Urteil des LSG Niedersachsen-Bremen vom 24.09.2003

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Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urteil vom 24.09.2003 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Stade S 1 KR 77/99 WA
Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen L 4 KR 204/00
Das Urteil des Sozialgerichts Stade vom 26. Juni 2000 und der Bescheid der Beklagten vom 15. Juli 1999 in der
Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. November 1999 werden geändert. Der Gerichtsbescheid des
Sozialgerichts Stade vom 29. November 2000 und der Bescheid der Beklagten vom 29. Februar 2000 in der Gestalt
des Widerspruchsbescheides vom 20. Juli 2000 werden aufgehoben. Die Beklagte wird verurteilt, den Kläger
hinsichtlich der Behandlungen vom 14. bis 28. September 1999 und vom 28. März bis 11. April 2000 neu zu
bescheiden. Im Übrigen werden die Berufungen zurückgewiesen. Die Beklagte hat dem Kläger seine
außergerichtlichen Kosten in beiden Rechtszügen zu einem Viertel zu erstatten. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Der Rechtsstreit betrifft die Kostenübernahme für die Behandlung nach der Methode Dr. Kozijavkin in der Ukraine.
Der im Juli 1978 geborene Kläger ist freiwillig versichertes Mitglied der Beklagten. Er wurde in der 28.
Schwangerschaftswoche mit deutlichem Untergewicht geboren. Er leidet an Infantiler Zerebralparese (ICP) mit
Bewegungsstörungen im Sinne einer spastischen Tetraplegie und einer massiven statomotorischen Retardierung. Er
ist schwerbehindert mit einem Grad der Behinderung von 100; zu seinen Gunsten sind die Nachteilsausgleiche "aG",
"H" und "RF" festgestellt.
Vom 29. November bis 11. Dezember 1993 wurde der Kläger erstmals im Institut Dr. Kozijavkin in der Ukraine
behandelt. Eine zweite Behandlung erfolgte vom 28. März bis 9. April 1994. Die Beklagte lehnte die Übernahme der
entstandenen Kosten für beide Behandlungen ab. Der Kläger erhob hiergegen Klage, die das Sozialgericht Stade (SG)
mit Gerichtsbescheid vom 23. Mai 1995 abwies (S 1 Kr 51/94). Die Berufung war hinsichtlich des ersten
Behandlungszeitraums wegen verspäteter Antragstellung erfolglos. Hinsichtlich der Behandlung vom 28. März bis 9.
April 1994 verurteilte der erkennende Senat die Beklagte, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des
Senats neu zu bescheiden. Im Übrigen wurde die Berufung zurückgewiesen (Landessozialgericht - LSG -
Niedersachsen, Urteil vom 17. Juni 1998 - L 4 KR 82/95). Die hiergegen von der Beklagten erhobene
Nichtzulassungsbeschwerde zum Bundessozialgericht (BSG) war erfolglos (Beschluss vom 24. Februar 1999 - B 1
KR 36/98 B). Die Beklagte übernahm daraufhin für den zweiten Behandlungszeitraum vom 28. März bis 9. April 1994
die angefallenen Behandlungs-, Sanatoriums- und Reisekosten in Höhe von insgesamt 8.874,00 DM.
Inzwischen hatte sich der Kläger erneut in der Zeit vom 16. bis 30. Oktober 1994 in die Behandlung bei Dr. Kozijavkin
begeben. Den diesbezüglichen Antrag auf Kostenübernahme lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 15. November
1994 ab. Hiergegen hat der Kläger am 20. April 1995 Klage vor dem SG Stade erhoben (S 1 Kr 39/95). Auf Antrag der
Beteiligten hat das SG das Ruhen des Verfahrens angeordnet. Es hat das Verfahren am 6. Mai 1999 unter dem
Aktenzeichen: S 1 KR 77/99 WA fortgeführt.
Während dessen hat sich der Kläger wiederholt im Institut Dr. Kozijavkin behandeln lassen, und zwar vom 1. bis 15.
Oktober 1995, vom 22. Juni bis 7. Juli 1996, vom 16. bis 30. März 1997, vom 9. bis 23. Oktober 1997, vom 26. Mai
bis 9. Juni 1998, vom 15. bis 29. März 1999 und vom 14. bis 28. September 1999. Die Anträge auf Kostenübernahme
hat die Beklagte mit Bescheiden vom 15. November 1994, 11. September 1995, 6. Februar 1996, 7. April 1999, 15.
