Urteil des LSG Niedersachsen-Bremen vom 30.01.2001

LSG Nsb: pflegezulage, hilflosigkeit, versorgung, form, psychiater, niedersachsen, körperpflege, ernährung, behandlung, amputation

Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urteil vom 30.01.2001 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Hannover S 23 V 46/96
Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen L 5/9 V 3/00
Das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 26. November 1999 wird aufge-hoben. Die Klage wird in vollem Umfang
abgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Der Rechtsstreit betrifft die Frage, ob der Klägerin für die Zeit ab Oktober 1996 Pfle-gezulage gemäß § 35 Abs 1 Satz
4 Bundesversorgungsgesetz (BVG) nach Stufe II als Sonderrechtsnachfolgerin ihres am 12.07.2000 verstorbenen
Ehemannes zu-steht.
Die Klägerin ist Witwe des am H. geborenen und am 12.07.2000 verstorbenen I. (Beschädigter). Bei diesem stellte
das Versorgungsamt (VA) zuletzt mit Bescheid vom 24. Mai 1983 mit Wirkung vom 1. Juni 1982 eine Minderung der
Erwerbsfähig-keit (MdE) um 100 nach § 30 Abs 1 BVG fest. Zugrunde lagen die Schädigungsfol-gen:
1. Narben der linken Augenbraue, 2. Durchblutungsstörungen des rechten Unterschenkels infolge Narbenbil-dung nach
Gasbrand, 3. Muskelschwäche des rechten Beines und geringe Bewegungseinschrän-kung des rechten Kniegelenks,
4. Transplantationsnarben des linken Oberschenkels, 5. nicht störende Narben der linken Mittelhand, 6.
Hirnschädigung mit Krampfanfällen, geringe Hirnleistungsschwäche und Wesensänderung.
Ab 1. Juni 1980 erhielt der Beschädigte Ausgleichsrente und Berufsschadensaus-gleich sowie aufgrund des
Ausführungsbescheides vom 17. Dezember 1982 in der Folge eines vor dem Sozialgericht (SG) abgegebenen
Anerkenntnisses ab 1. Februar 1979 Pflegezulage nach Stufe I gemäß § 35 Abs 1 BVG.
Der Beschädigte beantragte am 3. November 1994 Pflegezulage nach Stufe II. Zur Begründung berief er sich auf
unregelmäßig wiederkehrende Anfallshäufigkeit, Zu-nahme der Orientierungslosigkeit, Verschlechterung seines
Gesichtsfeldes und eine fast völlig aufgehobene Bewegungsfähigkeit. Das VA holte Befundberichte des Inter-nisten
Dr. J., des Chirurgen K., der Augenärztin Frau L. und des Urologen M. ein. Nachdem der Neurologe und Psychiater N.
ein versorgungsärztliches Untersu-chungsgutachten erstattet hatte, lehnte das VA den Antrag ab (Bescheid vom
25.10.1995). Ein im Widerspruchsverfahren eingeholtes Gutachten des Chirurgen Dr. O. brachte dem Kläger keinen
Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 4. Juli 1996).
Den am 10. Juli 1996 zugestellten Widerspruchsbescheid hat der Beschädigte mit der am 26. Juli 1996
eingegangenen Klage angegriffen. Diese hat er damit begrün-det, der für ihn notwendige Pflegeaufwand entspreche
dem, der mit dauernder Bett-lägerigkeit verbunden sei. Der seit langem desolate Gesundheitszustand habe sich
schädigungsbedingt verschlimmert. Am 12. November 1996 habe der Beschädigte eine schwierige Herzoperation über
sich ergehen lassen müssen, in deren Verlauf ihm fünf Bypässe gelegt worden seien. Auch leide er unter erheblichen
orthopädi-schen Beschwerden.
Das SG Hannover hat Befundberichte der Internisten Dr. P. (mit zwei Arztbriefen die-ses Arztes) und Dr. J., der
Augenärztin Frau L., des Orthopäden Q., des Urologen M. und des Chirurgen K. eingeholt und durch Urteil vom 26.
