Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 10.03.2004

LSG NRW: grobe fahrlässigkeit, merkblatt, getrennt leben, kaufmännischer angestellter, mitteilungspflicht, wechsel, leistungsanspruch, arbeitsloser, arbeitslohn, arbeitslosigkeit

Landessozialgericht NRW, L 12 AL 161/03
Datum:
10.03.2004
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
12. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
L 12 AL 161/03
Vorinstanz:
Sozialgericht Dortmund, S 33 AL 111/02
Sachgebiet:
Arbeitslosenversicherung
Rechtskraft:
nicht rechtskräftig
Tenor:
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts
Dortmund vom 11.06.2003 abgeändert. Der Bescheid vom 30.01.2002 in
der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.05.2002 wird
aufgehoben. Die Beklagte hat die erstattungsfähigen außergerichtlichen
Kosten des Klägers beider Instanzen zu tragen. Die Revision wird
zugelassen.
Tatbestand:
1
Die Beteiligten streiten über die teilweise Aufhebung der Bewilligung von
Arbeitslosengeld für die Zeit vom 01.03.1999 bis 20.08.2001 in Höhe 12.524,82 Euro
sowie über einen entsprechenden Erstattungsanspruch.
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Der am 00.00.1941 geborene Kläger arbeitete vom 01.10.1968 bis 31.12.1998 als
kaufmännischer Angestellter.
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Am 08.12.1998 meldete er sich zum 01.01.1999 arbeitslos und beantragte die Zahlung
von Arbeitslosengeld. Dabei gab er an, dass auf seiner Steuerkarte die Steuerklasse III
eingetragen sei.
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Mit Bescheid vom 11.02.1999 bewilligte die Beklagte dem Kläger Arbeitslosengeld ab
01.01.1999 für eine Anspruchsdauer von 971 Tagen nach der Leistungsgruppe
C/allgemeiner Leistungssatz. Am 21.08.2001 hob die Beklagte die Bewilligung von
Arbeitslosengeld wegen andauernder Arbeitsunfähigkeit des Klägers auf. Vom 21. bis
31.08.2001 bezog der Kläger Krankengeld. Am 04.09.2001 meldete er sich erneut
arbeitslos und beantragte die Fortzahlung von Arbeitslosengeld. Dabei gab er an, dass
auf seiner Steuerkarte die Steuerklasse V eingetragen sei.
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Auf entsprechende Nachfrage der Beklagten teilte der Kläger am 05.11.2001 mit, dass
die Steuerklasse bereits zum 01.03.1999 geändert worden sei.
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Nach entsprechender Anhörung des Klägers hob die Beklagte die Leistungsbewilligung
mit Bescheid vom 30.01.2002 für die Zeit vom 01.03.1999 bis 20.08.2001 teilweise in
Höhe der Differenz zwischen Leistungsgruppe D/allgemeiner Leistungssatz und
C/allgemeiner Leistungssatz auf und verlangte die Erstattung überzahlter Leistungen in
Höhe von 12.524,82 Euro. Die Beklagte stütze ihre Entscheidung auf § 48 des Zehnten
Buches Sozialgesetzbuch (SGB X) und warf dem Kläger vor, seiner Mitteilungspflicht
nicht rechtzeitig nachgekommen zu sein.
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Hiergegen legte der Kläger Widerspruch ein. Zur Begründung führte er aus: Er habe
sich aufgrund des Freitods seiner Tochter seit dem 06.04.1998 in nervenärztlicher
Behandlung befunden. Aufgrund einer seelischen Erkrankung könne ihm nicht
angelastet werden, dass er es unterlassen habe, die Änderungen auf der
Lohnsteuerkarte mitzuteilen. Hinzu trete, dass eine ihm übersandte
Veränderungsmitteilung zwar zahlreiche Tatbestände formularmäßig vorgedruckt
beinhalte, die Änderung der Lohnsteuerklasse sei dort aber nicht ausdrücklich
aufgeführt. Er habe aufgrund seiner Erkrankung auch nicht erkannt, dass eine
entsprechende Änderung unter dem Punkt "Sonstige Änderungen" hätte angegeben
werden können. Es sei für die psychische Erkrankung symptomatisch, dass der Patient -
mit Mühe - die Energie aufbringe, vorgegebene Vordrucke auszufüllen, jedoch nicht in
der Lage sei, Eigeninitiative zu entwickeln und die Vordrucke sinnvoll zu ergänzen.
