Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 13.02.2003

LSG NRW (versorgung, radio und fernsehen, implantat, medizinische indikation, gutachten, hörgerät, verbesserung, physikalische therapie, medizinischer grund, körperliche behinderung)

Landessozialgericht NRW, L 16 KR 56/01
Datum:
13.02.2003
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
16. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
L 16 KR 56/01
Vorinstanz:
Sozialgericht Duisburg, S 9 KR 17/95
Sachgebiet:
Krankenversicherung
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts (SG)
Duisburg vom 14. Februar 2001 wird zurückgewiesen. Kosten haben die
Beteiligten einander auch im zweiten Rechtszug nicht zu erstatten. Die
Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
1
Die Beteiligten streiten, ob die Beklagte verpflichtet ist, die Klägerin mit einem Cochlea-
Implantat (CI) zu versorgen.
2
Die Klägerin ist am ...1970 geboren. Das Amtsgericht (AG) K ... hat ihre Mutter 1995 für
sämtliche Angelegenheiten zu ihrer Betreuerin bestellt. Die Klägerin leidet, vermutlich
seit ihrer Geburt, beidseitig an einer an Taubheit grenzenden Hypakusis. Sie ist im
Produktionsbereich der Werkstatt für Behinderte des Kreises K ... "Haus F ..." beschäftigt
und aufgrund dieser Beschäftigung Mitglied der beklagten Kasse.
3
Im September 1993 wandten sich die Eltern der Klägerin unter Vorlage eines
Schreibens des mittlerweile verstorbenen HNO-Arztes Prof. Dr. B ... aus D ... vom
27.7.1993 an die AOK Duisburg und trugen vor: sie seien 1984 aus der DDR in die
Bundesrepublik übersiedelt; ihre gehörlose Tochter sei in der DDR über Jahre fälschlich
in ungeeigneten Einrichtungen für Gehörgeschädigte untergebracht und behandelt
worden; dadurch sei es mehr und mehr zu einem Entwicklungsrückstand gekommen; ab
Mai 1984 habe ihre Tochter in E ... erst die Vorschule, dann die Grundschule für
Gehörlose besucht, habe diese aber 1988, weil zu alt, nach der vierten Klasse verlassen
müssen; seit September 1989 sei sie in der Behindertenwerkstatt in G ...; Prof. Dr. B ...
empfehle eine Innenohrprothese. Prof. Dr. B ... hatte die Klägerin am 22.7.1973
untersucht und dazu mitgeteilt: er halte die Versorgung mit einem CI für angezeigt; er
habe die Eltern aber darauf hingewiesen, daß aufgrund des geistigen Zustandes der
Klägerin nur ein mittelgradiger Erfolg zu erwarten sei, d.h. Wahrnehmung der
Hintergrundgeräusche und Erleichterung der Kommunikation ohne deutliche
Verbesserung der Aussprache.
4
Die Beklagte lehnte die beantragte Versorgung nach Einschaltung des Medizinischen
Dienstes der Krankenkassen (MDK) ab (formloser Bescheid vom 15.3.1994 und den
Widerspruch der Klägerin in der Sache zurückweisender Widerspruchsbe scheid vom
6.2.1995). Der HNO-Arzt Dr. U ... vom MDK hatte mit Datum des 2.12.1993 und des
17.11.1994 befunden: nach dem audiologischen Befund von Prof. Dr. B ... lägen die
physiologischen Voraussetzungen für eine erfolgreiche Implantation eines CI vor; man
müsse davon ausgehen, daß eine ausreichende Zahl von Hörnervenfasern intakt seien,
und daß Umweltgeräusche mit einem Hörgerät nicht wahrgenommen werden könnten;
es habe sich jedoch gezeigt, daß bei prälingual Ertaubten ein relevanter
Rehabilitationserfolg nach CI nur bis zu einem gewissen Alter erzielt werden könne;
Untersuchungen ... (wird ausgeführt) hätten ergeben, daß spätestens zum Zeitpunkt der
Pubertät von einer erfolgreichen Rehabilitation nicht mehr ausgegangen werden könne;
signifikante Verbesserungen der Kommunikationsfähigkeit im Sinne eines
Sprachverständnisses könnten nicht mehr erwartet werden; hier seien allenfalls
Ergebnisse zu erzielen, daß Umweltgeräusche wie Autolärm oder Musik grob
differenziert werden könnten; dafür sei der finanzielle Aufwand als zu aufwendig
anzusehen; bezüglich der potentiell zu erreichenden Wahrnehmbarkeit von
Umweltgeräuschen sei zu sagen, daß unter Umständen mit gezieltem
Wahrnehmungstraining erreicht werden könne, daß die Klägerin diverse Geräusche
wahrnehmen und unter Umständen sogar differenzieren könne; es habe sich aber
gezeigt, daß das allein keinen wesentlichen Behinderungsausgleich mit sich bringe;
erst wenn weitere Differenzierungsfähigkeit erzielt werden könne, die darauf abziele,
prosodische Sprachmerkmale, Silbenanzahl und Klangfarbe verschiedener Vokale zu
erkennen, sei eine Verbesserung der Kommunikationseigenschaften möglich.
5
Die Klägerin hat am 6.3.1995 Klage erhoben und durch ihren Bevollmächtigten
vorgetragen, der Mangel an Kontinuität der Ausbildung und Förderung in der DDR habe
zwingend zu psychischen Beeinträchtigungen der Klägerin geführt und dazu, daß sie
keine schulische Ausbildung besitze und als Analphabetin einzustufen sei; bei ihrer
Arbeit in der Behindertenwerkstatt schlössen die übrigen Behinderten, die
Sprachfähigkeit besäßen, die Klägerin mangels Kommunikationsmöglichkeit aus; es
gebe aber keine Rechtsgrundlage dafür, die Versorgung davon abhängig zu machen,
daß die Kommunikationsmöglichkeit hergestellt werde; ausreichend sei, daß die
Lebensqualität im übrigen verbessert werde.
6
Die Beklagte hat entgegnet, Voraussetzung für eine erfolgversprechende Rehabilitation
mit dem CI sei eine mindestens durchschnittliche Intelligenz des Patienten; anderenfalls
sei eine richtige Handhabung des Sprachdecoders und des Sprachprozessors nicht
gewährleistet; hier sei die Frage aufzuwerfen, ob die Klägerin über hinreichende
Intelligenz verfüge.