Juli 1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. November 1999 abgelehnt. Die Bescheide sind nach §
96 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) Gegenstand des Klageverfahrens (S 1 KR 77/99 WA) geworden.
Mit Urteil vom 26. Juni 2000 (S 1 KR 77/99 WA) hat das SG die Klage auf Aufhebung der Bescheide der Beklagten
und Übernahme der Behandlungskosten für sämtliche Zeiträume abgewiesen. Ein Anspruch des Klägers auf
Kostenübernahme nach § 18 Abs. 1 Fünftes Sozialgesetzbuch (SGB V) bestehe nicht. Denn die Therapie Dr.
Kozijavkin entspreche nicht dem allgemein anerkannten Stand medizinischer Erkenntnisse. Es lägen zwar Berichte
über Behandlungserfolge im Einzelnen vor. Jedoch sei die Erfolgsrate mangels vergleichender Effektivitätsstudien
nicht objektivierbar. Hiergegen hat der Kläger am 20. September 2000 Berufung beim LSG eingelegt (L 4 KR 204/00).
Zuvor hatte sich der Kläger in der Zeit vom 28. März bis 11. April 2000 wiederum bei Dr. Kozijavkin behandeln lassen.
Auch für diese Behandlung lehnte die Beklagte eine Kostenübernahme ab (Bescheid vom 29. Februar 2000 in der
Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. Juli 2000). Die hiergegen am 15. August 2000 erhobene Klage (S 1 KR
113/00) hat das SG mit Gerichtsbescheid vom 29. November 2000 abgewiesen. Gegen diesen ihm am 9. Dezember
1999 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 7. Januar 2001 Berufung eingelegt (L 4 KR 2/01).
Mit Beschluss vom 12. Februar 2001 hat der Senat das Verfahren: L 4 KR 2/01 mit dem Verfahren: L 4 KR 204/00 zur
gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung unter dem führenden Aktenzeichen: L 4 KR 204/00 verbunden.
Im Laufe des Berufungsverfahrens hat der Kläger zahlreiche Unterlagen zu den Akten gereicht. Er meint, dass sich
das SG zur Begründung seiner Ansicht zu Unrecht auf das Urteil des BSG vom 16. Juni 1999 bezogen habe. Denn
das Urteil des BSG vom 16. Juni 1999 sei in seinem Fall nicht einschlägig. Es stütze sich auf eine Beweiserhebung
in einem vom LSG Schleswig Holstein entschiedenen Verfahren. Die Voraussetzungen des § 18 Abs. 1 SGB V lägen
vor. Die Methode Dr. Kozijavkin sei medizinisch allgemein anerkannt. In Deutschland stünden für ihn - den Kläger -
keine ausreichenden Behandlungsmöglichkeiten zur Verfügung.
In der mündlichen Verhandlung vor dem erkennenden Senat hat sich die Beklagte bereit erklärt, die Kosten der dritten
Behandlung des Klägers bei Dr. Kozijavkin in der Zeit vom 16. bis 30. Oktober 1994 zu übernehmen, weil sie
bezüglich dieser Behandlung eine schriftliche Zusage erteilt habe. Der Kläger hat dieses Teilanerkenntnis
angenommen.
Der Kläger beantragt,
1.das Urteil des Sozialgerichts Stade vom 26. Juni 2000 und den Gerichtsbescheid vom 29. November 2000 sowie
die Bescheide der Beklagten vom 11. September 1995, 6. Februar 1996, 7. April 1999, 15. Juli 1999 in der Gestalt
des Widerspruchsbescheides vom 23. November 1999 und den Bescheid der Beklagten vom 29. Februar 2000 in der
Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. Juli 2000 aufzuheben,
2.die Beklagte zu verurteilen, die aus Anlass der ärztlichen Behandlung durch Dr. Kozijavkin während der Zeiträume
vom 1. bis 15. Oktober 1995, vom 22. Juni bis 7. Juli 1996, vom 16. bis 30. März 1997, vom 9. bis 23. Oktober 1997,
vom 26. Mai bis 9. Juni 1998, vom 15. bis 29. März 1999, vom 14. bis 28. September 1999 und vom 28. März bis 11.
