Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 16.01.2009

LSG NRW: schengener durchführungsübereinkommen, ärztliche behandlung, einreise, familie, versorgung, luxemburg, anfang, zustandekommen, visum, motiv

Landessozialgericht NRW, L 20 B 59/08 AY
Datum:
16.01.2009
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
20. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
L 20 B 59/08 AY
Vorinstanz:
Sozialgericht Detmold, S 22 AY 14/07
Sachgebiet:
Sozialhilfe
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Auf die Beschwerde der Kläger wird der Beschluss des Sozialgerichts
Detmold vom 04.07.2008 geändert. Den Klägern wird für das Verfahren
vor dem Sozialgericht Detmold Prozesskostenhilfe ab dem 20.02.2008
(Antragseingang) bewilligt und Rechtsanwältin P, P, zu ihrer Vertretung
beigeordnet.
Gründe:
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Zur Unrecht hat das Sozialgericht die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für die Kläger
mangels hinreichender Erfolgsaussicht der Rechtsverfolgung i.S.v. § 73a
Sozialgerichtsgesetz (SGG) i.V.m. § 114 Zivilprozessordnung (ZPO) abgelehnt.
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Die Kläger sind mit einem sog. Schengenvisum in die Bundesrepublik Deutschland
eingereist, nachdem für sie eine Verpflichtungserklärung i.S.v. § 68 Aufenthaltsgesetz
(AufenthG) abgegeben worden war. Sie waren zuvor unter Inanspruchnahme eines sog.
Schleppers nach Luxemburg eingereist und hatten dort die Gewährung von Asyl
beantragt; die Luxemburgischen Behörden haben die Kläger am 15.06.2005 nach dem
Schengener Durchführungsübereinkommen in die Bundesrepublik überstellt, nachdem
die Erteilung des Visums durch die Deutsche Botschaft in der Ukraine festgestellt
worden war. Nach Angaben im Asylverfahren war das Visum für die Bundesrepublik in
Kiew vom "Schlepper" beantragt worden; erst in Luxemburg hätten sie - die Kläger - von
diesem Visum erfahren.
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Die Kläger wenden sich gegen einen Bescheid vom 13.02.2007 in Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 27.11.2007, mit dem nurmehr Leistungen nach § 1a
Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) bewilligt wurden. Dabei geht die Beklagte in
ihrer Entscheidung davon aus, dass die Kläger eingereist sind, weil bereits Verwandte
in der Bundesrepublik leben und weil in der Bundesrepublik eine bessere medizinische
Versorgung des genetisch erkrankten Klägers zu 3) (Klumpfuß) möglich sei.
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Die Kläger verweisen im Wesentlichen darauf, dass die Erkrankung des Klägers zu 3)
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ein Abschiebehindernis sein könne. Dies allein würde jedoch eine Gewährung von
nurmehr nach den Umständen unabweisbar gebotenen Leistungen im Sinne von § 1a
Nr. 1 AsylbLG nicht ausschließen. Denn diese Norm stellt lediglich darauf ab, ob sich
die Leistungsberechtigten in den Geltungsbereich des AsylbLG begeben haben, um
Leistungen nach dem AsylbLG zu erhalten.
Von einer Einreise zum Zweck des Leistungsbezuges i.S. der Vorschrift kann
ausgegangen werden, wenn ein finaler Zusammenhang zwischen dem
Einreiseentschluss und der Inanspruchnahme von Sozialleistungen besteht (vgl.
Senatsbeschluss vom 23.02.2007 - L 20 B 61/06 AY). Sind mehrere Motive möglich
oder feststellbar, muss die Inanspruchnahme von Leistungen das prägende Motiv des
Hilfesuchenden gewesen sein (Wahrendorf, in: Grube/Wahrendorf, AsylbLG, 2. Auflage
2008, § 1a Rn. 5). Prägend ist das Motiv des Leistungsbezuges dann, wenn es für den
Ausländer neben anderen Gründen so wesentlich war, dass er ansonsten nicht
eingereist wäre (vgl. Birk, in: LPK-SGB XII, 8. Aufl. 2008, § 1a AsylbLG Rn. 3). Ein nur
beiläufiges Beziehen von Leistungen nach dem AsylbLG, welches anderen
Einreisezwecken untergeordnet ist und insoweit nur billigend in Kauf genommen wurde,
genügt demgegenüber nicht (vgl. bereits BVerwG, Urteil vom 04.06.1992 - 5 C 22.87 =
BVerwGE 90, 212 zu § 120 Bundessozialhilfegesetz ( BSHG)).