7
Das SG hat Beweis erhoben:
8
Prof. Dr. B ... hat auf Anfrage des SG mit Schreiben vom 24.5.1995 erklärt: normale
Kommunikationsmöglichkeit könne durch das CI bei prälingual Ertaubten nicht mehr
erzielt werden, wohl aber könne die Lebensqualität dadurch verbessert werden, daß
akustischer Kontakt zur Umwelt hergestellt werde - Wahrnehmung vom Geräuschen wie
Autohupen und Rhythmus der Sprache; mit Hilfe des CI könne die Klägerin
herausgenommen werden aus der völligen Stille; durch Erkennung der
suprasegmentalen Merkmale der Sprache könne der zwischenmenschliche Kontakt
9
erleichtert werden; er halte die Versorgung mit einem CI nach wie vor für angezeigt,
obwohl selbstverständlich nicht zu erwarten sei, daß ein Spracherwerb erzielt werden
könne.
Der HNO-Arzt G ... aus G ... hat mit Schreiben vom 12.8.1995 (nebst Audiogramm vom
22.2.1990, bakteriologischem Bericht vom 8.5.1990 und Arztbrief der HNO-Klinik des
Universitätsklinikums E ... vom 10.4.1989) über die Behandlung der Klägerin von 1989
bis 1993 und darüber berichtet, daß er keine nennenswerte Erfahrung mit Cochlea-
Implantaten habe.
10
Prof. Dr. St ..., Direktor der HNO-Klinik der Universität M ... und zuvor kommissarischer
Direktor der HNO-Klinik des Universitätsklinikums in E ..., hat in seinem auf
Veranlassung des SG erstellten Gutachten vom 23.4.1996 - nach stationärer
Untersuchung der Klägerin am 15. u 16.4.1996 - ausgeführt: obwohl nach Angaben der
Mutter keine sprachliche Förderung erfolgt sei, spreche die Klägerin dennoch ca. 15
Worte (Mann, Frau, Bube, Mädchen, Mama, kauft etc.); im wesentlichen kommuniziere
sie aber mit der Gebärdensprache; nach Auskunft der Mutter verfolge sie Radio und
Fernsehen mit dem Kopfhörer und höre besonders gern die Musik von Michael Jackson;
sie habe auch Lieblingslieder, die sie erkennen könne; die Mutter erstrebe die CI-
Behandlung, weil die Tochter dann in der Werkstatt mit höher qualifizierten Arbeiten
befaßt werden könne, etwa an Maschinen; die Klägerin leide an praktischer Ertaubung
bds.; es sei lediglich ein geringes Resthörvermögen vorhanden, das aber funktionell
nicht zum Spracherwerb ausreiche; gehe man davon aus, daß akustische
Wahrnehmungen erlebt und auch erkannt werden könnten (siehe auch die Vorliebe für
Musik), dann wäre der nächste Schritt, erst einmal "Superpower-Hörgeräte"
einzusetzen, die idR 6 Monate ausprobiert würden; iü stimme er Prof. Dr. B ... zu, daß
ein wesentlicher Spracherwerb nicht zu erzielen sei, daß sich aber nicht ausschließen
lasse, daß die Orientierung in der Umwelt erleichtert werde; es müsse davon
ausgegangen werden, daß die Klägerin sich mit Hilfe von Kopfhörern musikalisch
orientieren und erfreuen könne; dieses Phänomen reiche aus, davon auszugehen, daß
eine Erleichterung in der Erkennung von Umweltgeräuschen möglich sein dürfe; es
könne nicht abgestritten werden, daß das Erkennen von Umweltgeräuschen die
Lebensqualität wesentlich verbessern dürfte; sofern man diese Ansicht vertrete, müsse
man auch die CI befürworten; diese empfehle er für die Klägerin, falls die Superpower-
Hörgeräte nicht den gewünschten Erfolg brächten.
11
Am 19.7.1996 ist die Klägerin zu Lasten der Beklagten mit Superpower-Hörgeräten
versorgt worden. Von 1997 bis Ende 2001/Anfang 2002 hat sie logopädischen
Sprachunterricht bei einer Sprachtherapeutin in K ... bekommen. Im März 1997 hat ihr
Bevollmächtigter Berichte über das Ergebnis der Versorgung vorgelegt (Berichte der
HNO-Klinik der Städtischen-Krankenhäuser-K ...-GmbH vom 28.2.1997 und einer
Hörgeräteakustikerin vom 20.1.1997).
12
Prof. Dr. St ... hat sein Gutachten auf Veranlassung des SG ergänzt und nach erneuter
Untersuchung der Kläger am 13.6.1997 mit Datum des 3.7.1997 erklärt: nach dem
Scheitern des Versuchs mit den Superpower-Hörgeräten bleibe er bei seiner
Empfehlung, die Klägerin mit einem CI zu versorgen.
13
Die Beklagte hat dem mit einer Stellungnahme von Dr. U ... vom 12.8.1997
entgegengehalten: im Gutachten vom 3.7.1997 führe Prof. Dr. St ... aus, die Versicherte
könne grobe Geräusche wie Flugzeuglärm oder Radio wahrnehmen, diese jedoch nicht
14
differenzieren; da die Versicherte aber bereits jetzt mit den Superpower-Hörgeräten
grobe Geräusche wie Flugzeuglärm oder Radio wahrnehmen (wenn auch nicht
differenzieren) könne, dürfte ein zusätzlicher Behinderungsausgleich durch ein CI nur
die zusätzliche Differenzierung von einigen Umweltgeräuschen im Idealfall einbringen;
das sei unter Berücksichtigung des § 12 des Sozialgesetzbuches (SGB) V zu gering.
Dazu hat Prof. Dr. St ... in seiner weiteren, vom SG herbeigeführten Äußerung vom
23.10.1997 vermerkt: es sei aber absolut unmöglich, nach gelungener Operation den
verbesserten Lebenskomfort für die Klägerin in irgendeiner Summe aufzuwiegen; das
Gericht werde entscheiden müssen, ob die realistischen Kosten in Höhe von 80.000.-
DM zu rechtfertigen seien; da es sich aber offensichtlich um eine
Grundssatzentscheidung handle, sei er sehr damit einverstanden, daß, wie von Dr. U ...
vorgeschlagen, ein weiteres GA eingeholt werde.
