Urteil des LSG Hamburg vom 19.04.2006

LSG Ham: verschlechterung des gesundheitszustandes, körperpflege, entziehung, anhörung, alter, pflegebedürftigkeit, wohnung, behandlung, eltern, form

Landessozialgericht Hamburg
Urteil vom 19.04.2006 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Hamburg S 21 P 29/02
Landessozialgericht Hamburg L 1 P 6/05
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 08. Juni 2005 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht
zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten um die Entziehung von Leistungen der sozialen Pflegeversicherung der Stufe I.
Bei der 1983 geborenen Klägerin traten im 2. Lebensjahr hirnorganische Anfälle auf, die eine mehrjährige
medikamentöse Therapie nach sich zogen. Diagnostiziert wurde ein hirnorganisches Anfallsleiden mit
Wesensänderung und geistiger Retardierung.
Die Klägerin lebt mit ihren Eltern und drei Geschwistern zusammen und bezog seit dem 1. April 1995 mit Inkrafttreten
der Vorschriften über Leistungen der zum 1. Januar 1995 neu geschaffenen sozialen Pflegeversicherung Leistungen
der Pflegestufe I in Form des Pflegegeldes, nachdem sie zuvor Pflegegeld vom Sozialamt des Bezirksamts
Wandsbek der Freien und Hansestadt Hamburg erhalten hatte.
Grundlage des Bewilligungsbescheides der Beklagten vom 14. November 1995, mit dem einem Widerspruch gegen
die zunächst erfolgte Ablehnung vom 16. Mai 1995 abgeholfen wurde, war ein Gutachten des Medizinischen Dienstes
der Krankenversicherung (MDK) vom 19. Oktober 1995, in dem die Sozialmedizinerin Dr. G. einen Hilfebedarf im
Bereich der Grundpflege von mehr als 45 Minuten täglich und einen umfangreichen Hilfebedarf im Bereich der
hauswirtschaftlichen Versorgung festgestellt hatte. Der MDK hatte ausgeführt, dass die Klägerin bei der Körperpflege,
beim An- und Auskleiden sowie beim Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung angeleitet und beaufsichtigt
werden müsse. Hierbei sowie bei allen hauswirtschaftlichen Verrichtungen liege in einem sehr viel höheren Ausmaß
als bei Kindern im gleichen Alter ein Hilfebedarf vor. Die Verrichtungen müssten ständig kontrolliert und die Klägerin
hierzu aufgefordert werden. Sie benötige ständige Aufsicht, auch weil sie zu Wutanfällen neige, Gegenstände aus
dem Fenster werfe oder unsachgemäß mit dem Herd umgehe. Mit einer Stabilisierung sei zu rechnen, da seit fünf
Jahren keine hirnorganischen Anfälle mehr aufgetreten seien und seit anderthalb Jahren eine medikamentöse
Therapie nicht mehr erforderlich sei.
Obwohl die Sachverständige eine Wiederholungsbegutachtung nach anderthalb Jahren vorgeschlagen hatte, erfolgte
diese erst unter dem 31. Oktober 2000 durch die MDK-Pflegefachkraft H ... Die Gutachterin berichtete von nunmehr
auftretenden Kopfschmerzen und Schwindelattacken, in deren Zusammenhang es auch zu Stürzen komme. Eine
Begleitung zur Schule durch die Eltern finde nicht mehr statt. Den Schulweg lege die Klägerin mit einer Freundin
zurück. Die damals 17jährige Klägerin besuche eine Berufsschule und nehme an einem Berufsfindungsprogramm teil.
Insgesamt war die Gutachterin der Auffassung, dass nur noch geringfügige Handreichungen erforderlich seien und
erhebliche Pflegebedürftigkeit nicht mehr bejaht werden könne. Im Unterschied zum Zeitpunkt der Vorbegutachtung
1995 sei im Bereich der Körperpflege nur noch beim Duschen Unterstützung durch Aufsicht und Anleitung mit einem
täglichen Zeitaufwand von acht Minuten erforderlich, beim Ankleiden in Höhe von vier Minuten, wobei insoweit
lediglich der Jahreszeit entsprechende und farblich passende Kleidung herausgesucht werden müsse. Das An- und
Auskleiden selbst sowie die Körperpflege nehme die Klägerin im Übrigen selbständig vor. Die früher häufigen
Arztbesuche würden nur noch alle zwei bis drei Wochen und dreimonatlich in Begleitung durchgeführt.