April 2000 entstandenen Kosten zu erstatten,
3.hilfsweise, die Beklagte zu verurteilen, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu
bescheiden.
Die Beklagte beantragt,
die Berufungen zurückzuweisen.
Sie hält die angefochtenen Urteile für zutreffend.
Der Senat hat im Parallelverfahren vor dem LSG Niedersachsen-Bremen: L 4 KR 46/01 Gutachten eingeholt und in
das vorliegende Verfahren eingeführt. Es handelt sich um das Gutachten des Chefarztes der Städtischen Klinik für
Kinder- und Jugendmedizin Braunschweig und Präsidenten der Deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde und
Jugendmedizin e.V. Prof. Dr. C. vom 8. April 2002, um das Gutachten des Chefarztes der Klinik für Manuelle
Therapie e.V. in Hamm Dr. D. vom 24. Mai 2002 und um das Gutachten des Ärztlichen Direktors im Kinderzentrum
München und Vorstands des Instituts für Soziale Pädiatrie und Jugendmedizin der Ludwig-Maximilians-Universität
München Prof. Dr. Dr. E. vom 6. August 2002 jeweils nebst Anlagen.
Zahlreiche vom Kläger überreichte Unterlagen und die Verwaltungsakten der Beklagten haben mit den Prozessakten
vorgelegen und sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen. Wegen der Einzelheiten des Sachverhaltes
und des Vortrages der Beteiligten wird auf diese Akten verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufungen des Klägers sind zulässig.
Sie sind teilweise begründet.
Dem Kläger steht kein Anspruch auf Verurteilung der Beklagten zur Übernahme der Kosten zu, die anlässlich seiner
Behandlung durch Dr. Kozijavkin in der Ukraine entstanden sind. Er hat aber Anspruch auf Neubescheidung, und zwar
nur hinsichtlich seiner beiden Behandlungen im September 1999 und im März/April 2000.
Ein Anspruch auf Verurteilung der Beklagten zur Kostenübernahme ergibt sich nicht aus zwischenstaatlichem Recht.
Denn zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Ukraine bestehen keine Vereinbarungen über die Gewährung
von Krankenversicherungsleistungen.
Es besteht auch kein Anspruch auf Verurteilung der Beklagten zur Kostenübernahme nach deutschem Recht.
Nach § 16 Abs. 1 Nr. 1 SGB V in Verbindung mit Europäischem Gemeinschaftsrecht ruht ein Anspruch auf
Leistungen aus der deutschen Krankenversicherung, solange sich ein Versicherter im Ausland aufhält, das nicht zum
Vertragsgebiet der Europäischen Union (EU) gehört. Die Ukraine ist kein Mitgliedsstaat der EU. Ansprüche des
Klägers nach dem SGB V haben während seiner Aufenthalte in der Ukraine daher grundsätzlich geruht.
Eine Ausnahme hiervon besteht für den Anspruch des Klägers auf Verurteilung der Beklagten zur Kostenübernahme
nicht. Zwar hat der Gesetzgeber in § 18 SGB V von dem grundsätzlichen Ruhen eines Leistungsanspruches bei
Auslandsaufenthalt Ausnahmen vorgesehen. § 18 SGB V gewährt jedoch lediglich Ermessensleistungen. Der Kläger
hat daher keinen Rechtsanspruch auf Leistungsgewährung.
Er hat nach § 18 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 SGB V lediglich einen Anspruch auf Neubescheidung durch die Beklagte.
Dieser Anspruch besteht allerdings nicht für sämtliche streitbefangenen Behandlungen des Klägers. Ein
Neubescheidungsanspruch ist lediglich für die Behandlungen in der Zeit vom 14. bis 28. September 1999 und vom 28.
März bis 11. April 2000, nicht aber für die Behandlungen von Oktober 1995 bis März 1999 begründet.