15
Prof. Dr. W ... und Dr. E ... von der HNO-Klinik der RWTH A ... sind in ihrem alsdann auf
Veranlassung des SG eingeholten Gutachten vom 7.9.1999 nach Untersuchung der
Klägerin am 22.7. und 3.11.1998 zu dem Ergebnis gelangt: die Klägerin beherrsche das
Fingeralphabet; seit zwei Jahren trage sie wieder Hörgeräte; auf Geräuschebene und
auf der Ebene der suprasegmentalen Sprachmerkmale könne die Klägerin derzeit mit
Hörgeräten zu 50 % Geräusche am Computer identifizieren sowie zu 70 % Geräusche
als gleich oder verschieden klingend diskriminieren; aufgrund der eingeschränkten
kognitiven Fähigkeiten (zB fehlender Zahlenvorstellung) sei ihr das Erkennen der
Silbenzahl nur zu 25 % möglich; aufgrund der beschriebenen Ergebnisse sei von
pädagogischer Seite zu einer Versorgung mit dem CI nicht zu raten; der Klägerin habe
über 20 Jahre keine Hörerfahrungen gehabt und es bestehe der wissenschaftlich
begründete Konsens, daß Implantationen bei prälingual Ertaubten zu einem späteren
Zeitpunkt nur in begründeten Ausnahmefällen durchzuführen seien; eine medizinische
Indikation sei bei der Klägerin daher jetzt nicht mehr gegeben; im Gegensatz zum
Vorgutachten sei man der Meinung, daß eine CI Versorgung nicht zu einer
Verbesserung der durch die beidseits getragenen Hörgeräte wahrgenommenen
Umweltgeräusche führe; unter Umständen würde die Klägerin noch weniger Geräusche
oder aber Geräusche unangenehm wahrnehmen.
16
Nach Einzahlung eines Kostenvorschusses durch die Klägerseite hat das SG gemäß §
109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) weiteren Beweis erhoben durch Einholung eines
Gutachtens von dem als Arzt des Vertrauens der Klägerin benannten Facharzt für
physikalische Therapie Dr. Z ..., Chefarzt der Abteilung für Hörgeschädigte und Tinnitus-
Betroffene der B ...-Klinik B ... B ... Dieser hat die Klägerin vom 18. bis zum 20.7.2000
untersucht und in seinem Gutachten vom 25.9.2000 ausgeführt: die Klägerin erkenne zu
60 - 70 % die ihr dargebotenen Geräusche, hauptsächlich Tierlaute; sie könne auch
menschliche Sprache von Tierlauten differenzieren; es sei wahrscheinlich, daß sie mit
Hilfe eines CI Umweltgeräusche besser würde differenzieren, mehr als bisher würde
wahrnehmen können; der Fall sei insgesamt ungewöhnlich und berühre die
Grenzbereiche der Medizin im Spannungsfeld zwischen Lebensqualität, medizinischer
Notwendigkeit und Wirtschaftlichkeit; letztlich könne die Frage der Versorgung der
Klägerin nur nach ethischen Kriterien entschieden werden; generell werde bei
prälingual ertaubten Erwachsenen eine CI nicht mehr empfohlen und die meisten
Zentren lehnten es auch ab, eine solche durchzuführen; trotzdem seien ihm mindestens
10 Fälle von prälingual ertaubten Jugendlichen und Erwachsenen persönlich bekannt,
bei denen (von verschiedenen Zentren) ein CI auch in neuester Zeit implantiert worden
sei; es habe sich in allen diesen Fällen bestätigt, daß ein CI bei prälingual ertaubten,
17
gebärdensprachlich orientierten Erwachsenen nicht zum Sprachverstehen beitrage;
dagegen könne man bei denjenigen gehörlos geborenen oder im frühesten Kindesalter
Ertaubten, die nicht mit der Gebärdensprache in Berührung gekommen seien und eine
lautsprachliche Förderung durchlaufen hätten, erwarten, daß das
Kommunikationsvermögen mit einem CI doch noch etwas verbessert werden könne,
sofern eine lautsprachliche bzw. schriftsprachliche Repräsentation in den zentralen
Gehirnstrukturen vorhanden sei. Das sei der Klägerin jedoch nicht der Fall; sie sei
geistig behindert; sie könne zwar Neues erfassen und nachahmen bzw. auch
nachsprechen; sie könne jedoch nicht z.B. auf Fragen adäquat antworten;
zusammenfassend sei er, Dr. Z ..., der Meinung, daß die Frage, ob bei der Klägerin eine
CI-Versorgung indiziert sei, nicht über die Kostenfrage entschieden werden solle;
vielmehr sollten ethische Aspekte im Vordergrund stehen, da die Lebensqualität für
geistige behinderte Menschen nicht durch Kosten-Nutzen-Abwägungen quantifiziert
werden könnten.
Die Klägerin hat vor dem SG beantragt,
18
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 15.3.1994 in Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 6.2.1995 zu verurteilen, die Kosten einer Cochlea-
Implantat-Versorgung zu übernehmen.
19
Die Beklagte hat vor dem SG beantragt,
20
die Klage abzuweisen.
21
Das SG Duisburg hat die Klage mit Urteil vom 14. Februar 2001 abgewiesen. Zur
Begründung hat es ausgeführt, die Versorgung mit einem Cochlea-Implantat könne
bestenfalls zu einer verbesserten Wahrnehmung von Umweltgeräuschen führen, deren
Eintritt Prof. Dr. W ... und Dr. E ... im Gegensatz zu Dr. Z ... aber nicht für wahrscheinlich
hielten; fehle es also bereits an einer hinreichend gesicherten medizinischen Indikation
für die begehrte Versorgung, so stelle sich umso mehr die Frage nach der Kosten-
Nutzen-Relation; die Kammer habe sich im Hinblick auf die vage Erfolgsaussicht nicht
davon überzeugen können, daß dieses kostenaufwendige Hilfsmittel zur
Lebensbetätigung im Rahmen der allgemeinen Grundbedürfnisse für die Klägerin
erforderlich sei.
22
Die Klägerin hat gegen das Urteil - ihren Bevollmächtigten zugestellt am 5.3.2001 - am
29.3.2001 Berufung eingelegt. Ihr Bevollmächtigter trägt vor: folge man der Auslegung
des § 33 SGB V durch das SG, könnte die Kassen jedes Hilfsmittel verweigern, das die
Krankheit nicht heile oder die Behinderung nicht völlig ausgleiche; überspitzt bedeute
dies, daß man dem Behinderten den Rollstuhl nicht finanzieren dürfe, weil er damit ja
auch nicht gehen könne; bei der Auslegung von § 12 SGB V lege das SG Wert auf die
Finanzinteressen der Krankenkassen und vernachlässige die Interessen des kranken
und behinderten Menschen; was Verbesserung der Lebensqualität für die Klägerin
bedeute, erhelle der Satz "Hören - Zuhören - Dazugehören"; die Bewertung von Prof. Dr.