Schließlich seien die erbrachten Leistungen nicht mehr vorhanden. Dem Widerspruch
war eine ärztliche Bescheinigung der Ärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. H vom
31.07.1998 sowie eine Rechnung der Psychotherapeutin Dr. C vom 26.10.1998 über
Behandlungen im Zeitraum vom 15.07.1998 bis 20.10.1998 beigefügt. Der Kläger
übersandte darüber hinaus einen ärztlichen Bericht der Ärztin Frau Dr. H vom
24.04.2002.
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Mit Widerspruchsbescheid vom 29.05.2002 wies die Beklagte den Widerspruch als
unbegründet zurück.
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Dagegen hat der Kläger am 21.06.2002 vor dem Sozialgericht (SG) Dortmund Klage
erhoben und zur Begründung zunächst sein bisheriges Vorbringen wiederholt.
Ergänzend hat er die Auffassung vertreten, ihm sei eine grob fahrlässige Verletzung
seiner Mitwirkungspflicht auch im Lichte des Urteils des Bundessozialgerichts (BSG)
vom 29.08.2002 - B 11 AL 87/01 R - nicht vorzuwerfen. Danach müsse ein Arbeitsloser
nicht damit rechnen, der Lohnsteuerklassenwechsel habe negative Auswirkungen auf
seinen Leistungsanspruch. Schließlich hat der Kläger bestritten, dass ihm das
"Merkblatt für Arbeitslose" anlässlich seiner Arbeitslosmeldung ausgehändigt worden
sei. Zu den Gründen für den Steuerklassenwechsel hat er angegeben, dass er und
seine Ehefrau die monatliche Belastung für seine Frau niedrig halten wollten. Wenn er
die Konsequenzen erahnt hätte, so hätten sie sich das Geld auch über den
Lohnsteuerjahresausgleich wiederholen können.
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Der Kläger hat beantragt,
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den Bescheid vom 30.01.2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom
29.05.2002 aufzuheben.
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Die Beklagte hat beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Mit Urteil vom 11.06.2003 hat das SG die Klage abgewiesen und zur Begründung im
Wesentlichen folgendes ausgeführt: Mit dem Lohnsteuerklassenwechsel zum
01.03.1999 sei nach Erlass des Bewilligungsbescheides vom 11.02.1999 eine
Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen des Klägers eingetreten, welche zur
Minderung des bewilligten Leistungsanspruchs führte. Auch die Voraussetzungen der
Aufhebung bzw. der Rücknahme der Leistungsbewilligung gemäß § 48 Abs. 1 S. 2 Nr. 2
SGB X lägen vor. Das Gericht gehe von einer grob fahrlässigen Verletzung der Pflicht
zur Mitteilung des Steuerklassenwechsels durch den Kläger aus. Anlässlich seiner
Arbeitslosmeldung und AntragsteIlung habe der Kläger mit seiner Unterschrift
ausdrücklich bestätigt, das Merkblatt für Arbeitslose erhalten und von seinem Inhalt
Kenntnis genommen zu haben. Das Gericht gehe aufgrund der Erklärung und
Unterschrift des Klägers vom 09.12.1998 davon aus, dass der Kläger das einschlägige
Merkblatt tatsächlich erhalten habe. In dem Abschnitt "Mitwirkungspflichten" habe die
Beklagte im Rahmen des Merkblatts für Arbeitslose (Stand Januar 1998) unter Ziffer 11
unmissverständlich dargelegt, dass das Arbeitsamt zu benachrichtigen sei, wenn sich -
aus welchem Grund auch immer - die Steuerklasse ändere. Damit sei aber in leicht
verständlicher Weise darauf hingewiesen worden, dass ein Steuerklassenwechsel
jedenfalls dem Arbeitsamt mitzuteilen sei. Habe die Behörde aber im Merkblatt deutlich
und verständlich auf die Pflicht zur sofortigen Anzeige aller Veränderungen, die
gegenüber den im Antrag angegebenen Verhältnissen eingetreten sind, hingewiesen,
