Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 21.12.2009

LSG NRW (aufschiebende wirkung, unwirksamkeit der kündigung, wirkung, anordnung, antrag, sgg, wohnung, beschwerde, rechtsschutz, ablehnung)

Landessozialgericht NRW, L 19 B 276/09 AS ER
Datum:
21.12.2009
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
19. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
L 19 B 276/09 AS ER
Vorinstanz:
Sozialgericht Düsseldorf, S 39 AS 67/09 ER
Sachgebiet:
Grundsicherung für Arbeitssuchende
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des
Sozialgerichts Duisburg vom 12.08.2009 dahin geändert, dass der
Antragstellerin unter Beiordnung von Rechtsanwalt I ab dem 28.04.2009
für das erstinstanzliche Verfahren Prozesskostenhilfe bewilligt wird. Die
weitere Beschwerde wird zurückgewiesen. Kosten des
Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe:
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Die Antragsgegnerin bewilligte der Antragstellerin Grundsicherungsleistungen für
Erwerbsfähige nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) mit Bescheid vom
26.03.2009 für die Zeit vom 10.02. bis 31.07.2009. Aufgrund wiederholter
Meldeversäumnisse hob die Antragsgegnerin mit Bescheid vom 07.04.2009 die
Bewilligung ab dem 01.05.2009 auf, weil unklar sei, wo sich die Antragstellerin zur Zeit
aufhalte und wovon sie ihren Lebensunterhalt bestreite.
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Die Antragstellerin hat am 28.04.2009 beim Sozialgericht (SG) Düsseldorf beantragt, die
Antragsgegnerin vorläufig zu verpflichten, Leistungen zur Sicherung des
Lebensunterhalts zu gewähren. Sie hat geltend gemacht, sich aufgrund ihres schlechten
physischen und psychischen Gesundheitszustandes bei ihrer Tochter, die wie die
Antragstellerin in E wohnt, aufgehalten zu haben und einmal wöchentlich den
Briefkasten ihrer Wohnung kontrolliert zu haben. Unter diesen Umständen könne ihr
nicht der Vorwurf der Nichterreichtbarkeit gemacht werden.
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Mit Beschluss vom 12.08.2009 hat das SG den Antrag sowie Prozesskostenhilfe
abgelehnt.
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Die Beschwerde gegen die Ablehnung der Prozesskostenhilfe ist zulässig und
begründet.
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Die Beschwerde gegen die Ablehnung des Anordnungsantrags ist ebenfalls zulässig,
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jedoch nicht begründet.
Das SG hat das einstweilige Rechtsschutzbegehren zu Unrecht als Antrag auf Erlass
einer Regelungsanordnung gemäß § 86 Abs. 2 S. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG)
gewertet, wonach einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustands
im Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig sind, wenn eine solche Regelung
zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Auch wenn dies dem schriftlich
gestellten Antrag der anwaltlichen vertretenen Antragstellerin entsprach - vorläufige
Verpflichtung der Antragsgegnerin, Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts zu
gewähren -, ist dieser dahin auszulegen, dass die aufschiebende Wirkung des
Widerspruch gegen den Einstellungs-/ Aufhebungsbescheid der Antragsgegnerin vom
07.04.2009 begehrt worden ist. Mit diesem Bescheid hat die Antragsgegnerin in die
Leistungsbewilligung vom 26.03.2009 - die dem SG allerdings nicht vorlag -
eingegriffen. Gegen derartige Eingriffsakte ist einstweiliger Rechtsschutz aber nach §
86b Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGG zu gewähren, wonach in den Fällen, in denen Widerspruch
oder Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende
Wirkung ganz oder teilweise auf Antrag durch das Gericht angeordnet werden kann.
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Der Widerspruch der Antragstellerin, der jedenfalls konkludent in dem Antrag auf
einstweiligen Rechtsschutz liegt, gegen den Bescheid vom 07.04.2009 entfaltet gemäß
§ 39 Nr. 1 SGB II keine aufschiebende Wirkung, weil durch diesen Verwaltungsakt
Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende aufgehoben worden sind. Die
Anordnung der aufschiebenden Wirkung richtet sich - anders als bei der vom SG
geprüften Regelungsanordnung nach 86b Abs. 2 S. 2 SGG - in erster Linie nach dem
Grad der Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit des angefochtenen Eingriffsbescheides
und den daraus folgenden Erfolgsaussichten der Klage im Hauptsacheverfahren (vgl.
Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl., § 86b Rn. 12 f.).
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Der Bescheid vom 07.04.2009 erweist sich weder als offenkundig rechtmäßig noch als
offensichtlich rechtswidrig.
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Da nach den aktenkundigen Vorgängen und den Erklärungen der Antragstellerin davon
auszugehen ist, dass ihre Erreichbarkeit, auf deren Fehlen allein die angefochtene
Entscheidung der Antragsgegnerin gestützt worden ist, schon bei Erlass des
Bewilligungsbescheides vom 26.03.2009 gefehlt hat, durfte die Aufhebung der
Leistungsbewilligung nur unter den Voraussetzungen des § 45 SGB X erfolgen. Danach
darf, soweit ein Verwaltungsakt, der ein Recht oder ein rechtlich-erheblichen Vorteil
begründet oder bestätigt hat (begünstigender Verwaltungsakt), rechtswidrig ist, dieser,
auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, nur unter den Einschränkungen der Abs. 2
bis 4 ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit
zurückgenommen werden (§ 45 Abs. 1 SGB X). Insoweit ist zunächst offen, ob die
fehlende tägliche Erreichbarkeit der Antragstellerin unter ihrer Wohnanschrift zur
Rechtswidrigkeit der Leistungsbewilligung geführt hat.