W ... und Dr. E ..., daß eine Verbesserung der Wahrnehmungsempfin dung nicht
wahrscheinlich sei, werde scharf angegriffen; Prof. Dr. W ... sei offensichtlich nicht
unmittelbar beteiligt gewesen und Dr. E ... habe sich im Gegensatz zu Prof. Dr. St ... und
Z ... nicht mit der Klägerin selbst beschäftigt; die Klägerin sei geistig retardiert; hierfür
seien Fehldiagnosen und Fehlbehandlung verantwortlich; die Klägerin sei nicht Schuld
an ihrer mangelnden Förderung in der DDR.
23
Die Klägerin und Berufungsklägerin beantragt,
24
das Urteil des SG Duisburg vom 14.2.2001 zu ändern und die Beklagte unter Aufhebung
des Bescheides vom 15.3.1994 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom
6.2.1995 zu verurteilen, als Sachleistung eine Cochlea-Implantat-Versorgung bei ihr zu
übernehmen bzw. zu gewähren.
25
Die Beklagte und Berufungsbeklagte beantragt,
26
die Berufung zurückzuweisen.
27
Sie meint, aus der Vielzahl der Gutachten ergebe sich, daß eine medizinische Indikation
für die begehrte Versorgung nicht gegeben sei; wie sich aus Zeitablauf und -entwicklung
ergebe, komme die Klägerin auch ohne das Implantat soweit zurecht, daß sie seit dem
1.8.1989 in der Behindertenwerkstatt Haus F ... in K ... tätig sein könne.
28
Die Sachverständigen Dr. E ... und Dr. Z ... haben ihre Gutachten vor dem Senat
erläutert und ergänzt. Insoweit wird auf den Inhalt der Sitzungsniederschrift Bezug
genommen. Wegen des Sachverhalts im übrigen wird auf den Inhalt der vorbereitenden
Schriftsätze in beiden Rechtszügen verwiesen. Außer der Streitakten haben vorgelegen
und sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen: ein Band
Verwaltungsakten der Beklagten.
29
Entscheidungsgründe:
30
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG Duisburg vom 14. Februar 2001 ist
nicht begründet. Sie hat keinen Anspruch gegen die Beklagte auf Versorgung mit einem
CI.
31
Die Versorgung mit einem solchen Hilfsmittel zu Lasten der gesetzlichen
Krankenversicherung (GKV) scheidet für prälingual Ertaubte, wie die Klägerin, nach der
Pubertät nicht schlechthin, aber grundsätzlich aus, und die Beweisaufnahme durch das
SG und den Senat hat ergeben, daß eine Versorgung mit einem CI auch im besonderen
Einzelfall der Klägerin nicht als zweckmäßig betrachtet werden kann, um ihre
Hörbehinderung auszugleichen. Zu Ungewiß ist der Erfolg einer solchen Versorgung,
und ein Fehlschlag führt zu nicht wieder gut zu machenden, gravierenden Folgen.
32
I.
33
Anspruchsgrundlage für die von den Eltern gewünschte Versorgung der Klägerin mit
einem CI konnte nur § 33 SGB V sein. Danach haben Versicherte Anspruch auf
Versorgung mit Seh- und Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen
Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um eine Behinderung auszugleichen (§
33 Abs 1 S. 1 3. Mögl. SGB V). Die Versorgung mit Hilfsmitteln unterliegt, wie die
übrigen Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV), dem
Wirtschaftlichkeitsgebot des § 12 SGB V (im weiteren Sinne), das u.a. die
Zweckmäßigkeit der Leistung fordert (§ 12 Abs 1 S. 1 SGB V). Leistungen die (im
weiteren oder engeren Sinn) unwirtschaftlich sind, können Versicherte nicht
beanspruchen, dürfen die Leistungserbringer nicht bewirken und die Krankenkassen
nicht bewilligen (§ 12 Abs 1 S. 2 SGB V).
34
Eine Behandlung entspricht nur dann dem Zweckmäßigkeitserfordernis des § 12 Abs 1
SGB V, wenn das bestehende Krankheitsbild nach dem wissenschaftlichen
Erkenntnisstand die begründete Vermutung rechtfertigt, daß die vom Arzt
angenommene Erkrankung vorliegt und mit der vorgeschlagenen Therapie wirksam
behandelt werden kann; gibt es dafür keinen objektiven Anhaltspunkt, gebührt dem
Interesse der Versichertengemeinschaft an einer Begrenzung auf die nach weisbar
medizinisch notwendigen Leistungen der Vorrang vor dem Interesse des Einzelnen an
einem kostenfreien Heilversuch (so das Bundessozialgericht (BSG) in seinem
Beschluss vom 8. März 2001 - B 1 KR 54/00 B = SozSich 2001, 435 - mit Hinweis auf
das Urteil vom 6.10.1999 - B 1 KR 13/97 R = BSGE 85, 56 = SozR 3-2500 § 28 Nr 4).
35
Es besteht in der Wissenschaft Übereinstimmung, daß Cochlea-Implantationen bei
prälingual Ertaubten zu einem späteren Zeitpunkt nur in begründeten Ausnahmefällen
durchzuführen sind. Dies haben Prof. Dr. W .../Dr. E ... und Dr. U ... substantiiert
dargelegt, das hat Dr. Z ... in seinem Gutachten vom 25.9.2000 ausdrücklich bestätigt
und dem hat keiner der anderen mit der Sache befaßten Ärzte widersprochen. Davon,
daß hier ein solcher Ausnahmefall anzunehmen wäre, konnte sich der Senat nicht
überzeugen.
36
II.
37
Was das vorhandene Hörvermögen der Klägerin anbetrifft, so ist Prof. Dr. B ... (Bericht
vom 24.5.1995) davon ausgegangen, daß die Klägerin - wenngleich auch nach seiner
Ansicht nicht völlig taub, sondern "nur" an einer an Taubheit grenzenden Hypakusis
leidend (Schreiben des Prof. Dr. B ... vom 27.7.1993) - keinen akustischen Kontakt zur
Umwelt habe, Geräusche wie Autohupen und den Rhythmus der Sprache nicht
wahrnehmen könne und nur mit Hilfe eines Cochlea-Implantats aus der völligen Stille
herausgenommen werden könne. Liest man den Bericht der HNO-Klinik der Städtischen
Krankenhäuser K ... GmbH vom 28.2.1997 und den der Högeräteakustikerin vom
20.1.1997, muß man den Eindruck gewinnen, an dieser völligen Stille habe auch die
Nutzung der der Klägerin im Juli 1996 zur Verfügung gestellten Super-Power-Hörgeräte
nichts wesentlich geändert, denn es heißt dort, die Klägerin trage die Hörgeräte
regelmäßig, reagiere aber trotz intensiven Hörtrainings nicht auf Geräusche und
Sprache bzw. es erfolge keine Reaktion auf Töne oder Geräusche, keine auf Signale
wie Martinshorn, (am 4.11.96) keine Reaktion auf Hundegebell, Feuerwehr und Hupe.