November 1999 den Be-klagten unter Änderung der angefochtenen Bescheide verurteilt, ab Oktober 1996
Pflegezulage der Stufe II nach § 35 BVG zu gewähren. Die weitergehende Klage hat es abgewiesen. Zur Begründung
ist im Wesentlichen ausgeführt, die Voraussetzun-gen für die Pflegestufe II seien seit Oktober 1996 erfüllt. Dies
ergebe sich auf der Grundlage der Nr 2 der Verwaltungsvorschriften zu § 35 BVG daraus, dass der Be-schädigte die
Voraussetzungen der Pflegestufe II aus der Pflegeversicherung nach Sozialgesetzbuch Elftes Buch – Soziale
Pflegeversicherung – (SGB XI) erfüllt habe. Für den Pflegebedarf seien die Schädigungsfolgen nach dem Ergebnis der
medizini-schen Ermittlungen und dem von dem Beschädigten vermittelten Eindruck in der mündlichen Verhandlung
annähernd gleichwertig mit den schädigungsunabhängigen Gesundheitsstörungen.
Gegen das am 21. Januar 2000 zugestellte Urteil wendet sich der Beklagte mit der am 28. Januar 2000
eingegangenen Berufung. Diese stützt er darauf, das SG habe von der Pflegestufe II im Sinne des § 15 SGB XI einen
unrichtigen Rückschluss auf die Einstufung nach § 35 Abs 1 BVG gezogen. Im Rahmen des SGB XI sei auch ein
hauswirtschaftlicher Anteil zu berücksichtigen, der nach § 35 BVG ohne Bedeutung sei.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des SG Hannover vom 26. November 1999 aufzuheben und die Klage in vollem Umfang abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Klägerin hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Neben den Gerichtsakten beider Rechtszüge haben die Beschädigten-Akten des VA Hannover (027693) nebst den
HUK-Beiheften vorgelegen und sind Gegen- stand der Entscheidung gewesen.
Entscheidungsgründe:
Die nach § 143 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässige Berufung ist begründet. Das SG hat zu Unrecht die
Voraussetzungen für Leistungen der Pflegezulage nach Stu-fe II nach § 35 Abs 1 BVG angenommen. Die Klägerin
kann als Sonderrechtsnach-folgerin des Beschädigten die Ansprüche geltend machen, vgl §§ 56 Abs 1 Nr 1, 59 S. 2
Sozialgesetzbuch Erstes Buch Allgemeiner Teil (SGB I). Denn bei der Pflege-zulage handelt es sich um eine ggfs
fällige rückständige, weil von dem Beschädigten selbst geltend gemachte Geldleistung und nicht um ein
nichtvererbliches höchstper-sönliches Recht. Der geldwerte Versorgungsanspruch ist in Form einer etwaigen
Nachzahlungsverpflichtung nur noch ein reines Vermögensobjekt geworden und da-mit vererblich (vgl dazu BSGE 41,
80). Die Klägerin hat nach dem Inhalt der Melde-bescheinigung der Stadt R. vom 1. September 2000 mit dem
Beschädigten bis zu seinem Tode in einer Wohnung und damit in einem gemeinsamen Haushalt zusam-mengelebt.
Die Voraussetzungen für eine erhöhte Pflegezulage seit Oktober 1996 lassen sich nicht feststellen. Es kommt im
vorliegenden Fall nur auf die Zeit seit Oktober 1996 an. Denn für den Zeitraum vom 03.11.1994 bis 30.09.1996 hat das
SG die Klage ab-gewiesen. Der Beschädigte hat gegen das teilabweisende Urteil Berufung nicht ein-gelegt. Damit ist
es insoweit rechtskräftig.
So lange der Beschädigte infolge der Schädigung hilflos ist, wird eine Pflegezulage gezahlt, § 35 Abs 1 Satz 1 BVG.
Hilflos im Sinne des Satzes 1 ist der Beschädigte, der für eine Reihe von häufig und regelmäßig wiederkehrenden
Verrichtungen zur Sicherung seiner persönlichen Existenz im Ablauf eines jeden Tages fremder Hilfe dauernd bedarf.
Ist die Gesundheitsstörung so schwer, dass sie dauerndes Kran-kenlager oder dauernd außergewöhnliche Pflege
erfordert, so ist die Pflegezulage je nach Lage des Falles unter Berücksichtigung des Umfangs der notwendigen
Pflege mit erhöhten Geldbeträgen (Stufen II bis VI) zu zahlen. Erwerbsunfähige Hirnbe-schädigte erhalten eine
Pflegezulage mindestens nach Stufe I.