so könne dem Betroffenen im Regelfall eine grob fahrlässige Verletzung seiner
Mitwirkungspflicht vorgeworfen werden. Auch die weitere Prüfung der individuellen
Gegebenheiten führe zur Überzeugung des Gerichts vorliegend zu keiner anderen
Beurteilung. Das Gericht gehe nach dem gesamten Akteninhalt davon aus, dass der
Kläger aufgrund seiner psychischen Erkrankung nicht derart eingeschränkt gewesen
sei, dass er seine Mitwirkungspflichten nicht hätte erkennen und ihnen nachkommen
können. Eine abweichende Beurteilung des vorliegenden Sachverhalts rechtfertige sich
nicht aufgrund der seitens des Klägers angeführten Entscheidung des BSG vom
29.08.2002 - B 11 AL 87/01 R -. Das Gericht folge dieser Entscheidung nicht und halte
die dort vertretene Rechtsauffassung zu der in § 48 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB X getroffenen
Regelung für unzutreffend. Die Argumentation des BSG sei nicht nachvollziehbar. Zum
einen bezögen sich die Ausführungen des BSG eher darauf, ob der Kläger die
Auswirkungen des Steuerklassenwechsels für seinen Leistungsanspruch hätte
erkennen müssen bzw. können. Insofern handele es sich aber um den
Aufhebungstatbestand gemäß § 48 Abs. 1 S. 2 Nr. 4 SGB X (Kenntnis oder grob
fahrlässige Unkenntnis von dem Wegfall des Anspruchs). Das BSG habe in seiner
Entscheidung die tatbestandlichen Voraussetzungen gemäß § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2
und 4 SGB X in unzulässiger Weise vermischt. Zum anderen gehe das BSG in seiner
Entscheidung von falschen Tatsachen aus, wenn es ausführt, die Beklagte habe den
Betreffenden darauf aufmerksam machen müssen, dass er vor einem
Lohnsteuerklassenwechsel eine Beratung bei der Beklagten suchen solle. Ein
entsprechender Hinweis finde sich in dem Merkblatt für Arbeitslose (Stand Januar 1998;
dort Seite 27 oben links). Schließlich sei der Hinweis in dem Merkblatt für Arbeitslose
(Blatt 54, 55) derart eindeutig, dass er zur Überzeugung des Gerichts keinerlei
Interpretationsmöglichkeiten zulasse und jedenfalls geeignet sei, den Vorwurf einer grob
fahrlässigen Verletzung der Mitteilungspflicht zu begründen.
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Das Urteil ist dem Kläger am 04.07.2003 zugestellt worden. Am 11.07.2003 hat er
dagegen Berufung eingelegt, die er wie folgt begründet: Eine grob fahrlässige
Verletzung der Pflicht zur Mitteilung des Steuerklassenwechsels durch den Kläger liege
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nicht vor. Das BSG habe in seinem Grundsatzurteil vom 29.08.2002 - Az B 11 AL 87/01
R - in einem Parallelverfahren den vorliegenden Sachverhalt dahin entschieden, dass
der Klage stattzugeben sei. Das SG setze sich im Übrigen in keiner Weise mit den
verfassungsrechtlichen Bedenken des BSG auseinander, dass es unter dem
Gesichtspunkt des Art. 14 GG verfassungsrechtlich unzulässig sei, eine Leistung nur
deshalb zu vermindern, weil der Bürger eine - steuerrechtlich zulässige - Gestaltung
(Wechsel der Lohnsteuerklasse) wähle, zumal er den gleichen wirtschaftlichen Erfolg -
bei Beibehaltung der Lohnsteuerklasse - über den Lohnsteuerjahresausgleich erzielen
könne. Unabhängig davon könne man ihm im konkreten Fall eine grob fahrlässige
Verletzung seiner Mitteilungspflicht nicht vorwerfen. Das SG verkenne im Übrigen seine
gesundheitliche Situation. Das Merkblatt habe er tatsächlich nicht erhalten; es könne
aber sein, dass es auf dem Tresen des Arbeitsamtes liegen geblieben sei. Den
Bescheid vom 11.02.1999 habe er sich nicht im Einzelnen angesehen. Dies habe seine
Frau für ihn getan.
Der Kläger beantragt,
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das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 18.03.2003 zu ändern und nach seinem
erstinstanzlichen Antrag zu erkennen.
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Die Beklagte beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen, hilfsweise die Revision zuzulassen.
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Sie hält das Urteil des SG für zutreffend.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
Gerichtsakten und der den Kläger betreffenden Verwaltungsakten der Beklagten Bezug
genommen. Diese Akten waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
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Entscheidungsgründe:
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Die zulässige Berufung ist begründet. Entgegen der Auffassung des SG ist der
angefochtene Bescheid aufzuheben, denn er ist rechtswidrig und beschwert den Kläger
in seinen Rechten.
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Nach § 48 Abs. 1 SGB X in Verbindung mit § 330 Abs. 3 S. 1 SGB III ist ein
Verwaltungsakt mit Dauerwirkung, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen
Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung
eintritt, mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufzuheben, wenn
eine der in Satz 2 Nr. 1 bis 4 genannten weiteren Voraussetzungen erfüllt ist.
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Zwar ist hier mit dem Lohnsteuerklassenwechsel zum 01.03.1999 nach Erlass des
Bewilligungsbescheides vom 11.02.1999 eine Änderung in den tatsächlichen
Verhältnissen des Klägers eingetreten, welche zur Minderung des bewilligten
Leistungsanspruches führte. Gemäß § 137 Abs. 1 bis 3 SGB III richtet sich die Höhe des
Arbeitslosengeldes u. a. nach der Leistungsgruppe, der der Arbeitslose zuzuordnen ist.
Dabei richtet sich diese Zuordnung nach der Lohnsteuerklasse, die zu Beginn des
Kalenderjahres, in dem der Anspruch entstanden ist, auf der Lohnsteuerkarte des
Arbeitslosen eingetragen war. Haben - wie hier - Ehegatten die Steuerklassen
gewechselt, so werden die neu eingetragenen Lohnsteuerklassen gemäß § 137 Abs. 4
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SGB III berücksichtigt, wenn
1. die neu eingetragenen Lohnsteuerklassen dem Verhältnis der monatlichen
Arbeitsentgelte beider Ehegatten entsprechen (sogenannter zweckmäßiger Wechsel)
oder
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2. sich aufgrund der neu eingetragenen Lohnsteuerklassen ein Arbeitslosengeld ergibt,
das geringer ist als das Arbeitslosengeld, das sich ohne den Wechsel der
Lohnsteuerklasse ergeben hätte.
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Stellt man verfassungsrechtliche Bedenken gegenüber dieser Regelung (vgl dazu BSG,
Urteil vom 29.08.2002, SozR 3-4300 § 137 Nr. 3; LSG Niedersachsen-Bremen vom
13.11.2003, - Az L 15 AL 35/02 - mwN) zurück, war daher für die Höhe des
Arbeitslosengeldes des Klägers ab dem 01.03.1999 die Leistungsgruppe D statt der
Leistungsgruppe C maßgebend, denn aus der Leistungsgruppe D ergibt sich eine
geringere Leistung.
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Entgegen der Auffassung des SG liegen hier allerdings weder die Voraussetzungen
nach § 48 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 noch nach Nr. 4 SGB X vor. § 48 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SBG X
erlaubt eine Aufhebung, soweit der Betroffene einer durch Rechtsvorschrift
vorgeschriebenen Pflicht zur Mitteilung wesentlicher für ihn nachteiliger Änderungen der
Verhältnisse vorsätzlich oder grob fahrlässig nicht nachgekommen ist. Seine Pflicht zur
Mitteilung des Steuerklassenwechsels hat der Kläger nämlich zur Überzeugung des
Senats allenfalls fahrlässig, nicht jedoch grob fahlässig verletzt, selbst wenn man
unterstellt, er habe das Merkblatt erhalten und zur Kenntnis nehmen können.