Damit übereinstimmend spricht denn auch Prof. Dr. St ... in seiner ergänzenden
Stellungnahme vom Scheitern des Versuchs mit den Super-Power-Hörgeräten.
Allerdings wußte Prof. Dr. St ... bereits in seinem Gutachten vom 23.4.1996 - also schon
vor Versorgung der Klägerin mit den Supra-Power-Hörgeräten im Juli 1996 - zu
berichten, die Klägerin verfolge Musik im Radio und Fernsehen mit Hilfe von
Kopfhörern; sie könne ihre Lieblingslieder, insbesondere von Michael Jackson,
erkennen und etwa 15 Worte sprechen (Mann, Frau, Bube, Mädchen, Mama, kauft usw.).
Dies hat die Mutter der Klägerin vor dem Senat noch einmal verdeutlicht und erklärt, die
Geräusche oder Umweltgeräusche könne ihre Tochter - wie dies bereits in den
Gutachten beschrieben sei - auch mit einem Hörgerät nicht hören; sie könne allerdings,
wenn sie einen Kopfhörer auf den Ohren - ohne Hörgerät - trage, bei größter
Lautstärkeeinstellung Musik hören oder am Computer arbeiten oder aus dem Fernsehen
Musik wahrnehmen; das sei ihr durchaus differenziert möglich; sie könne nicht nur einen
Sänger wie Michael Jackson von anderen Sängern unterscheiden, sie sei auch in der
Lage, einzelne Stücke von Michael Jackson zu unterscheiden; jedoch höre sie
38
beispielsweise Rufen, selbst Brüllen, nicht; auch eine Autohupe könne sie nicht hören;
wenn es möglich wäre, einen entsprechenden Kopfhörer zu tragen, und ein Mikrofon
dabei zu haben, der genau auf die Schallquelle gerichtet wäre, z.B. auf eine Hupe oder
ein Martinshorn, dann könnte sie das natürlich mitkriegen, so vermute sie, die Mutter;
ihre Tochter habe im Laufe ihres Lebens trotz ihrer Behinderung kontinuierlich
Entwicklungsfortschritte gemacht; sie sei beispielsweise in der Lage, Tiere zu
unterscheiden, sie sei in der Lage, Zeitschriften zu betrachten und ihr bekannte Worte
wiederzufinden; sie könne Comics, wie beispielsweise "Mickymaus", verfolgen; dabei
sei allerdings zu betonen, daß sie die Masse der Worte nicht lesen könne, weil sie in
ihrer Jugend nur vier Jahre auf die Schule gegangen sei; sie könne aber Fernsehen und
sich dort an Musikdarbietungen erfreuen; an ihrem Personalcomputer könne sie
ebenfalls mit Kopfhörern, ihrem Bildungsstand angepaßt, arbeiten; die ihr bekannten
Worte könne sie mit Hilfe des Fingeralphabetes, also der ihr eigenen Gebärdensprache,
durchaus nachvollziehen.
Das Vorhandensein eines so beschaffenen Hörvermögens haben die Sachverständigen
Dr. E ... und Dr. Z ... durchaus bestätigt. Beide waren sich vor dem Senat durchaus einig,
daß die Klägerin bei Einsatz von Superpower-Hörgeräten ihre Hörreste noch in
Teilbereichen, insbesondere im Bereich der tieferen Töne verwerten kann - bis in den
Bereich von 125 bis 250 Hertz, also in den Bereich der Fühlwerte hinab. Dabei kann die
Klägerin - so Dr. E ... vor dem Senat - bei Verstärkung durch Kopfhörer oder Hörgeräte,
die ähnliche Effekte haben, bestimmte Geräusche wahrnehmen; sie ist allerdings so
hochgradig hörgestört, daß selbst mit Superpower-Hörgeräten lautest gesprochen bzw.
die Hörstärke auf den höchsten Bereich eingestellt werden müßte, was nach den
Erfahrungen der Mutter, bestätigt von Dr. Z ..., seine Grenze darin findet, daß Hörgeräte
nicht beliebig verstärkbar sind, und daß die höhere Stufe ihrer Einstellung zu Pfeiftönen
führt, sodaß dann selbst die ansonsten hörbaren tiefen Töne nicht mehr wahrgenommen
werden können.
39
Einig waren sich die Sachverständigen vor dem Senat auch in der Richtigkeit der
Feststellung von Dr. Z ..., daß die Klägerin nicht unterscheiden kann nach Klangfarbe,
Melodie, Akzent oder etwa Silbenzahl oder auch Intonation, daß sie vielmehr - etwa
Hundegebell von Sprache - nach Geräuschmustern unterscheidet, wobei die Sprache
unabhängig von der jeweiligen Landessprache ein bestimmtes Geräuschmuster
darstellt, und wobei Dr. Z ... bestätigen konnte, daß die Klägerin durchaus in der Lage
ist, einzelne Musikstücke zu unterscheiden.
40
III.
41
1. Was den durch eine CI-Versorgung möglicherweise erreichbaren Zustand der
Klägerin anbetrifft, so sind sich zunächst alle mit der Sache befaßten Ärzte darin einig,
daß der Klägerin ein Spracherwerb nicht möglich sein kann. Mit insbesondere den
Ausführungen von Dr. Z ... in seinem schriftlich erstatte ten Gutachten geht der Senat
ferner davon aus, daß auch eine Verbesserung der Kommunikation im übrigen im
besonderen Fall der Klägerin nach einer CI-Versorgung nicht eintreten kann. Dr. E ...
und Dr. Z ... haben sich vor dem Senat einig auch darin erklärt, daß eine verbesserte
Wahrnehmungsfähigkeit bezüglich prosodischer Elemente Klangfarbe, Melodie und
Akzent nicht zu erzielen ist. Soweit Dr. Z ... dabei betont hat, daß im Hinblick auf die
Silbenzahl durchaus ein Fortschritt erzielt werden könnte, und soweit Dr. E ... dem
entgegenhält, daß bei der dortigen Untersuchung bereits ein Silbenverständnis von 25
% getestet worden sei, kann dieser Umstand hier vernachlässigt werden, denn es ist
42
nicht ersichtlich und es konnte auch nicht aufgezeigt werden, daß dies einhergehen
könnte mit einer nennenswerten Verbesserung der Lebensqualität.