Nachdem seit 1. Februar 1979 Pflegezulage nach Stufe I gezahlt worden war, hätte sich mit Wirkung von Oktober
1996 eine höhere Pflegezulage nur dann ergeben können, wenn sich die Hilflosigkeit im Sinne des § 35 Abs 1 Satz 1
BVG in einem Maße verschlimmert hätte, wie es dauerndes Krankenlager oder dauernd außerge-wöhnliche Pflege im
Sinne des § 35 Abs 1 Satz 4 BVG hätte nach sich ziehen müs-sen. Dabei ist es für eine Neufeststellung der
Pflegezulage ausreichend, wenn die als Schädigungsfolgen bestehenden Gesundheitsstörungen und die auf ihnen
beru-hende MdE zwar unverändert geblieben sind, die Schädigung aber im Zusammen-wirken mit veränderten
schädigungsunabhängigen Umständen noch annähernd gleichwertig die gesteigerte Hilflosigkeit verursacht hat (BSGE
41, 80, 82; BSG Urteil vom 15.08.2000 - B 9 V 4/00 R -). Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt.
Dass die anerkannte Schädigung in annähernd gleicher Weise wie schädigungs-unabhängige Beeinträchtigungen zu
einem Zustand beigetragen hätte, der einem dauernden Krankenlager oder dauernder außergewöhnlicher Pflege
vergleichbar gewesen wäre, ist ärztlich nicht dokumentiert. Aus der Zuerkennung der Pflegestu-fe II aus § 15 SGB XI
lässt sich dies jedenfalls nicht herleiten. Nach § 15 Abs 1 Nr 2 SGB XI sind Personen pflegebedürftig im Sinne der
Pflegestufe II (Schwerpflegebe-dürftige), die bei der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität mindestens dreimal
täglich zu verschiedenen Tageszeiten der Hilfe bedürfen und zusätzlich mehrfach in der Woche Hilfen bei der
hauswirtschaftlichen Versorgung benötigen. Eine Vergleichbarkeit besteht, worauf der Beklagte zu Recht hingewiesen
hat, inso-weit schon deshalb nicht, weil für die Bewertung nach § 35 Abs 1 BVG die hauswirt-schaftliche Versorgung
außer Betracht bleiben muss.
Die Bewertung der Voraussetzungen des § 35 Abs 1 BVG hat nach den Maßstäben der "Anhaltspunkte für die
ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungs-recht und nach dem Schwerbehindertengesetz" (AHP) zu
erfolgen. Der Umfang der notwendigen Hilfe bei den häufigen regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen muss
erheblich sein. Dies ist dann der Fall, wenn die Hilfe dauernd für zahlreiche Verrichtungen, die häufig und regelmäßig
wiederkehren, benötigt wird. Einzelne Ver-richtungen, selbst wenn sie lebensnotwendig sind und im täglichen
Lebensablauf wiederholt vorgenommen werden, genügen nicht. Verrichtungen, die mit der Pflege der Person nicht
unmittelbar zusammenhängen, zum Beispiel im Bereich der haus-wirtschaftlichen Versorgung, müssen außer
Betracht bleiben (AHP S. 37). Sie dürfen deshalb auch bei der Frage der Verschlimmerung des Zustandes der
Hilflosigkeit, der hier durch den Ausführungsbescheid vom 17. Dezember 1982 festgestellt wor-den ist, nicht
herangezogen werden.
Der etwa erhöhte Pflegebedarf des Beschädigten ist nicht durch die Schädigungsfol-gen annähernd gleichwertig mit
schädigungsunabhängigen Beeinträchtigungen ent-standen. Vielmehr überwiegen letztere entscheidend. Denn die
Schädigungsfolgen haben sich nicht wesentlich geändert, während der Beschädigte schädigungsunab-hängig
gravierende Gesundheitseinbußen erlitten hat:
Eine medizinische Grundlage für die vom SG vertretene Annahme einer annähernd gleichen Verursachung der
angenommenen Verschlechterung des Gesundheitszu-standes durch die Schädigungsfolge mit den
Nichtschädigungsfolgen besteht nicht. Die schwerwiegende Verschlechterung des Gesundheitszustands lässt sich
doku-mentieren nach der operativen Behandlung der Herzerkrankung des Beschädigten im November 1996. Sie ergibt
sich aus dem Befundbericht des Internisten Dr. P. vom 18. April 1997 und den beigefügten Arztbriefen vom 27.
