Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 29.05.2002

LSG Berlin und Brandenburg: zahnärztliche behandlung, behandlung im ausland, soziale sicherheit, versorgung, krankenversicherung, ermessen, aufenthalt, ruhe, republik, kostenvoranschlag

Landessozialgericht Berlin-Brandenburg
Urteil vom 29.05.2002 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Berlin S 75 KR 858/97
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg L 9 KR 63/00
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 28. April 2000 wird zurückgewiesen. Kosten
des Berufungsverfahrens sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Der Kläger begehrt die Übernahme der Kosten für einen Zahnersatz. Die Versorgung soll während eines Aufenthaltes
in der Türkei erfolgen.
Der Kläger ist bei der Beklagten krankenversichert. Im. 1997 beantragte er die Übernahme der Kosten für einen
Zahnersatz. Die Leistungen sollen während eines geplanten Urlaubsaufenthaltes in der Türkei erbracht werden.
Seinem Antrag fügte er Heil- und Kostenpläne der Dres. K. und K. vom 10. März 1997 über Kosten in Höhe von
insgesamt 3451,72 DM sowie einen Kostenvoranschlag der türkischen Zahnärztin G.-C. vom 1. August 1997 über
Kosten in Höhe von umgerechnet 2833,00 DM bei.
Den gegen den ablehnenden Bescheid vom 19. August 1997 gerichteten Widerspruch des Klägers wies die Beklagte
mit Widerspruchsbescheid vom 10. November 1997 zurück. Der Anspruch des Klägers auf eine medizinisch
notwendige Versorgung mit Zahnersatz ruhe während seines geplanten Türkeiaufenthaltes. Eine Kostenübernahme
könne lediglich im Falle einer so genannten „Akut-Erkrankung“ erfolgen, d.h. wenn der Versicherungsfall während des
Auslandsaufenthaltes eintrete und der Versicherte sofort Leistungen benötige. Diese Voraussetzungen lägen aber im
Falle des Klägers nicht vor.
Im anschließenden Klageverfahren hat sich der Kläger im Wesentlichen auf den Grundsatz des freien
Dienstleistungsverkehrs zwischen den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union (EU) berufen. Da die Türkei
assoziiertes Mitglied der EU sei, müsse dieser Grundsatz auch im Verhältnis zur Türkei gelten. Ihm sei im Übrigen
bekannt, dass andere Krankenkassen die Kosten für einen selbstbeschafften Zahnersatz im Ausland übernähmen.
Eine solche Verfahrensweise entspreche auch dem Wirtschaftlichkeitsgebot; die Kosten eines in der Türkei
angefertigten Zahnersatzes lägen wesentlich unterhalb der Kosten eines in Deutschland angefertigten Zahnersatzes.
Mit Urteil vom 28. April 2000 hat das Sozialgericht Berlin die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt,
dass der Anspruch des Klägers auf Versorgung mit Zahnersatz während seines geplanten Türkeiaufenthaltes ruhe.
Ein Anspruch ergebe sich auch weder aus zwischen- noch aus überstaatlichem Recht.
Mit seiner Berufung vom 6. Juni 2000 verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. Er trägt vor, dass es nach Auskunft
der deutschen Verbindungsstelle der Krankenversicherung im Ausland im Ermessen der jeweiligen Krankenkasse
läge, ob Kosten einer Auslandsbehandlung übernommen würden. Das Sozialgericht habe zudem die Regelungen des
Assoziierungsabkommens zwischen der EU und der Türkei verkannt. Sinn und Zweck dieses Abkommens sei es, die
Beschränkungen des freien Dienstleistungsverkehrs zwischen den Vertragsparteien aufzuheben.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 28. April 2000 sowie den Bescheid der Beklagten vom 19. August 1997 in der
Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. November 1997 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, die
Kosten für einen in der Türkei anzufertigenden und einzugliedernden Zahnersatz entsprechend dem
Kostenvoranschlag der Ärztin G.-C. vom 1. August 1997 in Höhe von 1448,49 Euro (2833,00 DM) zu übernehmen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen, die sie für unbegründet hält.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Beteiligten gewechselten
Schriftsätze nebst Anlagen und auf die den Kläger betreffende Verwaltungsakte der Beklagten, die dem Senat
vorgelegen hat und Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist, verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Der Senat kann ungeachtet des Ausbleibens des Klägers in der mündlichen Verhandlung durch Urteil entscheiden,
worauf dieser in der Terminsmitteilung hingewiesen worden ist (vgl. § 126 Sozialgerichtsgesetz SGG).
