenden der NS-Verfolgung zeige, ihr
Überleben durch Arbeit gesichert zu haben. Arbeit werde in diesen Lebensgeschichten
oft zur zentralen Integrationsgröße. Doch habe die Arbeit von Überlebenden in ihrer
Wahrnehmung auch dem Versuch gedient, sich in die damalige Gesellschaft zu
integrieren, einen wichtigen Beitrag zu leisten und sich damit nicht dem Risiko
auszusetzen, als "unnötig" betrachtet und in die Vernichtungslager verschleppt zu
werden. Dies werde bis heute von den Überlebenden jedoch als massiv ambivalent
erlebt. Arbeit werde nicht nur als Mittel angesehen, mit dem man sich der Verfolgung
erfolgreich widersetzen konnte, sondern auch als Versuch, sich den Verfolgern
"anzubiedern" und sich selbst sowie die Mitverfolgten zu verraten. Als überindividuelles
Beispiel für diesen Konflikt lasse sich die Institution des Judenrates anführen, der sich
einerseits zwar von den Nazis instrumentalisieren ließ, aber andererseits dadurch auch
Leben von Verfolgten retten konnte.
23
Auch bezüglich der Beweiswürdigung ergäben sich aus der spezifischen Art der NS-
Verfolgung Besonderheiten u.a. aufgrund des viele Jahrzehnte zurückreichenden
Zeitablaufs. Nach dem neusten Stand der neurophysiologischen und
gedächtnispsychologischen Forschung stellten Erinnerungen mentale
Konstruktionsleistungen dar und nicht - wie nach dem Alltagsverständnis - einen in der
psychischen Struktur unverändert wiedergabefähigen Speicher. Vielmehr werde im
Prozess des Erinnerns dem vergangenen Verhalten aus der Perspektive der Gegenwart
Sinn und Bedeutung verliehen. Dabei spiele das gegenwärtige Verständnis der
damaligen Ereignisse eine ebenso große Rolle wie aktuelle Bedürfnisse und
Interessen. Das von Arntzen vorgeschlagene System der Glaubwürdigkeitsmerkmale
nach Detaillierung, Ergänzbarkeit, Homogenität, Konstanz bzw. Inkonstanz,
Gefühlsbeteiligung, ungesteuerte Aussageweise, Inkonsistenz der Aussagen sowie der
Objektivität der Zeugenaussage, der Aussagemotivation stoße daher im
Zusammenhang mit der NS-Verfolgung auf deutliche Grenzen.
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Parallel hat das Gericht Oberstaatsanwalt außer Dienst Ambach, der mit der Vertretung
der durch die Generalstaatsanwaltschaft Düsseldorf erhobenen Anklage im Majdanek-
Verfahren betraut war, als weiteren Sachverständigen zu seinen Erfahrungen mit der
Vernehmung jüdischer Opferzeugen in Israel befragt. Oberstaatsanwalt a.D. Ambach hat
ausgeführt, dass sich die jüdischen Zeugen in der Beweisaufnahme durch eine große
Sorgfalt im Bezug auf die eigene Erinnerungsfähigkeit auszeichneten und dass es ihnen
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nach seinem Eindruck besonders wichtig war, vor einem deutschen Gericht über das
Erlebte zu berichten.
In der Zeit vom 5. bis zum 29. März 2007 sind sodann 21 Kläger und Klägerinnen in Tel
Aviv und in Jerusalem durch den Berichterstatter angehört worden, darunter am 14.
März 2007 auch der Kläger. Dabei ist das Gericht im Fall des Kläges von dem
historischen Sachverständigen Prof. Dr. Golczewski vor Ort durch ergänzende Fragen
unterstützt worden. Die zu allen Terminen ordnungsgemäß geladene Beklagte ist den
Anhörungen ferngeblieben.
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Der Kläger hat im Wesentlichen auf Befragen des Berichterstatters, des
Sachverständigen sowie seiner Bevollmächtigten im Termin Folgendes erklärt:
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"Der Ort Ostecko, in dem ich geboren wurde, liegt 13 km Luftlinie von Tluste entfernt. Bis
1941 waren die Russen da. Dann kamen die Ungarn, die Regierung war aber deutsch.
Zuerst gab es Pogrome, die Ukrainer haben die Juden im Wald erschossen, die Ungarn
haben uns alles genommen. Zu Anfang durften die Juden von Ostecko noch in ihren
eigenen Häusern wohnen. Wir wussten nicht, was kommt. Wir wussten nicht, dass
etwas derartiges kommt. Wir wussten nicht, was uns erwartet. Ich weiß nicht, ob es bis
1942 war, es war im Winter. Wie lange es dauerte, weiß ich nicht mehr. Einige Monate.
Damals ist noch nicht geschossen worden, sondern erst später. Genau kann ich mich
nicht erinnern. Es gab in Ostecko eine Brücke über den Dnjestr mit vier großen
Tragpfeilern, die von den Russen bei ihrem Rückzug gesprengt worden war. Im Winter,
als der Fluss zufror, haben wir bei der Zerlegung der Brücke geholfen, ungefähr zwei
Monate lang und dafür von den Deutschen - einer zivilen Firma - jeden Freitag Geld
verdient. Ich war 17 Jahre alt und ein kräftiger, junger Mann. Damals gab es noch kein
Ghetto. Ich habe bei meinen Eltern gewohnt. Dann kam der Befehl, dass alle Juden aus
Ostecko in das Ghetto nach Tluste gehen mussten. Damals lebten meine beiden Eltern,
mein Bruder und meine zwei Schwestern noch. Meine ältere Schwester war 1 1/2 Jahre
älter als ich.
28
In Tluste hatte mein Vater, der von Beruf Spenglermeister war und Blechdächer sowie
Dachrinnen reparierte, einen Bekannten, einen Schuster. Dieser hat uns in seine
Wohnung hereingelassen. 2 bis 3 km von Tluste entfernt habe auch ich Arbeit gefunden,
und zwar im Ort Ryzyniówka. Die brauchten Arbeiter für die Felder. Dort gab es einen
deutschen Leiter mit Namen G. Er war dick und ritt auf einem weißen Pferd. Mit dem G
konnte ich nicht reden. Ich war 18. Leute arbeiteten dort auf den Feldern. Es gab einen
Judenrat und jüdische Polizei. Auf dem Feld selbst gab es keine Polizisten und keine
Bewachung, aber wir brauchten doch Arbeit. Wir hatten kein Essen. Für die Arbeit habe
ich Essen bekommen, es wurde auch Geld gezahlt, aber das ging direkt an den
Judenrat. Ich habe über den Judenrat Coupons erhalten, genau kann ich mich nicht
erinnern. Die Coupons habe ich meinen Eltern gegeben, damit die etwas zu essen
hatten. Ich selbst habe auf der Arbeit Essen bekommen. Meine Eltern wären fast
verhungert, denn sie hatten keine Arbeit. Außer mir hatte nur meine ältere Schwester
Arbeit. Zu Anfang hat mein Vater noch versucht, auf die Dörfer zu gehen und als
Spengler zu arbeiten. Da hat man ihn aber geschnappt und fast zu Tode geschlagen.
Danach sagte er: "Ich gehe jetzt nicht mehr heraus." Mehr oder weniger haben meine
Schwester und ich die Familie alleine von unserer Arbeit ernährt. Wir erhielten vom
Judenrat Coupons. Die Coupons haben wir einmal in der Woche bekommen. Es war
kaum etwas. Die Arbeit in Ryziniówka habe ich über den Judenrat erhalten. Dieser hat
gesagt: "Dort und dort gibt es Arbeit." Jeder hat Geld verdienen wollen. Die Deutschen
29
haben sich an den Judenrat gewandt und der Judenrat hat dann Arbeiter gesucht. Ich
selbst bin dann immer zum Judenrat gegangen und habe gefragt, ob es Arbeit gäbe. Ich
habe essen und verdienen wollen. Sonst hat es keine andere Arbeit gegeben.
Welchen Unterschied es zwischen Menschen, die Arbeit über den Judenrat gehabt
haben und solchen, für die das nicht zutraf, gab: Normalerweise haben die aus Tluste
besser gelebt. Wir waren fremd dort. Wir waren nicht aus Tluste, es war schwierig. Nur
ich und meine Schwester haben gearbeitet. Was die anderen bekommen haben, weiß
ich nicht. Ich habe auf dem Feld Essen bekommen und vom Judenrat Coupons. Die
habe ich den anderen zu Hause gegeben, damit die zu essen hatten. Ich kann mich
nicht genau erinnern, was das war. Der Judenrat nahm 20 bis 30 junge Männer für die
Arbeit auf dem Feld an. Im Dorf Ryziniówka gab es keine Juden. Das war ein Dorf nur
aus Ukrainern und Polen. Die Frage, inwieweit sich der "Status" in Ryziniówka in der
Zeit, in der ich dort war, geändert hat, verstehe ich nicht. Es waren 20 bis 30 Leute auf
dem Feld. Es waren Furchen mit einer Länge von 2 bis 3 km. Wir hatten Hacken, um die
Erde aufzulockern. Ich weiß nicht, was das heißen soll, "ob ein SS-Mann
möglicherweise erschienen ist und gesagt hat: Ihr seid jetzt meine Leute". Ich habe nur
den G gesehen.
30
Diese Zeit dauerte ungefähr 1 1/2 bis 2 Jahre. Wir waren mit dem Davidstern
gekennzeichnet und wurden von einem jüdischen Polizisten zum Feld geführt, jeweils
ungefähr 20 bis 25 Leute. Auf dem Feld haben wir die Koksagys-Setzlinge gepflanzt
und die Erde aufgelockert. Man habe mir gesagt, dass man Gummi daraus mache.