Die Frage, ob die Methode Dr. Kozijavkin die Voraussetzungen des § 18 Abs. 1 Satz 1 SGB V erfüllt, war bereits
Gegenstand höchstrichterlicher Rechtsprechung. Das BSG hat in seinem Urteil vom 14. Februar 2001 (B 1 KR 29/00
R in SozR 3-2500 § 18 Nr. 6) entschieden, dass die Behandlungsmethode Dr. Kozijavkin bis einschließlich August
1999 nicht dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse im Sinne des § 18 Abs. 1 Satz 1 SGB
V entsprochen hat. Nach Ansicht des BSG war die Methode bis zu diesem Zeitpunkt wissenschaftlich nicht
anerkannt. Das Therapiekonzept von Dr. Kozijavkin sei in den seinerzeit verfügbaren Äußerungen deutscher
Wissenschaftler und sozialpädiatrischer Ärzte überwiegend skeptisch bis ablehnend beurteilt worden. Das könne sich
jedoch geändert haben, nachdem das Behandlungskonzept Dr. Kozijavkin und die mit dieser Methode erzielten
Ergebnisse auf der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde und Jugendmedizin im September
1999 einem Fachpublikum vorgestellt und veröffentlicht worden seien. Damit ist höchstrichterlich entschieden, dass
die Tatbestandsvoraussetzungen des § 18 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 SGB V für Behandlungen bei Dr. Kozijavkin bis
August 1999 nicht erfüllt sind. Der Kläger hat daher für seine Behandlungen bis März 1999 keinen Anspruch auf
Neubescheidung.
Ihm steht aber ein Anspruch auf Neubescheidung nach § 18 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 SGB V für die Behandlungen vom
14. bis 28. September 1999 und vom 28. März bis 11. April 2000 zu.
Nach § 18 Abs. 1 Satz 1 SGB V kann die Krankenkasse die Kosten der erforderlichen Behandlung im Ausland ganz
oder teilweise übernehmen, wenn eine dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse
entsprechende Behandlung einer Krankheit nur im Ausland möglich ist. Liegen diese Voraussetzungen vor, kann die
Krankenkasse darüber hinaus weitere Kosten für den Versicherten und für eine erforderliche Begleitperson ganz oder
teilweise übernehmen (§ 18 Abs. 2 SGB V). Nach der Rechtsprechung des BSG entspricht eine Behandlungsmethode
dann dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse, wenn sie nicht nur von einzelnen Ärzten,
sondern von der großen Mehrheit der einschlägigen Fachleute, also von Ärzten und Wissenschaftlern, befürwortet
wird. Von einzelnen, nicht ins Gewicht fallenden Gegenstimmen abgesehen muss über die Zweckmäßigkeit der
Therapie Konsens bestehen (BSG, Urteil vom 14. Februar 2001, aaO). Dem schließt sich der erkennende Senat
grundsätzlich an.
Die Methode Dr. Kozijavkin entspricht ab September 1999 dem allgemein anerkannten Stand der medizinischer
Erkenntnisse im Sinne des § 18 Abs. 1 Satz 1 SGB V.
Aufgrund des Gutachtens des Ärztlichen Direktors im Kinderzentrum München und Vorstands des Instituts für Soziale
Pädiatrie und Jugendmedizin der Ludwig-Maximilians-Universität München Prof. Dr. Dr. E. vom 6. August 2002 und
des Gutachtens des Chefarztes der Klinik für Manuelle Therapie e.V. in Hamm F. vom 22. April 2002 hat der Senat
die Überzeugung gewonnen, dass die Behandlungsmethode Dr. Kozijavkin von der großen Mehrheit der einschlägigen
Fachleute, insbesondere von Ärzten und Krankengymnasten, befürwortet wird. Der gegenteiligen Ansicht im
Gutachten des Chefarztes der Städtischen Klinik für Kinder- und Jugendmedizin in Braunschweig und Präsidenten der
Deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde und Jugendmedizin e.V. Prof. Dr. C. vom 8. April 2002 vermag sich der
Senat nicht anzuschließen.
Die Therapie Dr. Kozijavkin ist eine Methode zur Behandlung der ICP. Die Folgen dieser Erkrankung können
gravierend und progredient sein, z.B. spastische Lähmungen, pathologische Mitbewegung, Synergien,
Intelligenzminderung, Verzögerung der Sprachentwicklung, Seh- und Sensibilitätsstörungen (Psychrembel, Klinisches
Wörterbuch, 259. Aufl. 2002, S. 1813 f.) Wie der Sachverständige Prof. Dr. Dr. E. in seinem Gutachten überzeugend
dargestellt hat, fehlen eindeutige Kenntnisse zur Grundproblematik, insbesondere zu den Ursachen der ICP. Es wird
angenommen - so der Sachverständi- ge -, dass die ICP durch eine Schädigung der kindlichen Entwicklung in einer
sehr frühen Phase (vor allem intrauterin) verursacht wird. Während bislang angenommen wurde, dass ausschließlich
das Gehirn der Ort der Schädigung ist, richtet sich das Interesse zunehmend auf das Rückenmark, weil z.B.