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Nach § 7 Abs. 4a SGB II erhält Leistungen nicht, wer sich ohne Zustimmung des
persönlichen Ansprechpartners außerhalb des in der Erreichbarkeits-Anordnung (EAO)
vom 23. Oktober 1997 (ANBA 1997, 1685), geändert durch Anordnung vom 16.
November 2001 (ANBA 2001, 1476), definierten zeit- und ortsnahen Bereiches aufhält;
die übrigen Bestimmungen dieser Anordnung gelten entsprechend. Die Antragstellerin
hat sich nach ihren Angaben, die auch von der Antragsgegnerin nicht in Zweifel
gezogen werden, im streitigen Zeitraum nicht in ihrer Wohnung, wohl aber im
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Nahbereich des Behördensitzes der Antragsgegnerin aufgehalten. Dieser umfasst alle
Orte, von denen der Leistungsempfänger die Behörde täglich ohne unzumutbaren
Aufwand erreichen kann (vgl. Hänlein in Gagel, SGB II III, § 7 SGB II Rn. 84b). Dies ist
hier nicht zweifelhaft, da auch die Wohnung der Tochter, bei der sich die Antragstellerin
aufgehalten hat, in E liegt.
Verstoßen hat die Antragstellerin allerdings gegen die Pflicht aus § 1 S. 2 EAO, wonach
der Leistungsempfänger sicherzustellen hat, dass die ARGE ihn persönlich an jedem
Werktag an seinem Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt unter der von ihm
benannten Anschrift (Wohnung) durch Briefpost erreichen kann. Es jedoch umstritten
und in der Rechtsprechung bisher nicht hinreichend geklärt, ob ein solcher Verstoß zum
Fortfall des Leistungsanspruchs führt (bejahend Hackethal in jurisPK-SGB II, § 7 Rn. 56;
Brühl/Schoch in LPK-SGB II, 3. Aufl., § 7 Rn. 111; ablehnend Eicher/Spellbrink, SGB II,
2. Aufl., § 7 Rn. 80; kritisch auch Winkler, info also 2007, 3, 7; offengelassen von LSG
NRW Beschl. v. 12.01.2009 - L 20 B 135/08 AS = www.juris.de Rn. 6 ff.).
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Des Weiteren steht - sofern die Rechtswidrigkeit der Leistungsbewilligung zu bejahen
ist - die Rücknahmeentscheidung nach § 45 Abs. 1 SGB X im Ermessen der Behörde
(darf zurückgenommen werden), sofern nicht ein schuldhaftes handeln des
Leistungsempfängers im Sinne des § 45 Abs. 2 S. 3 SGB X vorliegt (§ 40 Abs. 1 Nr. 1
SGB II iVm § 330 SGB III). Ob Letzteres der Fall ist, kann insbesondere unter
Berücksichtigung des Gesundheitszustandes der Antragstellerin hier ebenfalls nicht
abschließend festgestellt werden.
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Sind demnach die Erfolgsaussichten in einer Klage im Hauptsacheverfahren offen, sind
die Folgen abzuwägen, die ohne die begehrte Anordnung eintreten (vgl. Meyer-
Ladewig/ Keller/Leitherer, aaO). Diese bewertet der Senat zum Zeitpunkt seiner
Entscheidung aber dergestalt, dass der Antragstellerin ohne den begehrten
einstweiligen Rechtsschutz derzeit keine wesentlichen Nachteile drohen, die die
Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihres Widerspruchs gebieten.
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Dies folgt zum einen daraus, dass die Antragstellerin seit Juli 2009 wieder Leistungen
von der Antragsgegnerin erhält, so dass ihr Lebensunterhalt gesichert ist. Zum anderen
könnte die rückwirkende Auszahlung der bis Juli 2009 bewilligten Leistungen
einschließlich der Kosten der Unterkunft den Verlust der Wohnung der Antragstellerin
nicht mehr verhindern. Nach ihren Angaben vor dem Urkundsbeamten des SG ist die
Klage gegen die Kündigung ihrer Wohnung erfolglos geblieben und die
Räumungsklage bereits längerfristig anhängig (drohender Räumungstitel). Unter diesen
Umständen führt die nachträgliche Zahlung des Mietzinses aber nicht mehr zur
Unwirksamkeit der Kündigung (vgl. §§ 543 Abs. 2 S. 1 Nr. 3, 569 Abs. 3 Nr. 2
Bürgerliches Gesetzbuch - BGB -). Bei dieser Sachlage sind keine wesentlichen
Nachteile mehr ersichtlich, die eine Entscheidung zugunsten der Antragstellerin
erforderlich machen.
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Dagegen hat sich die Rechtslage im Zeitpunkt der Antragstellung beim SG anders
dargestellt, da weder Leistungen durch die Antragsgegnerin gezahlt wurden noch der
Räumungsanspruch des Vermieters unabwendbar erschien. Daher hat der Antrag
hinreichende Aussicht auf Erfolg im Sinne der §§ 73a Abs. 1SGG, 114
Zivilprozessordnung (ZPO) geboten, so dass der Antragstellerin, die über keine
hinreichende Mittel verfügt, ratenfreie Prozesskostenhilfe unter Abänderung der
angefochtenen Entscheidung des SG zu bewilligen ist.
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Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
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Die Nichterstattungsfähigkeit der Kosten bezüglich der Beschwerde gegen die
Ablehnung der Prozesskostenhilfe folgt aus einer entsprechenden Anwendung des §
127 Abs. 4 ZPO.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).
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