Genau weiß ich es nicht. Ich selbst arbeitete mit den Pferden und bin den ganzen Tag
hinter dem Pflug gegangen. Es gab einen Ukrainer, der mir gezeigt hat, wie man die
Pferde an den Pflug spannt. Der hat das gemacht. Ich habe die Pferde auch gefüttert.
Deswegen bin ich später am Leben geblieben. 1943 gab es eine große Aktion. Das
Ghetto wurde von den Ukrainern und Deutschen umzingelt. Sie begannen um 3.00 Uhr
früh zu schießen und haben alle zum Friedhof gebracht. Dort war schon eine große
Grube ausgehoben. Das habe ich aber nicht mehr selbst gesehen, denn meine
Schwester und ich sind geflohen. Es wurden ca. 5.000 Menschen erschossen - ja - auch
meine Familie.
31
Danach wurde gesagt, das Ghetto gibt es nicht mehr und es ist geschlossen. Ich bin bei
meiner Schwester geblieben. Wir wussten nicht, wo wir hin sollten, deswegen sind wir
nach Ryziniówka gegangen. Dort haben wir einige Monate gearbeitet. Den Judenrat
gab es nach der großen Aktion nicht mehr. Man habe es mir gegeben, ein bisschen
Kleingeld. Genau kann ich nicht mehr erinnern. Es war nur eine Zeit von 2, vielleicht 1
1/2 Monaten. Es gab eine Angestellte, die das machte. Es gab dort zwei Baracken. Ich
habe mit den Pferden gearbeitet und wir haben im Kuhstall geschlafen. Deswegen sind
meine Schwester und ich noch einmal davon gekommen, denn morgens früh kamen
wieder Ukrainer und Deutsche und haben die Baracken umzingelt. Wir waren mit
meiner Schwester ungefähr 200 m im Kuhstall entfernt. Nur wir sind am Leben
geblieben. Sie haben dann die Leute in den Baracken im Schlaf erschossen, mit
Dumdumgeschossen. Sie waren ganz entstellt, ein Haufen von Leichen. Ich bin wieder
mit meiner Schwester in den Wald geflohen, aber wir mussten zurückkommen, denn ein
Mensch muss essen. Man hat uns Schaufeln in die Hand gedrückt. Wir sollten Gruben
für die Toten ausheben, aber wir waren selbst zu armselig. Es war schon das Ende, die
Russen kamen schon. Wir sind dann zu einem Polen gegangen, sein Anwesen war
umzäunt. Er hat uns zwei Monate lang versteckt dort leben lassen bis zur Befreiung
durch die Russen.
32
Für die Angaben beim Rentenversicherungsträger gab es kein ebenso ausführliches
Gespräch wie heute. Ich bin befragt worden und habe geantwortet. Es ist schwer, sich
zu erinnern, es liegt alles schon 60 Jahre zurück. Ob ich im Entschädigungsverfahren in
den fünfziger Jahren lange mit einem Anwalt gesprochen habe, weiß ich nicht mehr so
genau. Man habe mich gefragt und ich habe geantwortet.
33
Aus meinem Geburtsort Ostecko sind von 100 jüdischen Familien im Ganzen nur sieben
Menschen am Leben geblieben, darunter meine Schwester und ich. Ich weiß nicht, ob
Sie mir glauben - dass es so etwas gegeben hat."
34
Der Sachverständige hat erklärt, dass, was der Kläger bekundet habe, sei in den
wichtigsten Zügen historisch plausibel. Nur bei Kleinigkeiten müsse man vorsichtig sein.
Der Berichterstatter hat zu Protokoll gegeben, dass der Kläger nach dem in dem Termin
gewonnenen persönlichen Eindruck glaubwürdig sei.
35
Die Anhörung des Klägers ist im Einverständnis mit allen im Termin Anwesenden durch
eine Videokamera aufgezeichnet worden. Ergänzend ist den Beteiligten der
Erfahrungsbericht des Berichterstatters über die Erfahrungen aus den anderen
Anhörungsterminen in Israel übersandt worden. Darin heißt es u.a., die Kläger hätten
sich befriedigt über die Möglichkeit gezeigt, ihre Zeit im Ghetto vor einem deutschen
Richter schildern zu können. In keinem Fall sei es zu einer Überforderungssituation
gekommen. Alle Kläger seien nach dem in der persönlichen Anhörung gewonnenen
richterlichen Eindruck glaubwürdig gewesen.
36
Die Beklagte hat hierzu sowie zum Videoprotokoll der Anhörung des Klägers erklärt,
diese pauschalen Bewertungen des Gerichts seien bei Weitem zu undifferenziert. Der
Kläger habe zwar den Eindruck erweckt, in vielen Detailschilderungen die Zeit im
Ghetto getreu nach seiner Erinnerung wiederzugeben, und sich bemüht, das damalige
Geschehen wahrheitsgetreu zu schildern. Ob er täglich in das Ghetto zurückgekehrt sei,
lasse sich der Anhörung indes nicht entnehmen. Dies sei jedoch Voraussetzung eines
Anspruchs nach dem ZRBG. Hinsichtlich der Entlohnung habe der Kläger eindeutig
erklärt, selbst kein Geld erhalten zu haben. Der Umfang der vom Judenrat erhaltenen
Lebensmittelcoupons sei im Unklaren geblieben. Allein die Tatsache, dass der Kläger
die Lebensmittelcoupons den Eltern gegeben haben wolle, sage noch nichts über den
Umfang der Zuwendung aus, ob sie nämlich das Maß einer Gewährung freien
Unterhalts überschritten habe. Wenn die Eltern für alle Familienmitglieder die Coupons
eingetauscht hätten, könne daraus kein Rückschluss gezogen werden, ob seine
Coupons seinen Bedarf überstiegen hätten. Es sei unklar geblieben, was diejenigen
Verfolgten erhalten hätten, die nicht gearbeitet hätten. Denn dazu habe der Kläger keine
Angaben machen können. Er habe sich nur erinnert, dass die aus Tluste stammenden
Personen besser gelebt hätten. Nur die Differenz zwischen dem aber, was alle bekamen
und dem, was nur die Beschäftigten bekamen, könne als Zuwendung aus der
Beschäftigung angesehen werden. Auch eine Zusatzverpflegung für den arbeitenden
Teil der Juden, die den höheren Kalorienbedarf ausgeglichen habe, könne den
Charakter der Zwangsarbeit nicht ändern (Urteil des LSG NRW v. 8. Dezember 2006 - L
13 R 144/06 - ). Im Übrigen sei auch in der Zahlung an den Judenrat keine Entlohnung
für den Kläger zu sehen. Das Entgelt müsse vielmehr den Beschäftigten selbst zufließen
(Urteile des LSG NRW v. 3. Juni 2005 - L 4 R 3/05 - und 29. Mai 2006 - L 3 R 45/06 -). Im
Übrigen sei die Parteivernehmung im sozialgerichtlichen Verfahren generell unzulässig.
Es sei unklar, worum es sich bei den Terminen in Israel rechtlich überhaupt gehandelt
37
habe. Auch sei die Protokollierung in Gestalt der Bezugnahme auf die Videoaufnahme
unzureichend. Ferner habe die Dolmetscherin nicht ordnungsgemäß übersetzt. Vorhalte
aus früheren Akten seien nicht hinreichend gemacht worden. Die Befragung durch den
Berichterstatter sei in zu freundlicher und in unkritischer Weise erfolgt. Widersprüche
zwischen früherem und heutigem Vorbringen seien nicht ausgeräumt, die Kläger nicht
mit einander widersprechenden Aussagen konfrontiert worden. Darüber hinaus hätten
die zeitnäheren Angaben der Kläger aus den BEG-Verfahren der 50er und 60er Jahre
generell einen größeren Beweiswert. Es gebe keinen Erfahrungssatz, dass die NS-
Opfer heute eher die Wahrheit sagten als früher. In rechtlicher Hinsicht bleibe die
Beklagte bei dem vom 13. Senat des BSG aaO vertretenen Standpunkt und schließe
sich der neuen Rechtsprechung des 4. Senats des BSG aus dessen Urteil vom
14.12.2007 - B 4 R 29/06 R - nicht an.
Im Verhandlungstermin vom 06. Juni 2007 hat der erkennende Senat die
Videoaufzeichnung der Anhörung des Klägers vollständig in Augenschein genommen.
Die Beteiligten haben übereinstimmend erklärt, dass die Aufnahme im vollen Umfang
verständlich war.
38
Wegen der weiteren Einzelheiten des Beteiligtenvorbringens und des
Beweisergebnisses wird auf die Sitzungsniederschriften des erkennenden Senats, die
eingeholten Sachverständigengutachten, die Gerichtsakte mit Anlagen, die
Verwaltungsvorgänge der Beklagten, die Entschädigungsakte aus dem BEG-Verfahren
des Klägers sowie auf die Videoaufzeichnung der Anhörung des Klägers verwiesen, die
sämtlich Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.
39
Entscheidungsgründe:
40
Die zulässige Berufung ist begründet. Das Sozialgericht hat die Klage zu Unrecht
abgewiesen, denn der Kläger hat dem Grunde nach Anspruch auf Altersrente im
zugesprochenen Umfang. Die ablehnenden Bescheide der Beklagten sind rechtswidrig
und beschweren den Kläger i.S.d. § 54 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) in seinen
sozialen Rechten. Der Kläger hat alle Voraussetzungen glaubhaft gemacht, die für
einen Rentenanspruch auf Grundlage der §§ 1 bis 3 ZRBG erforderlich sind. Dabei geht
der Senat für die Auslegung der vorgenannten Vorschriften von den unter A.
dargelegten Kriterien aus. Die zur Ausfüllung dieser Voraussetzungen im Einzelfall des
Klägers getroffenen Feststellungen beruhen auf der tatrichterlichen Würdigung aller
Umstände des Einzelfalles durch den erkennenden Senat (hierzu unter B). Die
Einwände der Beklagten gegen die Berücksichtigung der persönlichen Anhörung des
Klägers greifen nicht durch (hierzu unter C).