Mikrozirkulationsstörungen, Sauerstoffunterversorgung, Azidose nicht nur das Zentralnervensystem, sondern auch
das Rückenmark schädigen können.
Da die Ursachen der ICP nicht eindeutig bekannt sind, ist eine Behandlung der Patienten mit ICP schwierig. In der
Vergangenheit wurden vor allem Krankengymnastik nach Vojta und nach Bobath sowie Ergotherapie angewandt.
Inzwischen ist neben der Konduktiven Förderung nach Petö auch die Methode Dr. Kozijavkin hinzugekommen, wie
der Sachverständige Prof. Dr. Dr. E. ausführt. Für keine der genannten Methoden liegen nach den Bekundungen des
Sachverständigen Langzeit- oder Effektivitätsstudien vor. Gleichwohl sind die Krankengymnastik nach Vojta und nach
Bobath sowie die Ergotherapie in der Fachwelt seit langem allgemein anerkannt. Sie werden auf Kosten der
gesetzlichen Krankenversicherung gewährt.
Die Methode Dr. Kozijavkin beruht auf einem multimodalen Behandlungskonzept. Therapieelemente sind nach Prof.
Dr. Dr. E. vor allem: die Manualtherapie mit der Wirbelsäulen-Deblockierung (im Gegensatz zur Rotation der
klassischen Manualtherapie nicht nach ventral vorn, sondern in der Rotation nach dorsal über den obersten Punkt des
vorderen knöchernen Beckenhöhepunktes); die Gelenktherapie mit dem Ziel der Lockerung von Versteifungen und
Verkürzungen durch Fibrilieren; die Reflextherapie zur Aufhebung von Muskelverhärtungen und Versteifungen, zur
besseren Durchblutung etc.; die Krankengymnastik für die Entwicklung eines eigenen Modus von Körperkontrolle und
Fortbewegung; die Massage mit dem Ziel der Verbesserung von Muskel(ver)spannungen; die Musiktherapie zur
Koordination und Synchronität der eigenen Bewegung etc. und die Bienenwachstherapie.
Aufgrund der Beweiserhebung hat der erkennende Senat die Überzeugung gewonnen, dass die Methode Dr.
Kozijavkin inzwischen von der Mehrheit der Fachleute befürwortet wird, weil sie für die Behandlung der Folgen der ICP
zweckmäßig und wirksam ist.
Die Akzeptanz der Methode Dr. Kozijavkin in der Fachwelt, bei Ärzten und Ärztinnen sowie bei Krankengymnasten
und Krankengymnastinnen ist kontinuierlich gestiegen. Sie nimmt von Jahr zu Jahr weiter zu. Das haben die
Sachverständigen Prof. Dr. Dr. E. und F. übereinstimmend, überzeugend und glaubhaft bekundet. Grund für die
Akzeptanz sind die deutlichen Behandlungserfolge der Methode, die bei einem Großteil der Patienten zu verzeichnen
sind. Mit der Therapie Dr. Kozijavkin und den positiven Ergebnissen ist - so Prof. Dr. Dr. E. - endlich Bewegung in die
Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit ICP gekommen. Prof. Dr. Dr. E. stützt seine Bekundung auf eigene
Erhebungsdaten. Der Sachverständige Dr. D. verweist für die Akzeptanz der Methode Dr. Kozijavkin bzw. der
manualtherapeutisch-reflektorischen Behandlung bei ICP auf Kongresse in Deutschland und in der Schweiz, auf
Veröffentlichungen der Deutschen Gesellschaft für Manuelle Medizin und auf eine Studie der Klinik für Manuelle
Therapie, Hamm, in Zusammenarbeit mit der Universität Münster. Beide Sachverständigen befürworten in ihren
Gutachten das Behandlungskonzept Dr. Kozijavkin auch persönlich, weil sie festgestellt haben, dass zahlreiche
Patienten nach der Behandlung bei Dr. Kozijavkin erstmals in der Lage waren, aus dem Rollstuhl aufzustehen, sich
mit den Beinen fortzubewegen, die Hände zu öffnen, sich sogar selbst zu versorgen. Der Senat misst der Akzeptanz
der Methode Dr. Kozijavkin gerade durch diese beiden Sachverständigen, Prof. Dr. Dr. E. und Dr. D., hohes Gewicht
bei. Denn beide Sachverständige sind Chefärzte renommierter großer Kliniken für die Behandlung
cerebralgeschädigter Kinder und Jugendlicher. Sie sind angesehene, führende Fachleute auf dem Gebiet der
Behandlung der ICP, Prof. Dr. Dr. E. in seiner Funktion als Ärztlicher Direktor im Kinderzentrum München und als
Vorstand des Instituts für Soziale Pädiatrie und Jugendmedizin der Ludwig-Maximilians-Universität München und Dr.