Februar und 9. Januar 1997 dieses Arztes sowie dem Befundbericht des Internisten Dr. J., der insbesondere eine
Verschlechterung der coronaren Herzkrankheit befundet hat. Dies ist keine Schädi-gungsfolge und steht hiermit auch
nicht im Zusammenhang. Das selbe gilt für die wesentliche Einschränkung des Gesichtsfeldes, da insoweit eine
Schädigungsfolge ebenfalls nicht besteht.
Dagegen stehen die Schädigungsfolgen wesentlich zurück. Die Schlussberichte der Neurologen und Psychiater Dres.
S. vom 8. Juni 1982 bis zum 12. Oktober 1990 je-weils nach Heilmaßnahmen haben, bezogen auf die Hirnanfälle, eine
wesentliche Änderung nicht dokumentiert. Vielmehr traten die Anfälle unverändert etwa alle zwei Wochen auf. Aus
dem Schlussbericht der Frau Dr. T. vom 6. Mai 1992 nach der Maßnahme von April bis Mai 1992 ergibt sich ein
Anfall, nachdem der Beschädigte anfallbezogene Medikamente nicht eingenommen hatte. Auch dort ist von einer An-
fallsfrequenz von ein bis zweimal monatlich die Rede. Eine Änderung ergab sich auch nicht nach dem
Abschlussbericht der Frau Dr. T. vom 3. Mai 1995.
Es bleibt mithin aus dem orthopädischen Bereich die Beeinträchtigung am rechten Bein, insbesondere die
Bewegungseinschränkung des rechten Kniegelenks, die als Schädigungsfolge anerkannt war. Indes belegt der
Befundbericht des Orthopäden Q. vom 14. Mai 1997 vorwiegend Beschwerden des Beschädigten insbesondere in
Form rezidivierender Lumboischialgien sowie belastungsabhängiger Schmerzen im Bereich beider Knie- und
Hüftgelenke. Nach den in den AHP niedergelegten Zu-sammenhangsrichtlinien kann jedoch insoweit von einer
schädigungsbedingten Ver-schlimmerung der Hilflosigkeit nicht gesprochen werden. Das von dem Orthopäden Q.
diagnostizierte degenerative Lumbalsyndrom bei Pseudolisthese L4/5 und Osteo-chondrose L5/S1 hat zwar nach dem
Inhalt des Befundberichtes zur Zunahme der Beschwerden innerhalb der letzten zwei Jahre mit wiederholten
Lumboischialgien und reduzierender deutlicher Geheinschränkung bei Hinzutreten von Hüftproblemen geführt. Diese
Beeinträchtigungen stehen aber mit den anerkannten Schädigungsfol-gen nicht im Zusammenhang. Eine – bei dem
Beschädigten nicht einmal diagnosti-zierte – Spondylolisthese ist in der Regel eine schädigungsunabhängige
Verknöche-rungsstörung (AHP S. 299). Dass der Beschädigte eine Verletzung an der Wirbel-säule erlitten hätte, ist in
den Akten nicht dokumentiert und auch von ihm nicht be-hauptet worden. Die Osteochondrose ist eine
Degenerationserscheinung, die früher oder später bei fast allen Menschen durch Flüssigkeits- und Elastizitätsverlust
in Er-scheinung tritt und bevorzugt die untere Halswirbelsäule und die untere Lendenwir-belsäule befällt. Dass insoweit
die Schädigung selbst ursächlich sein könnte, ergibt sich nach diesen Maßstäben (AHP S. 299) nicht. Degenerative
Wirbelsäulenverän-derungen könnten nur bei einem – hier nicht vorliegenden – Gliedmaßenverlust Be-deutung haben
(AHP S. 301).
Soweit eine Gonarthrose an dem nicht beschädigten linken Bein sowie Coxarthrosen bestehen, lässt sich ein
Zusammenhang mit den Schädigungsfolgen ebenfalls nicht herleiten. Bei Gliedmaßenschäden wie zum Beispiel nicht
ausgeglichenen Beinver-kürzungen oder Gelenkversteifung in ungünstiger Stellung können Folgen am Bewe-
gungsapparat auftreten wie nach einer Amputation mit vergleichbarer Funktionsstö-rung (AHP S. 302). Indes ist eine
nicht ausgeglichene Beinverkürzung ebenso wenig festgestellt wie eine Gelenkversteifung in ungünstiger Stellung im
Bereich des rech-ten Beines.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Ein gesetzlicher Grund, die Revision zuzulassen, besteht nicht, § 160 Abs 2 SGG.