2. Zur Überzeugung des Senats steht es aber fest, daß die der Klägerin danach bislang
gegebene geringe Fähigkeit akustischer Wahrnehmung durch die Versorgung mit einem
Cochlea-Implantat durchaus gesteigert werden könnte. Sicherlich in Anbetracht von
Lautstärke und Frequenz. Insoweit hat Dr. Z ... vor dem Senat erklärt, bei der Klägerin
sei die Umwandlungsfähigkeit im Innenohr nahezu erloschen; solange sie kein
Cochlea-Implantat habe, werde sie ohne Hörgerät nur Geräusche in einer
Größenordnung von 90 bis 110 dB wahrnehmen können, das bedeute: Geräusche, die
an der absoluten Hörschwelle lägen; mit einem Hörgerät ohne Cochlea-Implantat würde
sie bereits Geräusche von 60 bis 80 dB hören können; mit einem Cochlea-Implantat
werde sie Geräusche von 20 bis 30 dB wahrnehmen können. Diesen beträchtlichen
möglichen Zugewinn an Wahrnehmung der Lautstärke hat Dr. E ... bestätigt und erklärt,
diese Überlegungen von Dr. Z ... seien sicherlich zutreffend; das Cochlea-Implantat sei
jedem Hörgerät, auch dem Super-Power-Hörgerät, als Verstärker überlegen. Die
Frequenz betreffend hat Dr. Z ... vor dem Senat ausgeführt, wenn die Klägerin im
derzeitigen Stadium ein Hörgerät oder einen Kopfhörer nutze, dann sei sie technisch in
der Lage, maximal 1000 bis 1500 Hertz wahrzunehmen. Dr. E ... hat zwar eingewandt,
nach den dortigen Messungen sei es sogar möglich, daß sie 4000 Hertz noch hören
könne, beide Sachverständigen waren sich dann aber wiederum darin einig, daß
Hörgeräte an Grenzen kommen und daß es sicherlich möglich sei, mit dem Cochlea-
Implantat Frequenzen von bis zu 5000 Hertz an das Ohr der Klägerin besser
heranzubringen, weil das CI - so Dr. E ... - jedem Hörgerät, auch dem Superpower-
Hörgerät, als Verstärker überlegen ist.
43
IV.
44
Könnte es danach gelingen, wie Dr. Z ... dies ausdrückt, verstärkt Hörreize an das Ohr
heranzubringen, so kommt es nicht darauf an, ob diese Veränderung, wie das SG dies
fordert, zur Lebensbetätigung im Rahmen der allgemeinen Grundbedürfnisse
erforderlich ist. Liegt eine körperliche Behinderung vor und kann diese durch ein
Hilfsmittel ausgeglichen werden, so ist grundsätzlich die Behinderung selbst ein
ausreichender medizinischer Grund für die Bereitstellung des Hilfsmittels (so BSG Urt.v.
22.7.81 3 RK 56/80 = SozR 2200 § 182 Nr 73 - "Sportbrille"). So besehen sind
Hilfsmittel, die in dem Sinne unmittelbar gegen die Behinderung gerichtet sind, daß sie
die gestörte Körperfunktion bessern, wie zB Prothesen, Brillen pp und auch das hier
streitige Cochlea-Implantat, grds unabhängig von der Frage der Befriedigung
allgemeiner Grundbedürfnisse und auch unabhängig vom Ausmaß der Besserung von
der Krankenkasse zu stellen. Demgegenüber verlangt die Rechtsprechung bei
Hilfsmitteln, die die ausgefallene Funktion nur ersetzen (zB Blindenhund, Rollstuhlboy
pp). - um die Belastung der Kassen nicht ausufern zu lassen - über den Gesetzestext
hinaus, daß diese zur Befriedigung von der Rechtsprechung entwickelter Grund- oder
Elementarbedürfnisse (Bewegungsfreiheit, selbständige Körperpflege,
Informationsbedürfnis pp) erforderlich sein müssen (vgl. BSG Urt.v. 8.3.90 3 RK 13/89;
SozR 3-2500 § 33 Nr 7 "Rollstuhlboy" u. Nr 15 "antiallergene Kissen- und
Matratzenbezüge"; Urt.v. 3.11.99 B 3 KR 3/99 R - "Mikroportanlage" - wobei man
neuerlicher Rechtsprechung des 3. Senats des BSG jedoch entnehmen könnte, daß
dieser nun für alle Hilfsmittel verlangt, daß diese im Rahmen der allgemeinen
Grundbedürfnisse benötigt werden - vgl. Urt. v. 16.9.99 B 3 KR 13/98 R und 2/99 R
sowie v. 10.10.00 B 3 KR 29/99 R = USK 2000-62; während wohl auch der 5. Senats
45
des LSG NW - eine Schwimmprothese den ersetzenden Hilfsmitteln zuordnend - an der
herkömmlichen Unterscheidung noch festzuhalten scheint).
V.
46
Freilich findet die Versorgung mit Hilfsmitteln durch die GKV auch bei die gestörte
Funktion bessernden Mitteln ihre Grenze darin, daß dies im Rahmen einer Kosten-
Nutzen-Relation, weil einen "nur unwesentlichen Ausgleich" bietend, von der
Versorgung ausgenommen sind (vgl. BSG aaO und in SozR 2200 § 182 b Nr 25
"Kopfschreiber für sprachbehinderte Gelähmte" u. Nr 33 "Klingelleuchte für
Schwerhörige"; SozR 3-2500 § 33 Nr 4 "Bildschirmlesegerät für Blinde"; SozR 3-2500 §
33 Nr 16 "Lese-Sprechgerät für Blinde"). Insoweit hat der 3. Senat des BSG jüngst
ausgeführt (Urt.v. 6.6.02 B 3 KR 68/01 R "technisch verbesserte
Oberschenkelprothese"), die Kasse könne sich zur Abwendung ihrer Leistungspflicht
auch nicht auf die erheblichen Mehrkosten dieser Versorgung berufen; soweit der Senat
in anderem Zusammenhang ausgeführt habe, zwischen den Kosten und dem
Gebrauchsvorteil des Hilfsmittels müsse eine "begründbare Relation" bestehen, werde
damit keine weitere Kosten-Nutzen-Erwägung gemeint, die immer zusätzlich zum
Erfordernis der umfassenden Einsetzbarkeit des Hilfsmittels bzw. (bei einer Innovation)
des Gebrauchsvorteils bei einem Grundbedürfnis anzustellen wäre; sie könne allenfalls
dann geboten sein, wenn der zusätzliche Gebrauchsvorteil des Hilfsmittels im
Alltagsleben eher gering, die dafür anfallenden Kosten im Vergleich zu einem bisher als
ausreichend angesehenen Versorgungsstandard als unverhältnismäßig hoch
einzuschätzen seien.