D. als Chefarzt der Klinik für Manuelle Therapie e.V. in Hamm.
Die überwiegende Akzeptanz der Methode Dr. Kozijavkin in der Fachwelt ist für den Senat uneingeschränkt
nachvollziehbar und plausibel. Das Behandlungsteam Dr. Kozijavkin hat eine Analyse seiner Behandlungsdaten
erstellt, die 12.265 Kinder und Jugendliche mit ICP erfasst. Der Sachverständige Prof. Dr. Dr. E. hat hierzu im
Einzelnen Stellung genommen. Er betont, dass die Behandlungsdaten-Analyse die Wirksamkeit der Methode Dr.
Kozijavkin nicht nur erkennbar macht, sondern sie auch glaubhaft darstellt. Zu den Angaben im Einzelnen führt Prof.
Dr. Dr. E. aus, dass bei 94 % der untersuchten 10.793 Patienten von einer Verringerung des spastischen
Muskeltonus berichtet wird. Die Veränderung der Beweglichkeit der Großgelenke verbesserte sich aktiv bei 91 % und
passiv bei 84 % der behandelten Patienten. 75 % der Patienten (von 12.265) gelang es, eine Kopfkontrolle zu
erlernen, 62 % lernten das Sitzen, 41 % zu stehen, 28 % zu krabbeln und 19 % das freie Laufen. Bei 87 % der
Patienten verbesserte sich die Handöffnung. Hinsichtlich der Wirkungsdauer dieser Effekte konnte bei 47 % der hierzu
befragten 7.722 Patienten (von insgesamt 12.265) eine andauernde Verbesserung der erreichten motorischen
Fortschritte festgestellt werden. Bei 45 % trat eine Verbesserung der Funktion zu einzelnen motorischen Fähigkeiten
ein. Bei allen untersuchten Kindern kam es außerdem zu einem gewissen Anstieg des Intelligenzquotienten.
Wie Prof. Dr. Dr. E. überzeugend betont, werden durch diese langjährigen ärztlichen Erfahrungen die deutlichen
Behandlungserfolge der Methode Dr. Kozijavkin eindrucksvoll belegt. Die guten Behandlungserfolge sind um so höher
zu bewerten, als es sich bei den Patienten zumeist um schwerstbehinderte Kinder und Jugendliche handelt, für die
überhaupt nur wenige nachhaltige Behandlungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen. Durch die Methode Dr. Kozijavkin
wird die Entwicklung bei einer großen Zahl dieser Patienten entscheidend positiv beeinflusst. Viele der Patienten
können - so Prof. Dr. Dr. E. - durch die Methode Dr. Kozijavkin zum ersten Mal elementare menschliche
Grundfähigkeiten erlernen, wie z.B. das Kopfheben, das Greifen, das Stehen, das Gehen (s.o.). Damit eröffnen sich
für diese Patienten neue und gute Perspektiven. Sie erhalten die Chance auf eine bessere und würdigere Gestaltung
ihres Lebens. Zugleich wird damit die Solidargemeinschaft der Versicherten entlastet, weil viele der Patienten in
geringerem Umfang als vorher auf Leistungen aus der gesetzlichen Krankenversicherung angewiesen sind.