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Grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in
besonders schwerem Maße verletzt hat (§ 45 Abs. 2 S. 3 Nr. 3 letzter Halbsatz SGB X).
Der Betroffene muss unter Berücksichtigung seiner individuellen Einsichts- und
Urteilsfähigkeit seine Sorgfaltspflichten in außergewöhnlich hohem Maße, d. h. in einem
das gewöhnliche Maß an Fahrlässigkeit erheblich übersteigenden Ausmaß verletzt
haben (BSGE 42, 184, 186 / 187 = SozR 4100 § 152 Nr. 10; BSG SozR 1300 § 48 Nr.
14). Subjektiv schlechthin unentschuldbar ist ein Verhalten, wenn schon einfachste,
ganz nahe liegende Überlegungen nicht angestellt werden, wenn nicht beachtet wird,
was im gegebenen Fall jedem einleuchten muss (BSGE 42,184, 187 mwN).
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Das BSG hat in dem Urteil vom 29.08.2002 - B 11 AL 87/01 R - (SozR 3-4300 § 137 Nr.
3) im Zusammenhang mit den Anforderungen an die grobe Fahrlässigkeit bei der hier
streitigen Konstellation des Lohnsteuerklassenwechsels konkret ausgeführt:
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"Ein derartiger Ausnahmefall liegt hier vor, denn die Frage, ob der Kläger aufgrund von
grober Fahrlässigkeit einer durch Rechtsvorschrift vorgeschriebenen Pflicht zur
Mitteilung wesentlicher für ihn nachteiliger Änderungen der Verhältnisse nicht
nachgekommen ist, lässt sich in Fällen der vorliegenden Art anhand genereller
Maßstäbe beantworten. Für die Anwendung eines einheitlichen und vom
Revisionsgericht insoweit vorzugebenden Maßstabes spricht entscheidend, dass
hinsichtlich der Beurteilung des Lohnsteuerklassenwechsels unter Ehegatten nach
Eintritt der Arbeitslosigkeit ein Wertungswiderspruch zwischen Einkommenssteuerrecht
und Arbeitsförderungsrecht besteht, der nicht ohne Auswirkungen auf die der Beklagten
obliegenden Beratungspflichten bleiben kann. Zudem legen auch die bereits
dargelegten verfassungsrechtlichen Bedenken gegen den Anwendungsbereich des §
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137 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 SGB III es nahe, die Frage, ob eine Aufhebung der
angefochtenen Bescheide und die damit zwingend verbundene Rückforderung wegen
grob fahrlässiger Verletzung einer Mitteilungspflicht in Betracht kommt, nach einem
einheitlichen Maßstab zu beurteilen.
Im Einkommenssteuerrecht ist der Lohnsteuerklassenwechsel, der allgemein dazu
dient, die aktuelle Lohnsteuerbelastung möglichst nahe an der zur erwartenden
Jahreslohnsteuer zu halten, für den Fall, dass bei einem Ehegatten Arbeitslohn völlig
entfällt, besonders erleichtert. Denn nach § 38 b Satz 2 Nr. 3 a bb EStG gehören in die
Steuerklasse III Arbeitnehmer, die verheiratet sind, wenn beide Ehegatten unbeschränkt
einkommenssteuerpflichtig sind und nicht dauernd getrennt leben und der Ehegatte
keinen Arbeitslohn bezieht. Während Ehegatten, die beide in einem Arbeitsverhältnis
stehen, eine Änderung der Steuerklasse nur einmal im Laufe des Kalenderjahres
beantragen können (§ 39 Abs. 5 Satz 3 EStG), gilt diese Einschränkung nicht, wenn ein
Arbeitnehmer keinen Arbeitslohn mehr bezieht (vgl. auch die Lohnsteuer - Richtlinien
109 Abs. 5 Satz 5). Geht das Steuerrecht somit davon aus, dass dem Ehegatten bei
Eintritt von Arbeitslosigkeit ein Wechsel in die zweckmäßige Steuerklassenkombination
ermöglicht werden muss, so muss er nicht damit rechnen, dass er deswegen
leistungsrechtlich in jedem Falle Nachteile hinzunehmen hat. Für die Gemeinde oder
das Finanzamt als die zuständigen Finanzbehörden ist der Lohnsteuerklassenwechsel
aus der Sicht des Einkommenssteuerrechts geboten.