47
Wären einer Versorgung der Klägerin mit einem Cochlea-Implantat die von Dr. Z ...
prognostizierten Erfolge beschieden, so wäre dies keinesfalls als "nur unwesentlicher
Ausgleich" oder als "eher geringer Gebrauchsvorteil" des Hilfsmittels zu betrachten. Für
die Klägerin, die ja nur über ein äußerst geringes Resthörvermögen verfügt, wäre eine
solche objektiv geringe Verbesserung des Hörvermögens vielmehr ein ganz
bedeutsamer Fortschritt, demgegenüber die Kasse die Leistung unter Hinweis auf die
Kosten des Eingriffs schwerlich versagen dürfte.
48
VI.
49
Dieser Fortschritt ist aber gänzlich davon abhängig, daß die Klägerin die neuen Signale
nicht nur wahrnimmt, sondern auch gewinnbringend für sich verwerten kann. D.h. es
wäre zB nicht als Fortschritt zu betrachten, könnte sie zwar weitere Geräusche
differenzieren, aber nicht sinnbringend verwerten - und sei es auch nur im Sinne
gesteigerter Lebensfreude, eines gesteigerten Musikgenusses pp. oder auch im Sinne
der Annahme von Dr. Z ..., daß die Klägerin nach CI-Versorgung Freundlichkeit oder
Aggressivität womöglich nicht mehr allein aufgrund der Mimik des Sprechenden werde
unterscheiden müssen.
50
Mit Dr. Z ... geht der Senat dabei durchaus davon aus, daß die nach CI-Versorgung
hinzugewonnenen Signale durchaus auch die Verarbeitungszentren der Klägerin
erreichen könnten und dort auch verarbeitet würden. Dr. E ... hat jedoch mit Recht
eingewandt, daß man bislang schon nicht weiß, was das Ergebnis solcher Verarbeitung
ist, und daß sich demgemäß auch kaum beurteilen läßt, ob und welchen Zugewinn oder
auch Nachteil die Klägerin durch eine CI-Versorgung erfahren würde. Zudem ist auch
zwischen Dr. Z ... und Dr. E ... unstreitig, daß es eine längere Zeit der Anpassung und
51
Eingewöhnung bedürfte, ehe die Klägerin überhaupt einen möglichen Nutzen würde
erfahren können. Dr. E ... hat insoweit vor dem Senat ausgeführt: man wisse letztlich
auch gar nicht, was die Klägerin wahrnimmt, und zwar wegen ihrer geistigen
Retardierung und ihrer geringen Bildung; er, der Sachverständige, sei sich nicht sicher,
ob die Klägerin Hörempfindungen von 3000, 4000 oder 5000 Hertz umsetzen kann, weil
sie mit diesen Geräuschen in der Vergangenheit überhaupt gar keine Erfahrungen habe
machen können; für ihn sei fraglich, ob die Klägerin, die rein technisch ein Signal von
5000 Hertz werde wahrnehmen können, wenn ein Cochlea-Implantat eingesetzt sei, ob
sie dieses eingehende Signal im Gehirn werde verarbeiten können; er bleibe bei seiner
Auffassung, daß er zunächst bezweifle, ob die Klägerin überhaupt in
Frequenzbereichen von beispielsweise 3000, 4000 oder 5000 Hertz eine zuordnenbare
Geräuschwahrnehmung habe; das bedeute eine Prognoseentscheidung, ob man ein
solches Gerät angesichts der eingeschränkten Erkenntnisfähigkeit der Klägerin
anwenden könne und dürfe; darüber hinaus könne es auch sein, daß die Klägerin die
bis lang nicht bekannten Empfindungen als Mißempfindungen wahrnehme; dies wäre
entsprechend kontraproduktiv und kein sinnvoller Einsatz eines solchen Cochlea-
Implantats; das Gerät könne dann zwar auf eine geringere Hörstärke oder einen
geringeren Hörbereich begrenzt werden; dann werde man aber das Gerät
normalerweise abschalten und überhaupt in voller Gänze nicht mehr verwenden; es sei
natürlich auch möglich, das Cochlea-Implantat in seiner Funktion auf einen geringeren
Frequenzbereich zu beschränken; dann aber gerate man wieder in den Bereich, der mit
einem Super-Hörgerät noch erfaßt werden könnte; das bedeute eine
Prognoseentscheidung, ob man ein solches Gerät angesichts der eingeschränkten
Erkenntnisfähigkeit der Klägerin anwenden könne und dürfe; man habe dann nicht den
Nutzen, den man an sich haben möchte; die Überlegungen von Dr. Z ... seien zwar
prinzipiell richtig, daß die Klägerin ein CI durch Erweiterung des Frequenzbereichs
schon nutzen könne zu ihrer weiteren Freude, etwa bei der Musik, und daß darüber
hinaus ihre akustische Ankopplung an die Umwelt verbessert werden können, sodaß
sie auf der Straße Hundegebell auf größere Entfernung und einen herannahenden LKW
nicht erst in einer Entfernung von 2 m durch sein Geräusch hören, sondern vielleicht
schon in einer Entfernung von 20 m hören werde; er, Dr. E ..., gebe aber zu bedenken,
daß es höchst fraglich sei, ob die Klägerin mit einem diese Fähigkeit mit einem CI werde
erreichen können, denn bei einer Implantation werde das Resthörvermögen, auch das
heute noch vorhandene Rest-Richtungshörvermögen wegfallen; dies einfach deshalb,
weil ein Eingriff am Innenohr vorgenommen wird, der das Restleistungsvermögen
beseitige und es durch die Fähigkeiten des neuen Gerätes ersetzt; um aber dieses
Gerät, nämlich das CI nutzen zu können, sei intensives Training nötig; wie auch bei
einem spät Ertaubten müßte die Klägerin das Hören mit diesem Gerät dann völlig neu
lernen und man wisse einfach nicht, ob sie sich darauf einstellen könne; es bestehe die
Gefahr, daß sie, wenn sie diese Hörfähigkeit nicht erlerne, am Ende schlechter dran sei
als heute.
Diese Zusammenhänge bestreitet auch Dr. Z ... im Grundsatz nicht, es ist nur seine
Prognose, die anders ausfällt. Schon in seinem Gutachten vom 25.9.2000 stellt Dr. Z ...
klar, ob diese neu gehörten Geräusche von der Klägerin auch angenommen und als
angenehm empfunden würden, könne natürlich nicht vorausgesagt werden. Vor dem
Senat hat er ergänzt:
52
Man wisse auch nicht, was die Klägerin wahrnehme, weil sie nie eine ausreichende
Sprachkompetenz erlernt habe und mitteilen könne, was sie jetzt im Einzelnen höre
oder nicht höre; er, Dr. Z ..., meine, daß aus den Erfahrungen der Vergangenheit
53
geschlossen werden könne, daß die Klägerin das CI auch nutzen werde und über den
augenblicklichen Hörbereich hinaus auch in den neuen Hörbereichen nutzen werde; er
sei nicht generell geneigt, ein Cochlea-Implantat für alle prälingual Ertaubten
einzusetzen und zu empfehlen, aber bei dieser Patientin meine er, besteht eine hohe
Chance, daß sie ein CI nutzen könne; sie sei, wie die Vergangenheit gezeigt habe, sehr
motiviert, sehr neugierig, spielerisch veranlagt; sie habe die Hörgerätversorgung Mitte
der 90-er Jahre sehr positiv aufgenommen; er, Dr. Z ..., meine, daß ihr seitdem das
Musikhören viel mehr Spaß mache; sie hat jedenfalls, so sei sein Eindruck, schon daran
einen Gewinn gehabt und er sehe für die Zukunft bei ihr einen solchen weiteren
Gewinn.
Dr. Z ... schließt mithin im wesentlichen allein aus den Tatsachen, daß ihm mindestens
10 Fälle erfolgreicher CI-Versorgung prälingual Ertaubter bekannt sind, wie daraus, daß
die Klägerin bisher schon etwa Musikgenuß mit Hilfe der Super-Power-Hörgeräte hat
erfahren können, daß ihr auch die erneute Anpassung mutmaßlich gelingen würde.
Diese These steht indes auf unsicherem Grund schon deshalb, weil die Klägerin, was
Dr. Z ... zunächst verkannt hat, Musikgenuß - in welcher Form auch immer - auch schon
ohne die Super-Power-Hörgeräte hat erfahren können. Erst auf diesen Einwand hin hat
Dr. Z ... seine Aussage, wie aufgezeigt, dahingehend korrigiert, daß durch die Super-
Power-Hörgeräte eben ein verbesserter Musikgenuß eingetreten sei, und was die Dr. Z
... bekannten Fälle gelungener CI-Versorgung anbetrifft, so hat er nicht dargelegt,
inwieweit die Voraussetzungen in der einzelnen Fällen mit den Voraussetzungen im
Fall der Klägerin übereingestimmt haben, sodaß offen bleiben kann, inwieweit die
Unterschiedlichkeit der einzelnen Schicksale über die Gemeinsamkeit des prälingual
Ertaubtsein hinaus, überhaupt Schlüsse vom Gelingen der Versorgung in einem auf das
mutmaßliche Gelingen im anderen Fall zuläßt.
54
Der Annahme, die bisher schon erfolgte Anpassung lasse darauf schließen, daß auch
eine weitere gelinge, steht hier aber vor allem die von Dr. E ... hervorgehobene
Tatsache entgegen, daß die Klägerin seit Jahrzehnten schon keinerlei Hörerfahrung
gehabt hat und auch nicht entsprechend gefördert worden ist, was es seiner Ansicht
nach ungeachtet der Frage der intellektuellen Fähigkeiten und ihrer geistigen
Retardierung wenig wahrscheinlich macht, daß ihr die Anpassung an ein Implantat
gelingen könnte. Daß dieser Mangel an Hörerfahrung und Förderung ganz wesentlich
der Anpassung entgegensteht, bestreitet aber auch Dr. Z ... ebensowenig wie, daß die
Klägerin, wäre sie auf einem Ohr erfolglos mit einem CI versorgt, der Nutzung des
Resthörvermögens auf diesem Ohr - mit oder ohne Hörgerät und/oder Kopfhörer -
unwiederbringlich verlustig gehen würde. Dr. Z ... hat schließlich auch den Einwand von
Dr. E ... nicht entkräften können, auch der mit der Einfügung des Implantats notwendig
verbundene Verlust des Rest-Richtungshörvermögen mache die Möglichkeit der
Nutzung des Zugewinns neuer Signale fraglich.
55
Bei Abwägung der möglichen Vor- und Nachteile eines solchen Eingriffs kann dieser im
Fall der Klägerin danach nicht mehr als zweckmäßig iS des Rechts des GKV betrachtet
werden, mögen auch die Eltern geneigt sei, das Risiko eines solchen Eingriffs bei ihrer
Tochter einzugehen. Mit Recht weist schließlich Dr. E ... daraufhin, daß die Klägerin im
Zustand ihrer Versorgung mit den Hörgeräten ja durchaus einen fröhlichen und
zufriedenen Eindruck vermittelt. Davon konnte sich auch der Senat während seiner
mehrstündigen Beweisaufnahme überzeugen, während der die Klägerin unablässig in
Kommunikation mit ihrer Mutter stand, anscheinend ohne sich von den Vorgängen um
sie herum negativ beeinflussen zu lassen. Davon hat sich auch Dr. Z ... überzeugt, der
56
schon in seinem Gutachten vom 25.9.2000 berichtet hatte, es müsse berücksichtigt
werden, daß der Wunsch nach einem CI nicht von der Klägerin selbst, sondern von den
Eltern komme; die Klägerin selbst habe keine Vorstellung von den Dingen; sie sei zwar
an allem Neuen interessiert, es müsse jedoch klar gesagt werden, daß sie ein CI nicht
vermisse und mit ihrer jetzigen Wahrnehmungswelt zufrieden sei. Der Fortbestand
dieser Zufriedenheit sollte nach Ansicht des Senats bei doch großen Zweifeln am Eintritt
des erwünschten Nutzens jedenfalls zu Lasten der GKV nicht aufs Spiel gesetzt werden,
zumal der möglicherweise eintretende Schaden unvergleichlich durchschlagender
ausfällt als der Nutzen, der bei regelmäßig nur auf einer Seite erfolgenden CI-
Versorgung erhofft werden könnte. Die Ausführungen aller anderen mit der Sache
befaßten Ärzte konnten demgegenüber, weil kürzer greifend als die der Drs. E ... und Z
..., nicht zu einem anderen Ergebnis führen.
Die Entscheidung über die Kosten folgt aus § 193 Abs 1 und 4 SGG.
57
Es bestand kein Anlaß, die Revision zuzulassen, denn weder hat die Rechtssache
grundsätzliche Bedeutung (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG) noch weicht das Urteil von einer
Entscheidung des BSG, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des
Bundes oder des BVerfG ab und beruht auf dieser Abweichung (§ 160 Abs 2 Nr 2 SGG).
58