Für die Feststellung des Senats, dass die Methode nach Dr. Kozijavkin inzwischen dem medizinischen Standard
entspricht, ist es unerheblich, dass der Sachverständige Prof. Dr. C. meint, die Gruppe der Neuropädiater befürworte
die Methode nicht. Denn Prof. Dr. C. stützt sein kurzes Gutachten auf eine Stellungnahme der Gesellschaft für
Neuropädiatrie ("Behandlung motorischer Störungen mit manueller Therapie" in der Monatsschrift Kinderheilkunde
1999, 696 ff.). In dieser Stellungnahme jedoch hat sich die Gesellschaft für Neuropädiatrie zur allgemeinen Akzeptanz
der Methode Dr. Kozijavkin nicht geäußert. Die Stellungnahme gibt zunächst die positiven Behandlungserfolge der
Methode Dr. Kozijavkin wieder. Zweifel an der Richtigkeit der Ergebnisse äußert die Stellungnahme nicht, sondern
lehnt die Methode Dr. Kozijavkin lediglich deshalb ab, weil die Evaluation der von Dr. Kozijavkin vorgelegten
Behandlungsergebnisse jeglichen statistisch-wissenschaftlichen Standards entbehre. Allein dieser Umstand besagt
jedoch nichts über die allgemeine Akzeptanz der Behandlungsmethode. Die Wirksamkeit einer Behandlungsmethode
kann nicht nur durch Studien, sondern auch durch Expertenwissen oder klinische Erfahrung belegt werden. Wäre das
nicht der Fall, so müsste in der gesetzlichen Krankenversicherung auch auf eine Anwendung der Methoden nach
Vojta und Bobath sowie der Ergotherapie verzichtet werden, weil auch für sie keine entsprechenden Studien vorliegen.
Die Voraussetzungen des § 18 Abs. 1 Satz 1 SGB V liegen schließlich auch insoweit vor, als die Behandlung mit der
Methode Dr. Kozijavkin nur im Ausland möglich ist. Das folgt aus der Aussage des Sachverständigen Prof. Dr. Dr. E
... Er hat überzeugend ausgeführt, dass in Deutschland kein multimodales Behandlungskonzept besteht, das mit der
Methode Dr. Kozijavkin in vollem Umfange vergleichbar ist. Zwar bietet das Kinderzentrum München teilmodale
Behandlungsblöcke für die ICP an. Sie umfassen jedoch andere Techniken als die Methode Dr. Kozijavkin.
Ähnliches gilt für andere Behandlungszentren in Deutschland. Der Sachverständige Dr. D. weist darauf hin, dass in
seiner Klinik für Manuelle Therapie in Hamm zwar ein ähnliches, doch nicht in vollem Umfang gleiches Konzept
angewendet wird wie bei Dr. Kozijavkin. Hinzu kommt nach der Bekundung von F., dass diese alternativen
Behandlungsmöglichkeiten im Bundesgebiet nur spärlich vorhanden sind. Allein in seiner Klinik bestehen Wartezeiten
von mehr als einem Jahr, so dass er seine Patienten immer wieder auf die Behandlungsmöglichkeit bei Dr. Kozijavkin
verweist, um keine wichtigen Zeiträume in der Entwicklung der Kinder verstreichen zu lassen.
Der Kläger war schließlich auch berechtigt, die Methode Dr. Kozijavkin noch im September 1999 und März/April 2000
in Anspruch zu nehmen. Zwar war er zu dieser Zeit bereits 21 Jahre alt und gehörte im chronologischen Sinne nicht
mehr zu dem Kreis der Kinder und Jugendlichen. Für eine ärztliche Behandlung jedoch ist nicht das Lebensalter,
sondern das Entwicklungsalter entscheidend. Die Entwicklung des Klägers jedoch ist infolge der schweren ICP
massiv verzögert.
Der Tatbestand des § 18 Abs. 1 Satz 1 SGB V ist somit erfüllt. Die Rechtsfolge einer Kostenübernahme steht nach §
18 Abs. 1 Satz 1 SGB V im Ermessen der Beklagten, wie der Wortlaut des § 18 Abs. 1 Satz 1 SGB V "kann" belegt.
Die Beklagte war daher zur Neubescheidung des Antrages des Klägers auf Übernahme der Behandlungs- und
Begleitkosten (§ 18 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 SGB V) für die Behandlung des Klägers bei Dr. Kozijavkin im September
1999 und März/April 2000 zu verurteilen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
Der Senat hat wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Sache die Revision zugelassen (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG).