Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 28.01.2008

LSG NRW: vorläufiger rechtsschutz, hauptsache, erfüllung, integration, verwaltungsverfahren, unzumutbarkeit, sozialhilfe, aufenthalt, leib, gesellschaft

Landessozialgericht NRW, L 20 B 85/07 AY ER
Datum:
28.01.2008
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
20. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
L 20 B 85/07 AY ER
Vorinstanz:
Sozialgericht Duisburg, S 2 AY 35/07 ER
Sachgebiet:
Sozialhilfe
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des
Sozialgerichts Duisburg vom 08.11.2007wird zurückgewiesen. Die
Antragsgegnerin hat dem Antragsteller auch die Kosten im
Beschwerdeverfahren zu erstatten. Dem Antragstelller wird für das
Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwältin
E, L-platz 0, F beigeordnet.
Gründe:
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Die Beschwerde ist zulässig aber unbegründet.
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Zu Recht hat das Sozialgericht die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen
Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller die begehrte Leistungen gemäß § 2 Abs. 1
Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) im tenorierten Zeitraum auszuzahlen.
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Nach § 86b Abs. 2 S. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) kann das Gericht der
Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen
Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche
Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint. Der Erlass einer
einstweiligen Anordnung setzt das Bestehen eines Anordnungsanspruchs, d.h. des
materiellen Anspruchs, für den vorläufiger Rechtsschutz begehrt wird, sowie das
Vorliegen eines Anordnungsgrundes, d.h. die Unzumutbarkeit voraus, bei Abwägung
aller betroffenen Interessen die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten.
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Der geltend gemachte Hilfeanspruch (Anordnungsanspruch) und die besonderen
Gründe für die Notwendigkeit der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes
(Anordnungsgrund), die Eilbedürftigkeit sind glaubhaft zu machen (§§ 86b Abs. 2 S. 4
SGG i.V.m. § 920 Abs.2 Zivilprozessordnung [ZPO]). Können ohne den vorläufigen
Rechtsschutz schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen
entstehen, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären, sind die
Erfolgsaussichten in der Hauptsache nicht nur summarisch, sondern abschließend zu
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prüfen. Scheidet eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage aus, ist auf der
Grundlage einer an der Gewährleistung eines effektiven Rechtsschutzes orientierten
Folgenabwägung zu entscheiden. Die grundrechtlichen Belange der Antragsteller sind
dabei umfassend in die Abwägung einzustellen (BVerfG, Beschluss vom 12.05.2005 - 1
BvR 569/05 - NVwZ 2005, 927).
Der Antragsteller hat unter Berücksichtigung dieser Vorgaben sowohl einen
Anordnungsanspruch als auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht.
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Der Anordnungsanspruch folgt aus § 2 Abs. 1 AsylbLG. Hiernach ist das Zwölfte Buch
Sozialgesetzbuch - Sozialhilfe (SGB XII) auf diejenigen Leistungsberechtigen nach dem
AsylbLG entsprechend anzuwenden, die über eine Dauer von insgesamt 48 Monaten
(Gesetzesfassung vor dem 28.08.2007: 36 Monate) Leistungen nach § 3 AsylbLG
erhalten haben und die Dauer ihres Aufenthalts nicht rechtsmissbräuchlich beeinflusst
haben.
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Der Antragsteller hat Leistungen nach § 3 AsylbLG in der Zeit vom 29.11.2001 bis zum
30.11.2004 bezogen. In der Zeit vom 01.12.2004 bis zum 30.09.2007 bezog er - höhere -
Leistungen nach § 2 AsylbLG. Wie das Sozialgericht in dem angefochtenen Beschluss
bereits zutreffend ausgeführt hat, reichen zur Auffüllung der 48-Monats-Frist des § 2 Abs.
1 AsylbLG auch Zeiten des Bezuges von Leistungen nach § 2 AsylbLG aus, so dass der
Antragsteller die 48-Monats-Frist im streitbefangenen Zeitraum bereits deutlich
überschritten hat. Zwar spricht § 2 AsylbLG hinsichtlich der Erfüllung der o.g. Frist
ausdrücklich nur von "Leistungen nach § 3 AsylbLG". Der Senat hat jedoch bereits
entschieden, dass bei der Prüfung des § 2 Abs. 1 AsylbLG dem Sinn und Zweck der
leistungsrechtlichen Priviliegierung in dieser Vorschrift entscheidende Bedeutung
zukommt. Hiernach soll bei Leistungsberechtigten, bei denen aufgrund ihres längeren
Aufenthalts eine stärkere Angleichung an die Lebensverhältnisse in der Bundesrepublik
Deutschland erforderlich ist, Leistungen in entsprechender Höhe wie nach dem SGB XII
erbracht werden (BT-Drucks. 12/5008, S. 15; Wahrendorf in: Grube/Wahrendorf, SGB
XII, 2. Auflage 2008, § 2 Rn. 1). Der Gesetzgeber geht damit bei Leistungsberechtigten
nach dem AsylbLG im Regelfall davon aus, dass nach Ablauf von 48 Monaten des
Bezuges niedrigerer Leistungen nach § 3 AsylbLG ein Wirtschaften unterhalb des sog.
soziokulturellen Existenzminimums (welches etwa mit Leistungen nach dem SGB XII
bzw. mit Leistungen nach § 2 AsylbLG gewährt wird) nicht mehr zumutbar erscheint (vgl.
auch Beschluss des Senates vom 06.08.2007, L 20 B 50/07 AY ER ). Gerade das
Integrationsbedürfnis, zu dessen Befriedigung auch ausreichende wirtschaftliche
Leistungen in Höhe des soziokulturellen Existenzminimums gehören, gebietet es,
höhere Leistungen zu gewähren, wenn der Ausländer über einen mindestens 48-
monatigen Zeitraum seinen Lebensunterhalt mit Leistungen nach § 3 AsylbLG oder
jedenfalls aus Mitteln nicht oberhalb des soziokulturellen Existenzminimums bestritten
hat. Entsprechend hat der Senat entschieden, dass auch Leistungen nach dem bis zum
31.12.2004 geltenden Bundessozialhilfegesetz (BSHG) zur Erfüllung der o.g. Frist des §
2 AsylbLG ausreichend waren (Beschluss des Senates vom 27.04.2006, L 20 B 10/06
AY ER). Dann aber kann für Leistungen in entsprechender Höhe nach § 2 AsylbLG
nichts anderes gelten.
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Soweit die Antragsgegnerin in ihrem Widerspruchsbescheid vom 27.09.2007 von einer
Einzelfallentscheidung des Landessozialgerichts NRW spricht, übersieht sie, dass
bereits mehrere Beschlüsse des erkennenden Senates ergangen sind, in denen zur
gesetzgeberischen Intention bei Schaffung des § 2 AsylbLG und den sich hieraus
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ergebenden Konsequenzen Stellung genommen worden ist. Insbesondere ist dabei
auch mehrfach bekräftigt worden, dass Sozialleistungen in der Höhe der BSHG- bzw.
SGB XII-Leistungen ausreichen können, um die Wartefrist des § 2 Abs. 1 AsylbLG zu
erfüllen (LSG NRW, Beschlüsse des erkennenden Senates vom 26.04.2007, L 20 B
4/07 AY ER, vom 06.08.2007, L 20 B 50/07 AY ER, vom 27.04.2006, L 20 B 10/06 AY
ER, ebenso Hessisches LSG, Beschluss vom 21.03.2007, L 7 AY 14/06 ER, SG
Aachen, Urteil v. 19.06.2007, S 20 AY 4/07).
Soweit die Antragsgegnerin im Eilverfahren erstmals geltend macht, der Antragsteller
habe die Aufenthaltsdauer rechtsmißbräuchlich selbst verursacht i.S.d. § 2 Abs. 1
AsylbLG und könne aus diesem Grunde keine höheren Leistungen nach § 2 AsylbLG
beanspruchen, so kann dem nach der im Eilverfahren allein möglichen summarischen
Überprüfung der Sachlage nicht ohne weiteres gefolgt werden. Hierzu fehlt es an
ausreichenden Feststellungen, die zweckmäßigerweise bereits im
Verwaltungsverfahren hätten getroffen werden sollen und hier ersichtlich unterblieben
sind. Selbst in einem Aktenvermerk vom 30.08.2007 hat die Antragsgegnerin noch
lediglich von einer "evtl. Rechtsmißbräuchlichkeit" gesprochen und auch im
Widerspruchsbescheid vom 27.09.2007 darauf verzichtet, Tatsachen darzustellen, die
auf ein rechtsmissbräuchliches Verhalten des Antragstellers schließen lassen. Soweit
die Antragsgegnerin erstmals im Schriftsatz vom 29.10.2007 darauf abhebt, das
rechtsmissbräuchliche Verhalten des Antragstellers sei bereits in der Unterlassung zu
sehen, auszureisen, obwohl ihm dies möglich und zumutbar gewesen sei, und sich
dabei auf die Entscheidungen des Bundessozialgerichts vom 08.02.2007 beruft (B 9b
AY 1/06 und B 9b AY 2/06), so übersieht sie, dass das Bundessozialgericht in den
zitierten Urteilen auch Ausführungen zu einer etwaigen Unzumutbarkeit der Ausreise
aufgrund solcher Gesichtspunkte unterbreitet hat, die weniger gewichtig sind als die
Gefahr für Freiheit, Leib und Leben aufgrund zielstaatsbezogener Umstände.
Insbesondere hat das Bundessozialgericht hervorgehoben, dass als Bleibegrund, der
der Bewertung des Verhaltens des Ausländers als rechtsmissbräuchlich
entgegenstehen könnte, auch die besondere Situation von Ausländern angesehen
werden kann, denen sich die Ausreisemöglichkeit erst nach jahrelangem Aufenthalt in
Deutschland eröffnet hat und die sich in die deutsche Gesellschaft und die hiesigen
Lebensverhältnisse integriert haben. An der Integration kann man zwar im Falle des
Antragstellers deshalb Zweifel hegen, weil er im Wiederholungsfall wegen
Eigentumsdelikten Geldstrafen verwirkt hat; es fehlen jedoch ausreichende
Feststellungen und Abwägungen hierzu im Verwaltungsverfahren, die die
Antragsgegnerin ggf. nachzuholen hätte. Dabei dürfte in die Abwägung auch
einzubeziehen sein, dass der Antragsteller in erheblichem Umfang
Arbeitsgelegenheiten wahrgenommen hat, ohne hiergegen nach Aktenlage
erkennbaren Widerstand zu leisten, und die letzte aktenkundige Straftat, die am
07.12.2006 erfolgte, nunmehr über ein Jahr zurückliegt. Unter Umständen könnte auch
eine Prüfung der sprachlichen Fähigkeiten des Antragstellers Rückschlüsse auf das
Ausmaß der Integration in Deutschland zulassen. Bei ihrer Entscheidung wird die
Antragsgegnerin zu beachten haben, dass der Antragsteller zwar die in seinen
Verhältnissen liegenden Bleibegründe darzulegen hat, der Antragsgegnerin jedoch die
Nichterweislichkeit von Rechtsmißbrauch zur Last fällt, weil es sich hierbei materiell um
eine anspruchsauschließende Einwendung handelt (BSG, Urteil v. 08.02.2007, B 9b AY
1/06 R). Erforderlich ist daher, dass sich die Antragsgegnerin mit den vom Antragsteller
angesprochenen Ausreisehindernissen hinreichend konkret auseinandersetzt und die
Feststellung einer etwaigen Rechtsmißbräuchlichkeit auf eine hinreichend tragfähige
tatsächliche Grundlage stützt.
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Der Anordnungsgrund ergibt sich bereits daraus, dass die Antragsgegnerin dem
Antragsteller im angefochtenen Bescheid vom 04.09.2007 nur Leistungen unterhalb des
soziokulturellen Existenzminimums zur Verfügung stellen will.
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Die Kostenentscheidung beruht auf einer analogen Anwendung des § 193 SGG.
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Prozeßkostenhilfe war auch für das Beschwerdeverfahren zu gewähren, weil der
Antragsteller die Kosten seines Bevollmächtigten nicht selbst tragen, seinem Begehren
eine hinreichende Erfolgsaussicht nicht abgesprochen werden kann und er im
erstinstanzlichen Verfahren im wesentlichen obsiegt hat (§ 73a SGG, §§ 114 Abs. 1, 119
Abs. 1 Satz 2 ZPO.)
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Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde anfechtbar (§ 177 SGG).
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