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Angesichts dieser steuerrechtlichen Bewertung des Lohnsteuerklassenwechsels unter
Ehegatten muss ein Arbeitsloser, der wie der Kläger vor Eintritt der Arbeitslosigkeit ein
erheblich höheres Arbeitsentgelt als seine Frau erzielt hatte, nicht damit rechnen, dass
der Lohnsteuerklassenwechsel negative Auswirkungen auf seinen Leistungsanspruch
haben würde. Nichts anderes folgt daraus, dass der Kläger nach den Feststellungen des
LSG ein Merkblatt für Arbeitslose (Stand: Januar 1998) erhalten hatte. Die Beklagte
verpflichtet darin den Betroffenen lediglich zur Meldung eines bereits vollzogenen
Lohnsteuerklassenwechsels. Im Hinblick auf die Folgen des
Lohnsteuerklassenwechsels hätte die Beklagte aber den Betreffenden darauf
aufmerksam machen müssen, dass er vor einem Lohnsteuerklassenwechsel eine
Beratung bei der Beklagten suchen sollte. Denn nur bei einer Beratung vor dem
Lohnsteuerwechsel können die arbeitsförderungsrechtlich schädlichen Folgen eines
Lohnsteuerklassenwechsels vermieden werden. Die Meldung nach der Vornahme eines
Lohnsteuerklassenwechsels kann angesichts der Regelung in § 137 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2
SGB III nur noch dazu dienen, die leistungsrechtlichen Folgerungen aus der Änderung
der tatsächlichen Verhältnisse zu ziehen. Deshalb genügt der Hinweis im Merkblatt
nicht dafür, den Schluss auf grob fahrlässige Verletzung einer Mitteilungspflicht
zuzulassen."
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Vor dem Hintergrund dieser Rechtsprechung des BSG ist der erkennende Senat der
Überzeugung, dass auch der von der Beklagten und dem SG hier angesprochene - vom
BSG nicht ausdrücklich erwähnte - Hinweis "ein Lohnsteuerklassenwechsel könne in
der Regel nur einmal jährlich vorgenommen werden und deshalb sei vorher Rat
einzuholen" diesen Anforderungen nicht genügt. So wie dieser Hinweis formuliert ist,
kann er nämlich durchaus auch dahingehend verstanden werden, dass der betreffende
Arbeitslose sich vor einem Lohnsteuerklassenwechsel, da dieser in der Regel (nämlich
nach dem Steuerrecht) nur einmal jährlich möglich ist, auch vor einem Wechsel an das
Finanzamt wenden soll. In diesem Zusammenhang ist auch zu berücksichtigen, dass
der Hinweis nicht unmissverständlich auf die möglichen negativen Folgen eines
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Lohnsteuerklassenwechsels verweist, sondern nur auf den grundsätzlich (nach dem
Steuerrecht) nur einmal jährlich möglichen Lohnsteuerklassenwechsel (so bereits Urteil
des Senats vom 18.02.2004 - L 12 AL 199/03 -; ebenso im Ergebnis: LSG Baden-
Württemberg vom 20.02.2003 - L 12 AL 3653/02 - und vom 19.03.2003 - L 5 AL 4877/02
-; LSG Rheinland-Pfalz vom 23.05.2003 - L 1 AL 154/01 -; LSG Niedersachsen-Bremen
vom 13.11.2003 - L 15 AL 35/02 -).