41
A.
42
I. Der erkennende Senat hält im Kern an der vom 13. Senat des BSG im Urteil vom 7.
Oktober 2004 - B 13 RJ 59/03 - vertretenen Auffassung fest, dass es sich bei den
Vorschriften der §§ 1 bis 3 ZRBG um Bestimmungen handelt, die auf dem Boden der bis
zum Jahr 2002 ergangenen sogenannten Ghettorechtsprechung des 5. und 13. Senats
des BSG stehen und die das bis dahin in Kraft befindliche Rentenrecht einschließlich
des Fremdrentengesetzes (FRG) und des Gesetzes zur Wiedergutmachung
nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG) ergänzen und nur
teilweise verdrängen. Der Auffassung des 4. Senats im Urteil vom 14. Dezember 2006 -
B 4 R 29/06 R - Rn 104 - , als Entgelt i.S.d. § 1 Abs. 1 Nr. 1b ZRBG genüge jede
43
Zuwendung wegen geleisteter Arbeit, unabhängig von ihrer Art oder Höhe, vermag der
erkennende Senat nicht beizutreten. Soweit der 4. Senat des BSG (aaO Rn 102)
ausführt, das Nichtvorliegen von Zwangsarbeit sei keine Tatbestandsvoraussetzung des
§ 1 ZRBG, folgt der erkennende Senat dem nicht. Das gilt auch für die Annahme des 4.
Senats (aaO Rn 50 und 65), dass nach § 1 Abs. 3 ZRBG die Entstehung eines Rechts
auf Altersrente, soweit sie auf der gleichgestellten Vorleistung von Ghettobeitragszeiten
i.S.d. ZRBG beruht, die Erfüllung einer allgemeinen Wartezeit von 60 Monaten nicht
voraussetzt (dazu unter II.).
Im Übrigen legt der erkennende Senat hinsichtlich der Auslegung der Begriffe
"Zwangsarbeit", "Ghetto" und "Beschäftigung aus eigenem Willen" Folgendes
zugrunde:
44
1. Um ein "Ghetto" im Sinne des § 1 ZRBG handelt es sich jedenfalls bei solchen
Wohnbezirken, in denen Juden durch eine Aufenthaltsbeschränkung vollständig und
nachhaltig durch die Androhung schwerster Strafen oder durch Gewaltmaßnahmen von
der Umwelt abgesondert wurden und die sich in einem Gebiet befanden, das rechtlich
als vom Deutschen Reich besetzt oder diesem eingegliedert zu qualifizieren ist, womit
der faktische Herrschaftsbereich des NS-Staates gemeint ist. Es kann hier dahingestellt
bleiben, ob auch ein sogenanntes "offenes" Ghetto unter den Ghetto-Begriff i.S.d. § 1
ZRBG fällt. Denn auf den Unterschied zwischen "offenem" und "geschlossenen" Ghetto
kommt es im Fall des Klägers rechtlich nicht an. Vielmehr lässt sich aus den unter B.
dargelegten Gründen feststellen, dass er in seiner Zeit in Tluste in einem
"geschlossenen" Ghetto war (eingehend zum Problemkreis des Ghettobegriffs: LSG
NRW, Urteil v. 1. September 2006 - L 14 R 41/05; Urteil v. 15. Dezember 2006 - L 13 RJ
112/04 - mit anhängiger Revision - B 5 R 12/07 R -).
45
2. "Beschäftigung" i.S.d. § 1 ZRBG ist jede nicht selbständige Arbeit. Das Bestehen
eines Arbeitsverhältnisses ist nicht notwendig. Anhaltspunkte sind eine von Weisungen
eines anderen hinsichtlich Zeit, Ort, Dauer, Inhalt oder Gestaltung abhängige Tätigkeit
sowie eine gewisse funktionale Eingliederung in die Arbeitsorganisation des
Unternehmens oder Weisungsgebers, wobei die tatsächlichen Umstände des
Einzelfalls und das sich daraus ergebende Gesamtbild der ausgeübten Tätigkeit
maßgeblich sind. Auch Arbeiten und Dienstleistungen, die außerhalb des räumlichen
Bereichs eines Ghettos verrichtet wurden, werden dabei vom ZRBG erfasst, wenn sie
Ausfluss der Beschäftigung im Ghetto waren (4. Senat des BSG a.a.O. Rn. 99 mit
Hinweis auf Bundestagsplenarprotokoll 14233 vom 25. April 2002, 23281). Die Arbeit
muss dem Verfolgten lediglich von einem Unternehmer oder einer Ghettoautorität mit
Sitz im Ghetto (z.B. dem örtlichen Judenrat) angeboten oder ähnlich einer
Arbeitnehmerüberlassung oder einer Arbeitsvermittlung zugewiesen worden sein. Eine
direkte Rechtsbeziehung mit unmittelbarem Entgeltzufluss zwischen einer deutschen
Dienststelle und den betroffenen Ghettobewohnern ist daher nicht erforderlich.
46
3. Eine freiwillige Beschäftigung "aus eigenem Willen" scheidet dann aus, wenn der
Arbeitende von hoher Hand unter Ausschluss jeder freien Willensbetätigung zur Arbeit
gezwungen wurde, z.B. bei Strafgefangenen oder KZ-Häftlingen. Ein eigener
Willensentschluss i.S.d. ZRBG liegt demgegenüber vor, wenn die Arbeit vor dem
Hintergrund der wirklichen Lebenslage im Ghetto jedenfalls auch noch auf einer wenn
auch auf das Elementarste reduzierten Wahl zwischen wenigstens zwei
Verhaltensmöglichkeiten beruhte. Solange NS-Verfolgte hinsichtlich des
Zustandekommens und/oder der Durchführung der zugewiesenen angebotenen
47
Arbeiten noch eine gewisse Dispositionsbefugnis hatten, sie also die Annahme
und/oder Ausführung der Arbeiten gegenüber dem, der sie ihnen zuwies, auch ohne
unmittelbare Gefahr für Leib, Leben und ihre Restfreiheit ablehnen konnten, liegt keine
Unfreiwilligkeit vor, auch dann nicht, wenn sie deshalb mangels eines Entgelts weniger
oder nichts mehr zu Essen hatten. Gleiches gilt für eine nur den Zwangsaufenthalt im
Ghetto aufrecht erhaltende, also vor allem eine fluchtverhindernde Bewachung bei
Beschäftigungen außerhalb des räumlichen Ghettobereichs (vgl. 4. Senat des BSG aaO
Rn 102 mwN).
II. Nach wie vor erachtet der erkennende Senat indes zur Anwendung des ZRBG die
Abgrenzung von der Zwangsarbeit nach dem sozialversicherungsrechtlichen Typus des
Beschäftigungsverhältnisses für geboten. Dazu ist nicht nur auf den Grad der
Freiwilligkeit abzustellen, sondern auch auf eine von Zwangsarbeitsbedingungen
deutlich unterscheidbare Entgelthöhe. Der erkennende Senat gründet diese Auslegung
auf die Erkenntnis, dass der Gesetzgeber mit dem ZRBG trotz des Betretens von
Neuland in der rentenrechtlichen Tradition der durch die BSG-Urteile des Jahres 1997
vorgezeichneten Ghetto-Rechtsprechung geblieben ist und an der Differenzierung
zwischen Zwangsarbeit und Beschäftigung im sozialversicherungsrechtlichen Sinne
festhält (hierzu unter 1.). Der Senat sieht sich jedoch aufgrund neuer historischer
Erkenntnisse gehalten, seine bisherige Rechtsprechung zur Feststellung einer für die
Anwendung des ZRBG ausreichenden Höhe des Entgelts zu modifizieren und stellt
dazu - als Hilfstatsache bei Beweisnot - nunmehr auch auf die Frage ab, ob das im
Ghetto erhaltene Entgelt objektiv dazu ausreichte, neben dem Arbeitenden selbst auch
weitere Menschen über einen erheblichen Zeitraum zu ernähren oder hierzu einen
entscheidenden Beitrag zu leisten (hierzu unter 2.). Im Übrigen setzt auch ein
Rentenanspruch nach dem ZRBG die Erfüllung der allgemeinen Wartezeit von 60
Monaten voraus, nicht aber die Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis
(hierzu unter 3.).
48
1. Die grundsätzliche Fortgeltung der sogenannten Ghettorechtsprechung des BSG
(Urteile vom 18. Juni 1997 - 5 RJ 66/95 -; 21. April 1999 - B 5 RJ 48/98 R -; 14. Juli 1999
- B 13 RJ 61/98 R) für die Auslegung des ZRBG ergibt sich aus der
Gesetzesbegründung (Bundestagsdrucksachen - BT-Drs. - 14/8583 Seiten 1, 5 und
14/8602 Seiten 1, 5), die ausdrücklich auf diese Urteile Bezug nimmt, sowie aus dem
Wortlaut der gesetzlichen Überschrift ("Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten ...") (
ebenso LSG NRW, Urteil v. 7. Mai 2007 - L 3 R 34/07). Zudem vertraten in der
Bundestagsdebatte alle Fraktionen des Deutschen Bundestages die Auffassung, das
ZRGB schließe eine rentenrechtliche Lücke für den besonderen Personenkreis der
Ghettoüberlebenden (BT-Plenarprotokoll 13/233; 23279 ff). Für die hier vertretene
Auffassung spricht darüber hinaus der systematische Zusammenhang zu dem auch vom
4. Senat des BSG genannten Stiftungsgesetz, vor allem dessen § 16 Abs. 2 Satz 1, der
ausdrücklich bestimmt, dass mit Beantragung der dortigen Leistungen durch Erklärung
auf jede darüber hinaus gehende Geltendmachung von Forderungen für Zwangsarbeit
gegen die öffentliche Hand unwiderruflich verzichtet werde, während gemäß § 16 Abs. 3
Stiftungsgesetz weitergehende Ansprüche gegen die öffentliche Hand unberührt
bleiben. Hieraus hat der erkennende Senat mit rechtskräftigem Urteil vom 29. Juni 2005
- L 8 RJ 97/02 - die Notwendigkeit der Abgrenzung von Zwangsarbeit (zu entschädigen
nach dem Stiftungsgesetz) und entgeltlicher Arbeit i.S.d ZRBG abgeleitet. Die
Rentenversicherungsträger sind diesem Urteil auch bundesweit gefolgt. Der Senat hält
an dieser Entscheidung fest. Schließlich sind auch die außerhalb des Rentenrechts
bestehenden allgemeinen entschädigungsrechtlichen Bestimmungen des BEG für die
49
im Ghetto erlittene Freiheitsentziehung und Gesundheitsbeschädigung durch Hunger
und Misshandlung als Beleg heranzuziehen, insbesondere § 43 Abs. 3 BEG, der
Zwangsarbeit unter haftähnlichen Bedingungen der Freiheitsentziehung gleichachtet
(hierzu Bundesgerichtshof - BGH -, Urteil v. 25. Juni 1970 - IX 241/67 - mwN). Wären
Ansprüche nach dem ZRBG demgegenüber, entsprechend dem Verständnis des 4.
Senats des BSG, unabhängig vom Vorliegen oder Nichtvorliegen von Zwangsarbeit und
einer deren Bedingungen typischerweise deutlich übersteigenden Entgelthöhe zu
gewähren, so würde sich in der Tat die auch vom 4. Senat am Ende seiner
Entscheidung (Rn 118) aufgeworfene Verfassungsfrage stellen, warum nicht auch alle
anderen Gruppen von Zwangsarbeitern, also auch solchen, die nicht in einem Ghetto
leben mussten, Anspruchsberechtigte dieser Leistung sein sollen. Eine generelle
Entschädigung aller im 2. Weltkrieg zur Arbeit für Deutschland gezwungenen
Kriegsopfer würde jedoch deutlich über den im ZRBG erklärten gesetzgeberischen
Willen hinausgehen. Bisheriger außen- und staatspolitischer Praxis der Bundesrepublik
Deutschland folgend ist eine solche generelle Reparationsregelung vielmehr in allen
völkerrechtlichen Verträgen zur Regelung der Folgen des 2. Weltkrieges, angefangen
vom Londoner Schuldenabkommen vom 27. Februar 1953 - BGBl Teil II 331 - in Art 5
Abs. 2 bis hin zum Zwei-plus-Vier-Vertrag vom 12. September 1990- BGBl Teil II 1317 -,
bei der Wiedervereinigung Deutschlands vermieden worden (vgl. Bericht der
Bundesregierung über Wiedergutmachung und Entschädigung für
nationalsozialistisches Unrecht - BT-Drs. 10/6287, S. 8 ff, s. auch § 1 Abs. 1 des
Allgemeinen Kriegsfolgengesetzes - AKG - aus dem Jahr 1957 - BGBl Teil I 1745,
hierzu Pagenkopf AKG 1958, Einführung und Art 1 Anmerkung 1 ff). Eine Änderung
dieser Grundentscheidung hätte außerordentlich weitreichende staats-, außen- und
haushaltspolitische Konsequenzen und hätte, wenn sie mit dem ZRBG hätte bewirkt
werden sollen, klaren Ausdruck im Gesetz finden müssen. Auch das
Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat den in dieser Frage bestehenden
außerordentlich weiten politischen Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers
ausdrücklich anerkannt (Beschluss des 2. Senats vom 13. Mai 1996 - 2 BvL 33/93 -;
allgemein zu den Auslegungsgrenzen: BVerfGE 11, 16, 130)). Zu einer mittelbaren
Änderung der in der Gesetzgebung zum ZRBG getroffenen politischen
Grundentscheidung sieht der erkennende Senat die Rechtsprechung als dem Gesetz
unterworfene Gewalt gemäß Artikel 20 Abs. 3 und Artikel 97 Abs. 1 Grundgesetz (GG)
iVm § 31 Sozialgesetzbuch Erstes Buch (SGB I) daher nicht befugt (so auch 13. Senat
des BSG, Urteil v. 7. Oktober 2004, aaO Rn 44).
2. Unabhängig davon gibt das Urteil des 4. Senats des BSG vor dem Hintergrund neuer
historischer Erkenntnisse Anlass, die bisherige Rechtsprechung zum Entgeltbegriff des
ZRBG zu modifizieren. Nach dieser Rechtsprechung war festzustellen, zur Zuteilung
welcher genauen Mengen welcher Nahrungsmittel die Coupons im jeweiligen Ghetto
berechtigten und welchen Gegenwert diese Dinge damals besaßen. Es hat sich in der
(den Beteiligten des Verfahrens bekannten) Praxis der jüngsten Beweiserhebungen des
erkennenden Senats zu den Gebieten des Baltikums, Polens und der Ukraine im 2.
Weltkrieg gezeigt, dass diese Umstände für die allermeisten Überlebenden nach so
langer Zeit nicht erinnerbar und auch historisch kaum aufklärbar sind, zumal sich daran
weitere ungeklärte Fragen anschließen, wie etwa, ob für den Wert von Lebensmitteln
auf offiziell von deutscher Seite festgelegte Preise oder die real auf dem (schwarzen)
Markt in Ghettos geltenden Tauschrelationen abzustellen ist.
50
Die Anerkennung eines ZRBG-Anspruchs hing damit davon ab, ob die jeweiligen
lokalen NS-Machthaber in Ghettos oder besetzten Gebieten in irgendeiner Form
51
"ortsübliche Löhne" festsetzten oder nicht. Nur im Ghetto Lodz, das sowohl dem BSG in
seiner Ghettorechtsprechung wie auch dem Deutschen Bundestag bei Verabschiedung
des im Anschluss an diese Rechtsprechung ergangenen ZRBG vor Augen stand, galt
nämlich wegen - zwar völkerrechtswidriger (so schon v. Moltke 1940 unter Hinweis auf
die Haager Landkriegsordnung in: Sitzung der Sektion Völkerrecht der Akademie für
deutsches Recht, Diskussionsprotokoll, Bundesarchiv Berlin/Koblenz R 61/360; ferner
Ipsen, Völkerrecht, 5. Auflage 2004, § 23 Rn 42 ff), aber formal-juristisch wirksamer
Annexion der westlichen Teile der Republik Polen durch das Deutsche Reich die RVO
(Ostgebiete-Verordnung v. 22. Dezember 1941 - Reichsgesetzblatt Teil I 777) und damit
auch die §§ 1227 bzw. 1228 RVO, auf denen die o.g. Einschränkungen beruhen.
Für die außerhalb des ("groß"-) deutschen Reichsgebiets liegenden besetzten Gebiete
ergibt sich demgegenüber nach den neuesten auch den Beteiligten bekannten
historischen Erkenntnissen des erkennenden Senats sowohl nach den
unterschiedlichen Phasen und Orten des Kriegs- sowie Besatzungsverlaufs als auch
den verschiedenen im NS-Staat willkürlich miteinander rivalisierenden NS- und
Militärorganisationen (Wehrmacht, Rüstungsindustrie, Organisation Todt, SS, SA,
Einzelpersonen- und Firmen etc.) ein von reinen Zufällen und gravierenden inneren
Widersprüchen gekennzeichnetes Bild über die Festsetzung der örtlichen Löhne sowohl
für die nicht-jüdische Bevölkerung als auch für die dort verfolgten Juden. "Recht" war
das, was örtliche NS-Machthaber als Lohn oder Ration in Ghettos verordneten, ohnehin
in keinem Fall (grundlegend: Radbruch, Gesetzliches Unrecht und überpositives Recht,
in: Süddeutsche Juristenzeitung 1946, 105 ff unter III.; vgl. auch 4. Senat des BSG aaO
Rn 109, 114). Die aus heutiger Sicht gebotene wenigstens nachträglich gleiche
Anwendung vergleichbarer Maßstäbe für vergleichbare Umstände darf von diesem
willkürverzerrten Verhalten lokaler NS-Stellen nicht abhängig sein. Dies verkennt die
sogenannte Anspruchstheorie, nach der die Anwendung des ZRBG - unabhängig von
der tatsächlichen Gewährung von Entgelt - allein von einem hierauf theoretisch
bestehenden Rechtsanspruch abhängen soll (dagegen schon Urteil des erkennenden
Senats - L 8 R 249/05 -).
52
Zudem geht der Senat davon aus, dass der Deutsche Bundestag bei Erlass des ZRBG
nicht ernstlich gewollt haben kann, dass für die Anwendung dieses Gesetzes durch
Verwaltung und Rechtsprechung zu Lasten der Betroffenen so hohe Nachweishürden
für die Entgeltlichkeit der Tätigkeit aufgestellt würden, dass für die Überlebenden, die im
Regelfall über keinerlei Dokumente aus der damaligen Zeit verfügen, ein Nachweis der
entgeltlichen Beschäftigung praktisch unmöglich gemacht wird (vgl. auch § 2 Abs. 2, 2.