Mit Schreiben vom 23. November 2000 hörte die Beklagte die Klägerin zu ihrer Absicht an, ihr die Leistungen nach der
Pflegestufe I zu entziehen. In einer als "Widerspruch" bezeichneten Stellungnahme vom 27. November 2000 hierzu
schrieb der Vater der Klägerin, dass sie ein Gedächtnis wie eine Sechsjährige habe und immerzu betreut werden
müsse.
Am 15. Januar 2001 erfolgte eine weitere Begutachtung durch den MDK, diesmal durch die Internistin Dr. G1. Auch
diese verneinte das Vorliegen erheblicher Pflegebedürftigkeit, bezifferte den Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege
mit insgesamt 28 Minuten. Dieser setze sich aus 20 Minuten Beaufsichtigung beim Duschen, 2 Minuten für die
Verrichtung "Stehen" beim Transfer von der Badewanne in die Dusche und 6 Minuten beim An- und Auskleiden in
Form des bedarfsgerechten Bereitlegens der Kleidung sowie behaupteter notwendiger Beaufsichtigung beim Bekleiden
des Oberkörpers zusammen. Darüber hinaus bestehe ein Bedarf an organisatorischer Hilfe zur Tagesstrukturierung
und allgemeiner Beaufsichtigung, der jedoch nicht bei der Bemessung des Hilfebedarfs im Rahmen des
Sozialgesetzbuches Elftes Buch (SGB XI) zu berücksichtigen sei. Hinzu komme der Hilfebedarf im Bereich der
hauswirtschaftlichen Versorgung. Es bestehe eine erhebliche Diskrepanz zwischen der Beschreibung des Hilfebedarfs
durch die Klägerin einerseits und durch den - so die Sachverständige - zu Übertreibung und Überängstlichkeit
neigenden Vater andererseits. Die 1995 umfangreich notwendige Fremdunterstützung sei zurückgegangen, es sei eine
größere Selbständigkeit erzielt worden.
Unter dem 23. Februar 2001 erfolgte daraufhin eine erneute Anhörung zur beabsichtigten Aufhebung des
Bewilligungsbescheides. Der Vater der Klägerin hielt seinen "Widerspruch" aufrecht.
Nach nochmaliger Anhörung unter dem 7. November 2001 erließ die Beklagte den Bescheid vom 20. November 2001,
mit dem sie ihren Bewilligungsbescheid vom 14. November 1995 aufhob und die Leistungen der Pflegestufe I mit
Wirkung ab 1. Dezember 2001 entzog.
Die Beklagte erteilte weiter den Widerspruchsbescheid vom 23. Januar 2002, nach dessen Verfügungssatz sie den
Widerspruch vom 27. November 2000 gegen die "Bescheide vom 23. November 2000, 07. November 2001 und 20.
November 2001" zurückwies und in dessen Gründen sie ausführte, dass ein "Antrag auf Geldleistungen über den
30.11.2001 hinaus" abgelehnt werde.
Das hiergegen gerichtete Schreiben des Vaters der Klägerin vom 28. Januar 2002, das er wiederum "Widerspruch"
nannte, leitete die Beklagte gemäß § 91 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) als Klage an das Sozialgericht Hamburg
weiter.
Mit ihr hat die Klägerin vorgetragen, es bestehe seit 1985 ein im wesentlichen unveränderter Hilfebedarf bei
cerebralem Anfallsleiden mit rezidivierenden Krampfanfällen, so dass die Voraussetzungen des § 48
Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) wegen fehlender wesentlicher Änderung der Verhältnisse nicht vorliegen
und eine Zurücknahme des Bewilligungsbescheides vom 14. November 1995 nach § 45 SGB X wegen fehlender
Ermessensausübung und wegen des Zeitablaufs nicht in Betracht komme. Im Übrigen sei es allenfalls zu einer
Verschlechterung des Gesundheitszustandes gekommen, weil seit 1998 wieder Anfälle aufgetreten seien.
Nach Beiziehung der Schwerbehindertenakte des Versorgungsamts Hamburg, der Sozialhilfeakten, von
Befundberichten behandelnder Ärztinnen und Ärzte sowie weiterer ärztlicher Unterlagen und Einholung eines
Sachverständigengutachtens vom Sozialmediziner und Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. M., das jener
unter dem 30. Mai 2003 erstellt und im Termin zur mündlichen Verhandlung am 08. Juni 2005 erläutert hat, hat das
Sozialgericht die Klage mit Urteil vom 08. Juni 2005 abgewiesen. Es hat ausgeführt, dass die Voraussetzungen nach
§ 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X für eine Aufhebung des Bewilligungsbescheides vom 14. November 1995 wegen einer
Besserung des Gesundheitszustandes der Klägerin vorliegen. Die Klägerin könne im Vergleich zu 1995
selbstständiger und besser die Nahrung aufnehmen und benötige hierfür keine speziellen Hilfen mehr. Sie bedürfe
nicht mehr der ständigen Aufsicht. Es bestehe keine Notwendigkeit mehr für regelmäßige wöchentliche Arztbesuche
oder Therapien, zu denen die Klägerin begleitet werden müsste. Sie müsse morgens lediglich gerufen oder ermahnt
werden aufzustehen. Das Aufstehen erfolge selbständig. Auch ein Ankleide- oder Auskleidehilfebedarf bestehe nicht,
ebenso wenig wie ein solcher beim Entkleiden. Die Kleidung müsse lediglich von der Mutter bereit gelegt werden, weil
die Klägerin nicht immer sach- und witterungsgemäß auswähle. Insofern liege eine wesentliche Besserung vor und der
tatsächliche Hilfebedarf betrage im Bereich der Grundpflege nur noch insgesamt 13 Minuten, wovon 10 Minuten auf
das Duschen, eine Minute auf das Kämmen sowie 2 Minuten auf das Herauslegen der Kleidung entfallen. Damit seien
die Voraussetzungen für die Pflegestufe I nicht erfüllt und die Aufhebung nicht zu beanstanden.
Dieses Urteil ist der Klägerin am 21. Oktober 2005 zugestellt worden.
Mit der hiergegen am 04. November 2005 eingelegten Berufung hält die Klägerin daran fest, dass bei ihr die
Voraussetzungen für die Pflegestufe I vorliegen. Ihr Hilfebedarf sei größer als vom Sachverständigen Dr. M.
festgestellt. Selbst wenn dies nicht der Fall wäre, sei der Aufhebungsbescheid der Beklagten schon deshalb
rechtswidrig, weil in ihrem Pflegebedarf seit 1995 keine wesentliche Änderung eingetreten sei. Allein die Tatsache,
dass damals andere Richtlinien zur Begutachtung zu Grunde gelegen haben, begründe keine solche wesentliche
Änderung.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 8. Juni 2005 sowie den Bescheid der Beklagten vom 20. November 2001
in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 23. Januar 2002 aufzuheben. Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Es sei ein eindeutiger Besserungsnachweis geführt worden. Dies gelte
sowohl für das Gutachten des Dr. M. als auch bereits für die MDK-Gutachten vom 31. Oktober 2000 und 15. Januar
2001. Bei der Nahrungsaufnahme benötige die Klägerin keine speziellen Hilfen mehr, sie könne den Wasserhahn
selbständig schließen, sich die Zähne selbständig putzen, das An- und Auskleiden selbständig erledigen. Der
Hilfebedarf beim Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung sei entfallen, da regelmäßig wöchentlich stattfindende
Arztbesuche bzw. Therapien nicht mehr notwendig seien. Die wesentliche Änderung der Verhältnisse sei auch
plausibel, denn bereits in dem MDK-Gutachten vom 19. Oktober 1995 sei ausgeführt worden, dass mit einer
Stabilisierung zu rechnen sei.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Sitzungsniederschrift
vom 19. April 2006, die vorbereitenden Schriftsätze der Beteiligten sowie den weiteren Inhalt der Gerichts- und der in
der Niederschrift aufgeführten beigezogenen Akten, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.
Entscheidungsgründe:
Die statthafte und auch im übrigen zulässige Berufung ist unbegründet. Das Sozialgericht hat zu Recht und mit
zutreffenden Erwägungen die Klage gegen die angefochtenen Bescheide der Beklagten abgewiesen. Diese sind
rechtmäßig und verletzen die Klägerin daher nicht in ihren Rechten. Die Aufhebung des Bewilligungsbescheides vom
14. November 1995 und die Entziehung der Leistungen der Pflegestufe I mit Wirkung ab 1. Dezember 2001 sind nicht
zu beanstanden. Denn gegenüber den tatsächlichen Verhältnissen zum Zeitpunkt der Bewilligung der Leistungen der
Pflegestufe I im Jahr 1995 ist eine wesentliche Änderung dadurch eingetreten, dass sich der Hilfebedarf der Klägerin
verringert hat und der aktuell bestehende Hilfebedarf nicht mehr ausreicht, um die Voraussetzungen für die
Pflegestufe I zu erfüllen. Der Senat nimmt insoweit auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils des
Sozialgerichts Bezug und sieht von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab (vgl. § 153 Abs. 2 SGG).