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Zwar hat der Kläger zu 1) selbst bei einer Vorsprache am 11.02.2008 bei der Beklagten
unter Hinzuziehung eines von ihm konsultierten Dolmetschers unterschriftlich bestätigt,
dass er vordergründig im gesundheitlichen Interesse seiner Kinder in die
Bundesrepublik eingereist sei. Er wolle hier nicht von Leistungen des Staates leben,
sondern so schnell wie möglich auf eigenen Beinen stehen und seine Familie
selbständig versorgen. Dies sei allerdings schwierig, da er keinen Führerschein besitze
und dementsprechend auch keine bessere Arbeit finden könne als seine derzeitige
Tätigkeit bei einer Fa. L. Er wolle sich allerdings weiterhin bemühen, die finanzielle
Lage seiner Familie durch seine Arbeitskraft zu verbessern.
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Der Beklagten ist auch zuzugeben, dass ein Wunsch des Klägers zu 1), durch eigene
Arbeit den Unterhalt der Familie zu sichern, gleichwohl die Annahme zulassen kann,
dass er bei verständiger Betrachtung nicht hat davon ausgehen können, dass er von
Anfang an durch eigene Arbeit in der Bundesrepublik Deutschland seine Familie werde
ernähren können. Auch der Senat hält es vielmehr bei summarischer Prüfung für
wahrscheinlich, dass der Kläger zu 1) damit gerechnet hat, dass für seine Familie
zumindest zeitweise öffentliche Leistungen erbracht werden müssten. Wenn mit der
Beschwerdebegründung darauf hingewiesen wird, dass der Kläger zu 1) seit dem
01.05.2007 in der Putenschlachterei L beschäftigt sei und insoweit ein
Arbeitgeberzeugnis vom 10.07.2008 (welches gute Arbeitsergebnisse bescheinigt)
vorgelegt wird, so ändert dies nichts daran, dass die Kläger bei verständiger
Betrachtung nicht haben davon ausgehen dürfen, dass sie in der Bundesrepublik von
Anfang an auskömmliches Einkommen erzielen würden. Dies zeigt sich auch darin,
dass sie bereits seit dem 05.09.2005 Leistungen nach dem AsylbLG beziehen. Dass er
dabei nach Deutschland gekommen sei, um die gesundheitliche Versorgung des
Klägers zu 3) zu verbessern, hat er selbst am 11.02.2008 jedenfalls unterschriftlich
erklärt; diese gesundheitliche Versorgung ist jedoch eine Inanspruchnahme von
Leistungen nach dem AsylbLG (§ 4 AsylbLG).