Halbsatz SGB I). Dem deutschen Bundestag konnte bei Erlass des ZRBG der neueste
historische Befund allerdings noch nicht bekannt sein, weil die historische Forschung zu
den Ghettos des 2. Weltkrieges im Jahr 2002 erst am Anfang stand und sich seit der
Öffnung der Archive in den Staaten des ehemaligen Ostblocks seit Ende der 90er Jahre
des vergangenen Jahrhunderts im Umbruch befindet (vgl. auch BT-Drs. 15/1476 zu den
bei Erlass des ZRBG fehlenden Möglichkeiten die Zahl der Anträge und ihre Ergebnisse
zu prognostizieren).
53
Damit ergab sich für den erkennenden Senat das Erfordernis, ein neues vor Gericht
noch heute objektiv überprüfbares aber auch regelmäßig nachweis- und erinnerbares
Kriterium zu finden, welches die Unterscheidbarkeit von reiner Zwangsarbeit einerseits
und freiwilliger entgeltlicher Tätigkeit andererseits mit dem für die Glaubhaftmachung
gebotenen Gewissheitsgrad richterlicher Überzeugungsbildung ermöglicht. Für nicht
ausreichend hält der Senat dabei nach wie vor die bloße Versorgung des Betroffenen
54
mit Nahrungsmitteln selbst, selbst wenn diese Ernährung besser war und im Ghetto u.U.
größere Überlebenschancen bot (wie im durch den 13. Senat des BSG am 7.Oktober
2004 entschiedenen Fall, dem tatsächliche Feststellungen des erkennenden Senats
zugrunde lagen). Das gilt auch, wenn die Nahrungsmittel objektiv nur dazu geeignet
waren, den mit der Arbeit verbundenen Kalorienmehrbedarf zu decken (so auch LSG
NRW, Urteil v. 8. Dezember 2006 - L 13 R 144/06). Denn die Ernährung zum Zwecke
des Erhalts der eigenen Arbeitskraft ist ein Umstand, der in gleicher Weise für
Zwangsarbeit typisch ist - schon aus dem reinen Eigeninteresse desjenigen, der die
Arbeitskraft der Zwangsarbeiter für sich ausbeutet. Einen deutlichen Unterschied sieht
der Senat jedoch dann als hinreichend glaubhaft gemacht an, wenn das Maß des
empfangenen Entgelts - unabhängig davon, ob in Form von Bargeld, Coupons oder
Naturalien gewährt - objektiv bewertet dazu ausreichte, um nicht nur den Arbeitenden
selbst, sondern mindestens eine weitere Person für einen erheblichen Zeitraum zu
ernähren oder hierzu einen entscheidenden Beitrag zu leisten, und sei es nur auf dem
im Ghetto allgemein herrschenden außerordentlich niedrigen Ernährungsniveau. Denn
die Möglichkeit zur Mitversorgung weiterer Angehöriger ist auch nach dem historischen
Befund, nach den wirtschaftlichen Bedingungen wie auch im Erleben der Opfer ein
grundlegender Unterschied zu der für echte Zwangsarbeit charakteristischen totalen
Ausbeutung, wie sie in den Zwangsarbeiterlagern und dann noch später bei der
Vernichtung durch Arbeit in den Konzentrationslagern stattfand. Ob dieses Kriterium der
objektiven Eignung zur Mitversorgung von Angehörigen jeweils gegeben war oder nicht,
ist nach den tatrichterlichen Erfahrungen des erkennenden Senats, der sich insoweit
nicht nur auf eine langjährige Praxis und eine Vielzahl von Fällen, sondern auch auf die
durch den Berichterstatter in den persönlichen Anhörungen von NS-Opfern in Israel
gewonnenen Erkenntnisse stützen kann, praktisch allen Überlebenden der Ghettos,
soweit sie heute noch verhandlungsfähig sind, erinnerlich. Denn dieses Kriterium betrifft
in aller Regel die nächste eigene Familie, deren Schicksal am intensivsten erlebt wurde.
3. Im Übrigen bleibt es für die Rechtsanwendung des ZRBG bei dem allgemeinen
rentenrechtlichen Erfordernis der allgemeinen Wartezeit von 60 Monaten gemäß §§ 35
Nr. 2, 50 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI). Entsprechend
hat der erkennende Senat seine Entscheidung daher als Grundurteil tenoriert. Die
Vorschrift des § 1 Abs. 3 ZRBG, die der 4. Senat hier als generelle Regel zitiert, betrifft
nämlich nur den auch im Verhältnis zu Israel eingreifenden speziellen Fall, dass
zwischen- oder überstaatliches Recht Sonderregeln zur Mindestanzahl an
rentenrechtlichen Zeiten trifft (sog. Kleinstzeitenregeln). Ohne diesen Ausschluss des §
1 Abs. 3 ZRBG wären Rentenzeiten von weniger als 12 Monaten (im Verhältnis zu
Israel) bzw. von 18 Monaten (im Verhältnis zu den USA) durch den anderen Staat
abzugelten (BT-Drs. 14/8583). Der vom 4. Senat des BSG insoweit ergänzend genannte
§ 3 Abs. 2 ZRBG regelt ebenfalls etwas anderes, nämlich die Frage des
Zugangsfaktors, die aber für die Grundvoraussetzungen der Wartezeit nicht relevant ist.
In der Praxis liegt darin indes für die Anwendung des ZRBG zugunsten der Berechtigten
keine erhebliche Hürde. Fehlende Zeiten können danach nämlich durch das Recht zur
freiwilligen Weiterversicherung gemäß § 7 SGB VI über nachträgliche Annahme von
Beiträgen seitens der Beklagten gemäß §§ 197 Abs. 3, 198 Satz 1 SGB VI iVm Art 2
Abs. 1, Art 3 Abs. 1 a) und Art 4 Abs. 1 Satz 1 des Deutsch-Israelischen
Sozialversicherungsabkommens (DISVA) vom 17. Dezember 1973 - BGBl. Teil II 246,
443 - in der Fassung des Änderungsabkommens vom 7. Januar 1986 - BGBl Teil II 863,
1099 -, das in Israel lebende israelische Staatsangehörige mit deutschen Versicherten
in Deutschland gleichstellt, ausgeglichen werden. Diese Rechtsfolgen haben
Rückwirkung bis zum frühestmöglichen Rentenbeginn nach dem ZRBG, d.h. bis zum 1.
55
Juli 1997 (näher hierzu zuletzt Senatsurteil vom 23. Mai 2007 - L 8 R 28/07 - mwN).
Anderes gilt freilich für das Erfordernis des deutschen Sprach- und Kulturkreises (dSK),
das im ZRBG ausdrücklich aufgegeben ist und das sich auch nicht aus den allgemeinen
Bestimmungen des FRG bzw. des WGSVG in das ZRBG "hineininterpretieren" lässt,
wie der 4. Senat des BSG aaO (Rn 105 ff, 114) zutreffend dargelegt hat. Eine solche
einschränkende Auslegung würde nämlich dem ursprünglichen Gesetzeszweck
zuwiderlaufen (so auch die Stellungnahme der Bundesregierung zu dieser Frage - BT-
Drs. 16/5720). Auch würde sie im Ergebnis zu einer historisch fragwürdigen
Unterscheidung zwischen deutschsprachigen und nicht-deutschsprachigen Verfolgten
führen.
56
Auch in der tatrichterlichen Praxis würden bei einer solchen Interpretation des Gesetzes
für die Instanzgerichte noch weitere, mit erheblichem Aufwand verbundene tatsächliche
Feststellungen erforderlich, denn zur Feststellung des dSK ist der Gesamtbereich der
mündlichen und schriftlichen Kommunikation unter Ausschöpfung aller erreichbaren
Beweismittel konkret zu erfassen und in Beziehung zur jeweiligen Sprachverwendung
zu setzen (BSG, Urteile v. 10 März 1999 - B 13 RJ 83/98 R - und 14. März 2002 - B 13
RJ 15/01 R). Die in den Akten häufig anzutreffende bloße Verneinung des zum dSK
anzukreuzenden Feldes im Antragsvordruck dürfte - schon wegen fehlenden
Problembewusstseins der Antragsteller - dazu keine tragfähige
Entscheidungsgrundlage sein.
57
B.
58
Die nach den unter A. ausgeführten rechtlichen Voraussetzungen hat der Kläger erfüllt.
Die dazu erforderlichen Tatsachen sind aufgrund freier richterlicher Beweiswürdigung
des Gesamtergebnisses des Verfahrens gemäß §§ 128, 202 SGG iVm § 294 der
Zivilprozessordnung (ZPO) glaubhaft gemacht, d.h. überwiegend wahrscheinlich, was
gemäß § 3 WGSVG und § 4 FRG als Beweismaß für Ansprüche nach dem ZRBG
ausreicht. Unter Berücksichtigung aller für den Einzelfall bedeutsamen Umstände stellt
der Senat hier jeweils im Sinne einer guten Möglichkeit Folgendes fest:
59
I. 1. Im Ort Tluste bestand im streitbefangenen Zeitraum ein durch besondere
Kennzeichnung und nur durch ein Tor zu betretender jüdischer Wohnbezirk. Wer ihn
ohne Begleitung eines jüdischen Polizisten verließ, setzte sich, so wie es der Kläger im
Falle seines Vaters glaubhaft geschildert hat, der Gefahr schwerster körperlicher
Misshandlungen oder gar des Todes aus. Dass die sogenannte Keom-Liste für Tluste
lediglich ein Zwangsarbeiterlager erwähnt, steht der Annahme der Existenz des Ghettos
nicht entgegen. Die Beklagte hat ihren entsprechenden Einwand nach dem Hinweis des
Sachverständigen Prof. Dr. Golczewski auf den geringen Beweiswert der Keom-Liste
nicht näher substantiiert. Demgegenüber haben die vom Sachverständigen
ausgewerteten Quellen des überlebenden Zeitzeugen Baruch Milch sowie das
wissenschaftliche Werk von Pohl und von Gudrun Schwarz ein deutlich höheres
fachwissenschaftliches Gewicht. Das Sachverständigengutachten von Prof. Dr.