Entgegen der Auffassung des SG ist die Frage, ob ein Arbeitsloser damit rechnen muss,
dass der Lohnsteuerklassenwechsel negative Auswirkungen auf den
Leistungsanspruch hat, auch im Rahmen des § 48 Abs. 2 Nr. 2 SGB X und nicht nur im
Rahmen der Nr. 4 zu beachten. Der Vorwurf gegenüber dem BSG, es habe die
Voraussetzungen beider Alternativern miteinander vermischt, erscheint daher nicht
gerechtfertigt. Denn bei einer grob fahrlässigen Verletzung der Pflicht des Betroffenen
zur Mitteilung "wesentlicher für ihn nachteiliger Änderungen der Verhältnisse" (§ 48 Abs.
1 S. 2 Nr. 2 SGB X) muss der Schuldvorwurf alle Elemente des Tatbestandes umfassen,
also auch die Nachteiligkeit der Änderung. Der Kläger beruft sich hier auf die fehlende
Kenntnis der Nachteiligkeit eines Lohnsteuerklassenwechsels, was nicht zu widerlegen
ist. Der Vorwurf der groben Fahrlässigkeit ist daher nicht gerechtfertigt, denn ein
Schuldvorwurf, der nur an eine vom ihrem Inhalt losgelöste, formale Mitteilungspflicht
anknüpft, ist weder dem Gesetz zu entnehmen noch lässt er sich mit dem Konzept eines
mündigen Bürgers vereinbaren, der im demokratischen Staat Pflichten gegenüber der
öffentlichen Verwaltung möglichst aufgrund von Einsicht, nicht aufgrund bloßer formaler
Anordnung erfüllen soll (so auch LSG Niedersachsen-Bremen vom 13.11.2003 - L 15
AL 35/02 -).
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Dem Kläger kann ersichtlich auch nicht der Vorwurf gemacht werden, er habe gewusst
oder grob fahrlässig nicht gewusst, dass der sich aus dem Verwaltungsakt ergebende
Anspruch kraft Gesetzes zum Ruhen gekommen oder ganz oder teilweise weggefallen
ist (§ 48 Abs. 1 S. 2 Nr. 4 SGB X). Der Kläger war nicht persönlich informiert worden. Die
Folgen eines Lohnsteuerklassenwechsels waren für den Kläger auch unter
Berücksichtigung der im Merkblatt dargestellten Beispiele und des Inhaltes des
Bewilligungsbescheides nicht ohne weiteres bzw. schon aufgrund einfachster, ganz
nahe liegender Überlegungen erkennbar. Zu keiner anderen Beurteilung führt auch
nach Auffassung des Senats der Lohnsteuerratgeber der Finanzbehörden. Denn dieser
Hinweis der Finanzbehörden kann die Beklagte nicht von ihrer eigenen Beratungspflicht
als originär zuständige Behörde entlasten. Wenn die Beklagte mit dem Merkblatt in
eigener Verantwortung die Leistungsempfänger mit entsprechenden Hinweisen berät,
dann muss sie dies vollständig tun, da insoweit der Leistungsempfänger auch darauf
vertrauen darf, dass gerade die Beklagte als zuständige Behörde ihn auch voll
umfänglich über die Folgen bestimmter Handlungsweisen in ihrem eigenen Bereich,
nämlich der Gewährung von Arbeitslosengeld bzw. Arbeitslosenhilfe, informiert und man
als Leistungsempfänger nicht auf die Hinweise anderer Behörden zurückgreifen muss
(so bereits Urteil des Senats vom 18.02.2004 - Az L 12 AL 199/03 -; LSG Baden-
Württemberg vom 19.03.2003 - L 5 AL 4877/02 -).
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Die Kostenentscheidung folgt aus den §§ 183, 193 SGG.
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Die Revision wird wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen, weil
sich das BSG in seinen Urteilen vom 29.08.2002 nicht mit dem hier von der Beklagten
angeführten weiteren Hinweis im Merkblatt auseinander gesetzt hat, dass "ein
Lohnsteuerklassenwechsel in der Regel nur einmal jährlich vorgenommen werden
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könne und dass deshalb vorher Rat einzuholen" sei. Nach Auffassung des Senats ist
die Frage noch zu klären, ob dieser Hinweis den vom BSG aufgestellten Anforderungen
genügt.