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Wenn die Kläger mit der Beschwerde anführen, aus der rechtskräftigen Ablehnung ihres
Asylantrages könne nicht ohne Weiteres auf eine Absicht geschlossen werden,
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einzureisen, um Leistungen nach dem AsylbLG zu erlangen, vielmehr sei dieser
Schluss nur möglich, wenn das Asylbegehren nach jedweder Betrachtungsweise nicht
ernst gemeint, sondern lediglich vorgeschoben gewesen sei, und hinsichtlich der
Erkrankung des Klägers zu 3), der bereits in der Ukraine operiert worden sei, habe sich
erst in der Bundesrepublik ein Rezidiv herausgestellt und er habe sich deshalb erst
mehr als ein Jahr nach Einreise in die Bundesrepublik in ärztliche Behandlung
begeben, so ändert dies allerdings nichts an der vom Kläger zu 1) selbst abgegebenen
Erklärung vom 11.02.2008, die Einreise in die Bundesrepublik sei vordergründig im
gesundheitlichen Interesse geschehen. Gründe, die das Zustandekommen dieser
Erklärung als fragwürdig erscheinen ließen (und die schon angesichts der aus den
Akten nicht genau entnehmbaren Übersetzungssituation zumindest denkbar
erscheinen), haben die Kläger bisher jedoch nicht vorgetragen, auch nicht, nachdem die
Beklagte im Beschwerdeverfahren mit Schriftsatz vom 17.09.2008 auf diesen Umstand
gerade noch einmal hingewiesen hat. Sollten die Kläger allerdings im weiteren Verlauf
des Verfahrens Umstände plausibel benennen, die - etwa im Hinblick auf das
Zustandekommen der Erklärung vom 11.02.2008 und eine erst längere Zeit nach
Einreise in die Bundesrepublik für den Kläger zu 3) in Anspruch genommene, bei
Einreise noch nicht als Bedarf erkennbare medizinische Versorgung - eine andere
Bewertung als möglich erscheinen ließen, wird das Sozialgericht zu entscheiden haben,
ob sich dann in diese Richtung Ermittlungsnotwendigkeiten ergeben.
Der Senat kann allerdings im Rahmen des Beschwerdeverfahrens offen lassen, ob die
Erklärung des Klägers zu 1) vom 11.02.2008 eine hinreichende Einreisemotivation i.S.v.
§ 1a Nr. 1 AsylbLG offenlegt. Denn die Gewährung von Prozesskostenhilfe ist bereits
aus einem anderen Grund geboten. Denn die Klage wirft eine offene, aber
klärungsbedürftige Rechtsfrage auf, die bereits für sich genommen die Bewilligung von
Prozesskostenhilfe erfordert (vgl. hierzu Leitherer, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
SGG, 9. Aufl. 2008, § 73a Rn. 7b m.w.N.). Denn § 1a Nr. 1 AsylbLG erfordert ein Sich-
Begeben in den Geltungsbereich des AsylbLG, um Leistungen nach diesem Gesetz zu
beziehen. Ob ein solches Sich-Begeben bereits dann angenommen werden kann, wenn
ein Leistungsempfänger von den Behörden eines anderen Staates (hier: Luxemburg) in
Anwendung des Schengener Durchführungsübereinkommens (SDÜ) nach Deutschland
überstellt worden ist, oder ob dieses Merkmal nicht vielmehr ein Einreisen gerade nach
Deutschland aus eigenem Willen voraussetzt, wird das Sozialgericht zu klären haben.
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Nicht zu entscheiden hat der Senat im Übrigen, ob ein weiterer Bescheid vom
13.02.2007, mit dem die Beklagte in Umsetzung des vorliegend angefochtenen
Bescheides die Leistungen nach § 1a AsylbLG konkret der Höhe nach bewilligt hat,
rechtmäßig ist. Denn im vorliegenden Verfahren ist ausweislich des Klageantrags nur
ein Bescheid vom 13.02.2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.11.2007
angefochten; das aber ist derjenige Bescheid, der allein dem Grunde feststellt, dass
Leistungen nur nach § 1a AsylbLG zustehen. Ob der weitere Bescheid vom 13.02.2007
überhaupt mit dem Widerspruch angefochten wurde, und ob dieser Widerspruch ggf.
schon beschieden wurde, kann für das vorliegende Verfahren dahinstehen. Der Senat
weist allerdings darauf hin, dass mit diesem weiteren Bescheid Kürzungen der
Leitungen nicht nur um den jeweiligen Geldbetrag der Kläger (sog. Taschengeldbetrag),
sondern auch um den Bekleidungsanteil vorgenommen wurden. Insoweit wird jedoch
die Ansicht vertreten, in der Regel dürfe allein eine Kürzung um den Taschengeldbetrag
erfolgen (vgl. Birk, in: LPK-SGB XII, 9. Aufl. 2008, § 1a AsylbLG Rn. 5 m.w.N.; a.A.
Wahrendorf, a.a.O. Rn. 8).
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Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten (§ 73a SGG i.V.m. § 127 Abs.
4 ZPO).
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Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde anfechtbar (§ 177 SGG).
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