Golczewski ist auf dieser Grundlage in sich stimmig, überzeugend begründet und beruht
auf der umfassenden Auswertung des neuesten Stands der Forschung seines
Fachgebiets. Prof. Dr. Golczewski hat zu den spezifischen, für diese Fallgestaltung
relevanten historischen Umständen umfangreich geforscht sowie publiziert und ist in
diesem Gebiet eine international anerkannte Autorität. Seine Fachkunde stellt auch die
Beklagte nicht in Abrede. Letzte Zweifel an der Existenz des Ghettos sind aus Sicht des
60
Senats durch die Untersuchung jüdischer Gräber durch eine US-Kommission im Jahre
1996 sowie die dem Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. Golczewski beigefügten
Luftbildaufnahmen der Deutschen Luftwaffe aus dem Jahre 1943 ausgeräumt, auf der
die Überreste des Ghettos erkennbar sind.
Hinweise darauf, dass sich der Kläger im streitbefangenen Zeitraum nicht im Ghetto
selbst, sondern außerhalb in einem "privilegierten" Zwangsarbeiterlager aufgehalten
haben könnte, sind durch die persönliche Anhörung des Klägers zur Überzeugung des
Senates widerlegt. Schon im erstinstanzlichen Verfahren hat der Kläger angegeben,
täglich von jüdischer Polizei bewacht abends in das Ghetto zurückgekehrt zu sein. Er
hat auch glaubhaft bestätigt, innerhalb des Ghettos mit seinen Eltern und Geschwistern
zusammengelebt zu haben. Für die Richtigkeit seiner Darstellung spricht auch eine
Begebenheit, die der Kläger geschildert hat, ohne dass es in diesem Zusammenhang
erkennbar auf die Frage des Aufenthalts im Ghetto ankam. Der Kläger hat nämlich
berichtet, er sei zum Zeitpunkt der großen "Aktion" im Mai 1943, die nachts um 3.00 Uhr
begann, im Ghetto gewesen und habe sich dabei gemeinsam mit seiner Schwester in
den Wald geflüchtet. Bei einem dauerhaften Aufenthalt in dem in der Keom-Liste
genannten, 2 bis 3 km entfernten Zwangsarbeiterlager wäre er zu diesem Zeitpunkt
nachts nicht im Ghetto gewesen.
61
2. Der Kläger war während des streitbefangenen Zeitraums bei dem örtlichen Judenrat,
also einer "Ghettoautorität" im Sinne des § 1 ZRBG beschäftigt. Er war auch in dessen
"Betrieb", der durch die systematische Vermittlung von Arbeitskräften an deutsche
Bedarfsträger, insbesondere auf den als kriegswichtig eingestuften Koksagysplantagen,
gekennzeichnet war, im notwendigen Umfang organisatorisch eingegliedert. Auf die
Existenz eines etwaigen arbeitsrechtlichen Verhältnisses zu den deutschen
Bedarfsträgern oder auch zum Judenrat kommt es nach der oben genannten
Rechtsprechung nicht an. Die erforderliche gewisse Dauerhaftigkeit seiner
Eingliederung ergibt sich für den Kläger schon daraus, dass er für seine Tätigkeiten
auch angelernt wurde, so insbesondere für das Pflügen und die Versorgung der Pferde
durch den von ihm noch erinnerten ukrainischen Vorarbeiter.
62
3. Die Beschäftigung hat der Kläger aus eigenem Willensentschluss (§ 1 Abs. 1 Satz 1
Nr. 1 Buchst. a) ZRBG) ausgeübt, denn er hat sich nach seinen glaubhaften
Bekundungen bei der persönlichen Anhörung selbst beim örtlichen Judenrat um die
Arbeit bemüht, um so gemeinsam mit seiner ebenfalls arbeitenden Schwester für den
Familienunterhalt etwas verdienen zu können. Hinweise darauf, dass der Kläger unter
Bedrohung für Leib oder Leben unmittelbar zur Arbeit gezwungen wurde, gibt es nicht.
Die Tatsache, dass die nicht arbeitenden Bewohner des Ghettos keine Coupons und
Verpflegung am Arbeitsplatz erhielten, sondern hungern mussten, steht der Freiwilligkeit
der Beschäftigung des Klägers im Sinne des ZRBG, wie oben ausgeführt, nicht
entgegen. Auch eine Bewachung bei der Arbeit, die als Indiz für eine Unfreiwilligkeit zu
werten wäre, hat es nach den Bekundungen des Klägers auf den Koksagys-Feldern
nicht gegeben. Das ist schon angesichts ihrer schieren Größe und des weiten Raums
der dortigen Landschaft glaubhaft. Die Begleitung zur Feldarbeit durch einen jüdischen
Polizisten schließlich war eine typische Maßnahme zur Dokumentation und
Aufrechterhaltung der allgemeinen Ghettodisziplin und daher ebenfalls kein gegen die
Freiwilligkeit der Arbeit sprechender Umstand.
63
4. Der Kläger erhielt auch ein Entgelt im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 Buchst. b) ZRBG
für seine Arbeitsleistung , das diese deutlich im vom Senat als erforderlich angesehenen
64
Umfang von der Zwangsarbeit unterschied. Gemeinsam mit seiner Schwester genügten
die ihm für seine Arbeit vom Judenrat ausgehändigten Coupons nämlich dafür, seine
weitere Familie (Vater; Mutter, zwei jüngere Geschwister) bis zur "großen Aktion" im Mai
1943 zu ernähren. Dies hat der Kläger in ersten eidesstattlichen Versicherungen bereits
im erstinstanzlichen Verfahren angedeutet und in der mündlichen Anhörung nochmals
näher bestätigt. Gerade das auf Nachfrage des Berichterstatters, ob der Familie außer
dem Verdienst des Klägers und seiner Schwester noch weitere Grundlagen zum Leben
zur Verfügung standen, berichtete signifikante Erlebnis vom gescheiterten Versuch
seines Vaters, in Dörfern außerhalb Arbeit zu finden, zeigt in aller Deutlichkeit, dass die
Familie des Klägers damals tatsächlich nichts weiter zum Leben hatte. Die weitere
Antwort des Klägers, dass es denjenigen ursprünglichen Bewohnern von Tluste besser
ging, die nicht wie seine Familie in das dort errichtete Ghetto hatten umziehen müssen,
untermauert diese Beurteilung. Auch der Sachverständige Prof. Dr. Golczewski hat unter
Hinweis auf die historischen Quellen (Baruch Milch) dargelegt, dass im Ghetto in Tluste
im Winter 1942/43 Hunger herrschte, den zu lindern daher allein die Aufnahme einer
Arbeit eine gewisse Chance für die Betroffenen und ihre Familien bot. Hinweise auf eine
atypische besonders gute und hiervon positiv abweichende Lage der Familie des
Klägers in Tluste sind nicht ersichtlich, zumal seine dorthin aus Ostecko deportierten
Angehörigen - anders als die dort ursprünglich ansässigen Bewohner - über keine
eigenen Vorkriegsvorräte verfügen konnten.
II. Das Vorbringen des Klägers aus der persönlichen Anhörung wird nicht nur generell
vom schriftlichen und mündlichen Gutachten des historischen Sachverständigen Prof.
Dr. Golczewski gestützt. Es ist auch nach der tatrichterlichen Einschätzung des
erkennenden Senats individuell glaubhaft. Es erfüllt alle maßgeblichen Kriterien für die
subjektive Glaubhaftigkeit von Aussagen vor Gericht (Bender/Nack,
Tatsachenfeststellung vor Gericht, Band I Glaubwürdigkeits- und Beweislehre, Band II,
Vernehmungslehre 1995, Rn 231 ff; Arntzen aaO S. 25 ff). Diese Regeln gelten nicht nur
für Zeugen, sondern auch für die Angaben von Beteiligten des Verfahrens (Bender/Nack
aaO Rn 551).
65
1. Die von jeder Selbstbegünstigungstendenz freie Aussagemotivation des Klägers ist
im Termin durchgängig deutlich geworden, nämlich daran, dass es ihm erkennbar
darum ging, vor Gericht einen umfassenden und zutreffenden Bericht im Sinne einer
Lebensbeichte abzulegen. Bezeichnend ist dafür, dass der Kläger, nachdem der
Berichterstatter zu dem streitbefangenen Zeitraum keine weiteren Fragen mehr hatte,
selbst sein weiteres Verfolgungsschicksal bis zur Befreiung durch die Rote Armee zu
Ende erzählen wollte. Dies entspricht genau der auch von den Sachverständigen
Ambach und Prof. Dr. R in ihren vorbereitenden Gutachten generell in Bezug auf
jüdische NS-Opfer als Zeugen vor Gericht geschilderten Aussagemotivation (s. auch
Ambach/Köhler, Lublin-Majdanek, Das Konzentrations- und Vernichtungslager im
Spiegel von Zeugenaussagen, Juristische Zeitgeschichte, Band 12, Seite XVI;
Quindeau, Trauma und Geschichte, Interpretationen autobiographischer Erzählungen
von Überlebenden des Holocaust, 1995, 267). Mit Blick auf die geringe Zahl
Überlebender aus seinem Herkunftsort Ostecko empfindet sich der Kläger insoweit - mit
Recht - als wichtigen Zeitzeugen, der etwas von Bedeutung für die Nachwelt auch
jenseits des ganz persönlichen Schicksals zu berichten hat.