Das Sozialgericht hat in seinem Urteil ebenso wie zuvor die MDK-Gutachten vom 15. Januar 2001 und 31. Oktober
2000 im Einzelnen genau dargelegt, inwieweit der Hilfebedarf, der 1995 noch bestand und nach dem schlüssigen
MDK-Gutachten vom 19. Oktober 1995 noch erhebliche Ausmaße im Sinne des § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 i.V.m. Abs.
2 und Abs. 3 Nr. 1 SGB XI hatte, nun nicht mehr besteht. Dem in der Berufungsinstanz beibehaltenen Vortrag der
Klägerin, dass keine wesentliche Änderung eingetreten sei, ist nicht beizutreten. Das Sozialgericht hat insbesondere
zu Recht darauf hingewiesen, dass die Ausführungen des Sachverständigen Dr. M. deshalb besonders geeignet sind,
die wesentliche Besserung glaubhaft darzulegen, weil er 1997 für das Versorgungsamt ein Gutachten über die
Klägerin erstellte und daher deren positive Entwicklung aufgrund persönlicher Anschauung hat beurteilen können.
Lediglich ergänzend weist der Senat darauf hin, dass eine wesentliche Änderung des Gesundheitszustandes der
Klägerin und damit – und dies ist entscheidend - auch ihres Hilfebedarfs auch anhand der beigezogenen
Schwerbehindertenakte nachvollzogen werden kann. Zunächst war der Klägerin ab September 1992 ein Grad der
Behinderung (GdB) von 80 mit den Merkzeichen G, B, und H zuerkannt worden. Bereits 1996 beabsichtigte das
Versorgungsamt eine Herabsetzung des GdB auf 50 bei Entziehung der Merkzeichen. Indes wurde nach Einholung
eines Gutachtens wegen des Auftretens der Schwindelattacken der GdB lediglich auf 70 unter Erhalt der drei
Merkzeichen herabgesetzt. Zwar wurde der GdB im Jahr 2000 vorübergehend sogar auf 80 heraufgesetzt wegen der
seit 1998 aufgetretenen Anfälle. Jedoch wurde nach Einholung des Befundberichts des behandelnden Arztes Dr. S.
vom 19. Juni 2001 und der Beiziehung des Berichts des Evangelischen Krankenhauses A. vom 01. November 2001
durch Dr. Z. und Dr. S1 vom versorgungsärztlichen Dienst der GdB auf nunmehr nur noch 50 geschätzt. Die
Voraussetzungen für irgendein Merkzeichen wurden als nicht mehr gegeben erachtet. Daran lässt sich die positive
Entwicklung der Klägerin nachvollziehen. Der Bericht des Epilepsiezentrums Hamburg des Evangelischen
Krankenhauses A. vom 01. November 2001 sieht keine Notwendigkeit für eine medikamentöse antikonvulsive
Behandlung und keinen sicheren Anhalt für eine aktive Epilepsie. In der Schul- und Berufsanamnese wird
beschrieben, dass die Klägerin nach der Einschulung im Alter von sieben Jahren ein Jahr die Grundschule, dann zwei
Jahre die Sprachschule, dann für zwei Jahre die Behindertenschule und schließlich nach drei bis vier Jahren
Förderschule noch für ein Jahr die Hauptschule besucht habe. Diese habe sie ohne Abschluss verlassen und dann
eine Berufsförderungsmaßnahme in Gestalt eines Friseurlehrgangs angetreten. Seit November 2000 sei keiner der
zwischen August und Oktober 2000 aufgetretenen Anfälle mehr aufgetreten. Hierzu passt, dass der behandelnde Arzt
Dr. S. lediglich von einem Verdacht auf eine leichtgradige intellektuelle Minderbegabung und nur von zweimaligen
Synkopen im Herbst 2000 spricht. Auch er verneint die Notwendigkeit medikamentöser antikonvulsiver Behandlung,
so dass auch im Hinblick darauf das vom Sozialgericht eingeholte Sachverständigengutachten insgesamt schlüssig
erscheint und der Vortrag der Klägerin keinen Anlass bietet, weitere Ermittlungen durchzuführen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die Revision war nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.