66
2. Sein Vorbringen war auch quantitativ außerordentlich detailreich und voller
spezifischer Umstände, angefangen von der Zeit in Ostecko mit dem Brückenabriss am
zugefrorenen Dnjestr über die Feldarbeit auf den Koksagys-Plantagen bis hin zu den
67
Erlebnissen kurz vor der Befreiung durch die Russen. Der Kläger schilderte auch
eigenpsychische Vorgänge wie z. B. die damalige Unmöglichkeit, als 18-jähriger Jude
mit dem Gutsleiter G überhaupt nur zu sprechen. Er hat seine Schilderung
phänomengebunden abgegeben, d.h. seine Aussage hat sich auf das rein äußerliche
Phänomen seines Beobachtungsgegenstandes beschränkt. Typisches Beispiele hierfür
waren die einschränkenden Angaben des Klägers zu dem, was die Deutschen ihnen
damals als Juden über den Zweck des Koksagys-Anbaus gegeben hatten ("man hat uns
gesagt, dass man daraus Gummi machen könne, genau weiß ich es nicht") oder sein
Unverständnis gegenüber den abstrakteren historischen Fragen des Sachverständigen
nach seinem "Status" oder der Übernahme der Lager durch die SS. Auch originelle
Einzelheiten wie den großen Leibesumfang des Deutschen G auf seinem weißen Pferd
und negative Komplikationsketten sind in der Aussage des Klägers enthalten ("wir
wussten damals noch nicht was kommt" in Bezug auf die Frage des Sachverständigen
nach dem Beginn der Verfolgung in der Zeit vor Errichtung des Ghettos). Ferner enthält
sie inhaltliche Verschachtelungen ("ich habe bei den Pferden gearbeitet, das hat mir
später das Leben gerettet, das wird sich am Ende meiner Geschichte zeigen"). Dabei
verkennt der Senat nicht, dass der Kläger Erlebnisse berichtet, die mittlerweile 60 Jahre
zurückliegen, so dass seine Gedächtnis- und Erinnerungsleistung eingeschränkt ist. Es
gibt aber keinen allgemeinen Erfahrungssatz dahingehend, dass man sich an über 50
Jahre zurück liegende Geschehnisse nicht erinnern kann (BSG SozR Nr. 27 zu § 162
SGG). Die Annahme, die zeitnäheren Angaben genössen immer den Vorrang vor den
späteren, wäre demgegenüber ein Verstoß gegen das Verbot vorweggenommener
Beweiswürdigung (so BSG, Beschluss v. 12. April 2005 - B 2 U 272/94 B).
3. Hinweise darauf, dass der Kläger schematisch wiederholt hätte, was er zuvor
gegenüber Yad Vashem und/oder US-amerikanischen Historikern erzählt hat, bzw.
darauf, dass es hierdurch zu einer nachträglichen Überlagerung unterschiedlicher
Gedächtnisschichten gekommen wäre, haben sich in der Anhörung nicht gefunden.
Vielmehr war der unverfälschte Gedächtniskern im Bericht des Klägers für den
erkennenden Senat deutlich erkennbar. Auch die Beklagte hat ausdrücklich eingeräumt,
dass der Kläger in der Anhörung vor dem Berichterstatter aufrichtig bemüht war, vor
Gericht die Wahrheit zu sagen. So hat er auch Umstände, die früher einmal schriftlich
geschildert hatte, unabhängig davon, ob sie seinem Anspruch günstig scheinen, wie
etwa den Namen Maskowietzki oder seine Angst, bei Ende der Brückenabbrucharbeiten
in Ostecko von den Deutschen erschossen zu werden, im Termin auf die jeweiligen
Fragen des Berichterstatters als nicht mehr erinnerlich gekennzeichnet und damit
deutlich gemacht, dass er nur das bekundet hat, woran er sich aktuell präsent erinnern
konnte. Bei seinen Erinnerungslücken handelt es sich ebenso wie bei den
Erinnerungsergänzungen um einen typischen gedächtnispsychologischen Vorgang, wie
ihn die Sachverständige Prof. Dr. R in ihrem vorbereitenden Gutachten (das nicht zuletzt
auch zum Zwecke der späteren Beweiswürdigung eingeholt wurde) näher geschildert
hat und wie ihn auch Bender/Nack (aaO Rn 110 ff) beschreiben. Im Übrigen hat der
Kläger lebhaft gesprochen, mit ausdrucksvoller Gestik und Körpersprache, wobei er
auch den Augenkontakt zum Berichterstatter gesucht und gehalten hat. Dass die
Schilderung eigener Gefühle - die nach Arntzen ein wichtiges generelles
Glaubhaftigkeitsmerkmal ist (aaO S. 27; 68 ff) - im Bericht des Klägers dabei dennoch
kaum vorkam, entspricht dem nach den Untersuchungen der Sachverständige Prof. Dr.
R bei NS-Opfern vorherzusehenden spezifischen Befund. Als der Kläger jedoch über
die Erschießung seiner nächsten Familienangehörigen sprach, war der Schmerz in
seiner Stimme und im Gesicht deutlich zu bemerken, und er konnte erst nach einem
Moment der Stille im Sitzungssaal weitersprechen.
68
III. Soweit die Beklagte die vom Berichterstatter vor Ort angewandte
Vernehmungstechnik beanstandet, verkennt sie die rechtlichen Vorgaben richterlichen
Handelns, wie sie allgemein für jede Vernehmung vor Gericht und besonders für die
Anhörung von NS-Opfern gelten. So ist das Gebot der Freundlichkeit, des Interesses
und der Anteilnahme gegenüber gerichtlichen Auskunftspersonen in der richterlichen
Vernehmungslehre allgemein anerkannt (Bender-Nack aaO Rn. 502 ff; Balzer,
Beweisaufnahme und Beweiswürdigung im Zivilprozess, 2001, 159 ff). Freundlichkeit im
Umgang mit Auskunftspersonen stärkt sogar den Beweiswert ihrer Angaben, denn sie
erhöht die Hemmschwelle, dem Richter mit Bedacht etwas Unwahres zu sagen (Balzer
aaO Rn 161). Die Erfahrungen des Gerichts mit Anhörungen in Israel haben im Übrigen
belegt, dass bei Anwendung der Gebote zugewandter richterlicher Vernehmungstechnik
und der durch Frau Prof. Dr. R aufgezeigten Vorgaben eine Überforderungssituation
oder gar Retraumatisierung der befragten NS-Opfer, die zunächst auch von der
Beklagten befürchtet worden war, vermieden werden kann. Dabei ist Freundlichkeit
nicht mit einer unkritischen Haltung zu verwechseln, zumal nicht in der anschließenden
Beweiswürdigung. Auch kritische Vorhalte können - und sollen - aber vor Gericht in
möglichst milder Form vorgebracht werden (Bender/Nack aaO Rn 505, 594).
69
Dass den anwesenden Beteiligten schließlich vom Berichterstatter jeweils noch im
Termin eine Rückmeldung über dessen persönlichen Eindruck von der Glaubwürdigkeit
gegeben wurde, entspricht ebenfalls allgemeinen richterlichen Grundsätzen und dem
Gebot der Verfahrensfairness (Bender/Nack a. a. O. Rdnr. 511, 497). Auch nach den
vorbereitenden Hinweisen der Sachverständigen Prof. Dr. R war es geboten, den
persönlichen Eindruck des Befragers zeitnah festzuhalten. Aus rechtsstaatlichen
Gründen (Art 103 GG iVm §§ 107, 62 SGG) ist dies offen im Termin geschehen und zu
Protokoll genommen worden.
70
IV. Das Vorbringen des Klägers wird durch die von ihm bzw. seinen Bevollmächtigten in
das Verfahren eingeführten eidesstattlichen Versicherungen und/oder seine früheren
Angaben im BEG-Verfahren nicht durchgreifend in Frage gestellt.
71
1. Zwar stehen die eidesstattlichen Versicherungen des Klägers zum Teil im
Widerspruch zu seinen Angaben während der Anhörung (Überführung in das ZAL
Tluste). Den Angaben in der Anhörung gebührt indessen im Rahmen der
Beweiswürdigung der Vorzug. Die eidesstattlichen Versicherungen des Klägers sind bei
weitem nicht so detailliert wie seine späteren Schilderungen und decken auch nicht
deren gesamten Inhalt mit ab. Dass der Kläger sich während der Anhörung nicht mehr
an alle Angaben aus den eidesstattlichen Versicherungen erinnern konnte, spricht dabei
eher für seine Glaubwürdigkeit (vgl. Arntzen aaO S. 57). Zudem kann der Senat die
Entstehungsumstände der eidesstattlichen Versicherungen - anders als die der
richterlichen Anhörung - nicht genau überprüfen. Insbesondere ist unklar, ob dem Kläger
(bzw. dem Dolmetscher und dem Aufnehmenden der Erklärung) die Bedeutung des
Rechtsbegriff "ZAL" bei der Abfassung bekannt war.
72
2. Ähnlich verhält es sich mit den eidesstattlichen Erklärungen aus den BEG-Verfahren.
73
Diese sind zunächst im Wege des Urkundsbeweises verwertbar. Datenschutzrechtliche
Gesichtspunkte stehen einer Beiziehung und Verwertung nicht entgegen (vgl insoweit
BSG, Beschluss v. 31. Mai 2007 - B 13 R 37/07 B -).
74
Unmittelbar erbringen diese Urkunden allerdings gemäß § 118 SGG i.V.m. § 439 Abs. 2
ZPO lediglich darüber Beweis, dass die in den BEG-Verfahren enthaltenen Erklärungen
in den 50er Jahren so vom Kläger und den Zeugen abgegeben und von den
Entschädigungsbehörden gemäß §§ 176, 40 Abs. 3 BEG im Rahmen ihrer
Amtsermittlung in Empfang genommen worden sind. Ein Beweis über die Wahrheit ihres
Inhalts ist damit weder über § 438 ZPO noch über § 418 Abs. 3 ZPO verbunden, denn
es handelt sich nicht um öffentliche Urkunden. Eine unmittelbare Bindungswirkung für
Dritte entfalten auch die später auf dieser Grundlage getroffenen Entscheidungen der
Entschädigungsbehörden nicht.
75
Für das heutige sozialgerichtliche Verfahren folgt daraus die Pflicht, die damaligen
Erklärungen selbständig zu würdigen. Dabei ist zunächst aufzuklären, wie genau diese
entstanden sind und - wie bei jeder Analyse von Erklärungen oder Texten - in welchem
rechtlichen und zeitgeschichtlichen Zusammenhang sie standen (exemplarisch:
Senatsurteil v. 29. Juni 2005 - L 8 RJ 97/02). Dabei ist für BEG-Akten zu
berücksichtigen, dass es damals im Rahmen des § 43 BEG um Fragen der
Freiheitsentziehung ging und (heute rentenrechtlich differenziert zu betrachtende)
Zeiträume zusammengefasst werden konnten. Um eine zeitnahe "frische" und
"unverfälschte" Schilderung des Verfolgungsschicksals wie z.B. gegenüber einem
alliierten Betreuungsoffizier unmittelbar nach dem Krieg (zu einem solchen - seltenen -
Fall: OLG München in: Rechtsprechung zum Wiedergutmachungsrecht 1966, 174)
handelt es sich in den BEG-Erklärungen aus den 50er Jahren nicht. Vorliegend ist
darüber hinaus bezogen auf die Details der damaligen Schilderungen des Klägers und
der beiden Zeuginnen aus dem BEG-Verfahren Skepsis angebracht, weil es sich um
drei Aussagen verschiedener Personen handelt, die in auffälliger, nahezu wortwörtlicher
Übereinstimmung stehen (dazu Balzer aaO Rn 338).
76
Im Ergebnis kommt es daher vorliegend auf den zentralen Aussageinhalt der
eidesstattlichen Versicherungen des Klägers an, der in Beziehung zu seinem
Vorbringen in der richterlichen ausführlichen Anhörung zu setzen ist. Hier gibt es
bezogen auf den streitbefangenen Zeitraum bei allen Unterschieden im einzelnen einen
im Wesentlichen übereinstimmenden Kern, nämlich hinsichtlich des Aufenthalts im Ort
Tluste, des Zeitraums von Ende 1941 bis Anfang 1944 und der allgemeinen
Lebensumstände in Gestalt der Arbeit auf den Koksagys-Plantagen. Die verbleibenden
Widersprüche im Detail können durch die o.g. Hintergründe - z.B. hinsichtlich wegen
früher summarischen anwaltlichen Vortrags zu § 43 BEG - sowie durch im
Zusammenhang mit der Verwendung verschiedener Sprachen (hebräisch, polnisch,
ukrainisch, deutsch) stehende Kommunikationsbrüche erklärbar sein und stehen daher
der Glaubhaftigkeit der heutigen Erklärungen des Klägers im Sinne einer guten
Möglichkeit nicht entgegen. Verbleibende Zweifel sind bei dem geforderten Beweismaß
unschädlich (BSGE 8, 159).
77
C.
78
Soweit die Beklagte schließlich gegen den Beweiswert der persönlichen Anhörung des
Klägers auch formal-rechtliche Bedenken geltend macht, greifen diese nicht durch.
79
1. In prozessualer Hinsicht gesehen handelte es sich um eine richterliche Anhörung
gemäß § 106 SGG, die in eine konsularische Beweisaufnahme gemäß § 202 SGG
i.V.m. § 363 ZPO in entsprechender Anwendung und den Art 15 ff ZRHG eingebettet
war. Die Erlaubnis dazu wurde vom Staat Israel vermittelt durch die Deutsche Botschaft
80
nun erstmals gemäß Art 15 - 18 ZRHG erteilt (allgemein hierzu Hecker/A-Chorus,
Handbuch der konsularischen Praxis, 2. Auflage § 5; Balzer aaO Rn412 ff). Erst diese
Entscheidung der israelischen Regierung hat die persönliche Anhörung des Klägers,
der aus zu respektierenden gesundheitlichen und/oder geschichtlichen Gründen nicht
nach Deutschland reisen kann, durch den erkennenden Senat ermöglicht. Dabei ist
echtes Beweismittel im Sinne des Strengbeweises nur das im Termin durch den
Historiker Prof. Dr. Golczewski erstattete Sachverständigengutachten gemäß § 106 Abs.
2 Nr. 4 SGG. Dieser wurde gemäß § 404a Abs. 1 ZPO vor dem Termin nochmals durch
den Berichterstatter für seine Aufgabe angeleitet. Eines besonderen
Einweisungstermins gemäß § 404a Abs. 4 ZPO bedurfte es nicht. Entgegen der
Einschätzung der Beklagten hat keine (in der Tat im sozialgerichtlichen Verfahren nicht
zulässige) eides- und damit strafbewehrte Parteivernehmung gemäß § 455 ZPO
stattgefunden. Ungeachtet dessen ist für das sozialgerichtliche Verfahren anerkannt,
dass das persönliche Beteiligtenvorbringen aus Anhörungsterminen eine wichtige
Erkenntnisquelle und umfassend richterlich zu würdigen ist (stellvertretend: Leitherer, in:
Meyer-Ladewig SGG, 8. Auflage 2005, § 103 Rn 12, und § 106 Rn 15 mwN).
2. Die Protokollierung der Anhörung ist gemäß § 160a Abs. 2 ZPO und durch
Wiedergabe im Tatbestand dieses Urteils erfolgt (zu letzterer Möglichkeit schon:
Reichsgericht in Zivilsachen, 11, 239 und BGH NJW 1987, 1200 mwN). Ein Fall der
ortsverschiedenen Videokonferenzschaltung nach § 128a ZPO (bei dem die
Videoaufzeichnung nach dem Termin hätte vernichtet werden müssen) lag nicht vor. Die
Videoaufzeichnung war demgemäß nach § 179 Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) zu
Verfahrenszwecken, insbesondere der späteren Beweiswürdigung durch den Senat
zulässig (Kissel, GVG, 4. Auflage 2005, § 169 Rdn. 73; BT-Drs. 4/178, S. 46, BGH in
Strafsachen 19, 193, 195; zu Originaltonaufnahmen: Bender-Nack a.a.O., Rn 832, 837).
Diese Form der Dokumentierung hat die spätere Bewertung der Videoaufzeichnungen
durch den gesamten Senat ermöglicht und diesem einen persönlichen Eindruck vom
Kläger vermittelt. Zudem erlaubt sie eine genauere Analyse der Aussage (vgl. Bender-
Nack aaO Rdn. 837).
81
3. Soweit die Beklagte ferner einwendet, die Übersetzung im Termin sei nicht
ordnungsgemäß erfolgt, so sind dafür keine Hinweise ersichtlich. Vielmehr genießt die
dem Gericht von der deutschen Botschaft empfohlene Dolmetscherin Frau Aiger das
besondere Vertrauen deutscher Dienststellen und wird regelmäßig bei deutschen
Staats- und Regierungsbesuchen in Israel für den Bundespräsidenten, die
Bundeskanzlerin, den Außenminister und andere Persönlichkeiten des öffentlichen
Lebens herangezogen. Sie verfügt darüber hinaus über eine akademische Übersetzer-
und Dolmetscherausbildung und wurde im Termin ordnungsgemäß über ihre Rechte
und Pflichten als Dolmetscherin belehrt und vereidigt. Dass sie sodann konsekutiv und
nicht simultan gedolmetscht hat, entsprach der ihr vor dem Termin vom Berichterstatter
gegebenen Weisung und war naturgemäß mit der Notwendigkeit von Notizen und
sprachlichen Zusammenfassungen in der Wiedergabe verbunden (dazu auch:
Jessnitzer, Handbuch für die Praxis der Dolmetscher, Übersetzer und ihrer
Auftraggeber, 1982. S. 1).
82
4. Soweit die Beklagte schließlich meint, eine persönliche Anhörung von Klägern in
Israel sei unverhältnismäßig und ihr wegen des damit verbundenen organisatorischen
Aufwands nicht zuzumuten, geht auch dieser Einwand fehl. Die Entscheidung über die
prozessleitenden Maßnahmen liegt gemäß §§ 103, 106 SGG allein beim Gericht. Der
besondere Beweiswert der klägerischen Aussage war im Ergebnis darüber hinaus auch
83
vorliegend streitentscheidend, denn allein auf den Akteninhalt gestützt, hätte sich das
Ausmaß des vom Kläger für seine Arbeit im Ghetto erhaltenen Entgelts, über das nur er
selbst Auskunft geben konnte, nicht feststellen lassen.
D.
84
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
85
Der erkennende Senat hat die Revision gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 2 SGG
zugelassen.
86