Die zulässige (§§ 143, 144 Abs. 1, 151 Abs. 1 SGG) Berufung ist unbegründet. Das Sozialgericht hat die Klage zu
Recht abgewiesen. Der Bescheid der Beklagten vom 19. August 1997 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 10. November 1997 ist rechtmäßig. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Übernahme der geltend gemachten
Kosten.
Ein Anspruch des Klägers auf Übernahme der Kosten für eine in der Türkei durchgeführte Behandlung ergibt sich nicht
aus über- oder zwischenstaatlichem Recht. Durch Vorschriften dieses Rechts wird der Schutzbereich der gesetzlichen
Krankenversicherung (GKV) erweitert (vgl. § 30 Abs. 2 Erstes Buch Sozialgesetzbuch SGB I und § 6 Viertes Buch
Sozialgesetzbuch SGB IV). Dies ist durch das Sozialversicherungsabkommen zwischen der Bundesrepublik
Deutschland und der Republik Türkei über soziale Sicherheit (BGBl. II 1965 S. 1170) sowie durch das Recht der EU
geschehen.
Nach Art. 12 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 4 a des Gesetzes zu dem genannten Abkommen zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und der Republik Türkei (BGBl. II 1965 S. 1169) erhält eine Person der einen
Vertragspartei Leistungen für den Fall der Krankheit nach den Rechtsvorschriften seines Heimatstaates,
a) die, nachdem der Versicherungsfall eingetreten ist, ihren Aufenthalt in das Gebiet der anderen Vertragspartei
verlegt hat, nur, wenn der zuständige Träger der Verlegung des Aufenthalts vorher zugestimmt hat,
b) bei der der Versicherungsfall während des vorübergehenden Aufenthalts im Gebiet der anderen Vertragspartei
eingetreten ist, nur, wenn sie wegen ihres Zustandes sofort Leistungen benötigt,
c) bei der der Versicherungsfall nach dem Ausscheiden aus der Versicherung eingetreten ist, nur, wenn sie sich in
das Gebiet der anderen Vertragspartei begeben hat, um eine ihr angebotene Beschäftigung anzunehmen.
Diese Voraussetzungen liegen hier nicht vor. Art. 12 Abs. 1 Buchst. a des genannten Gesetzes setzt voraus, dass
der Versicherte seinen Aufenthalt auf Dauer in das Gebiet der anderen Vertragspartei verlegt hat. Dies ergibt sich aus
dem Wortlaut dieser Norm und aus einem Vergleich mit dem Wortlaut des Art. 12 Abs. 1 Buchst. b des genannten
Gesetzes. Während Art. 12 Abs. 1 Buchst. a des genannten Gesetzes von einer Verlegung des Aufenthaltes spricht,
regelt Art. 12 Abs. 1 Buchst. b des genannten Gesetzes den Fall eines vorübergehenden Aufenthalts im Gebiet der
anderen Vertragspartei. Die Vertragsparteien wollten hier also offensichtlich zwei verschiedene Sachverhalte regeln.
Im Übrigen wäre Art. 12 Abs. 1 Buchst. b des genannten Gesetzes überflüssig, wenn schon Art. 12 Abs. 1 Buchst. a
des genannten Gesetzes auch den Fall eines vorübergehenden Aufenthalts im Gebiet der anderen Vertragspartei
regelte. Im vorliegenden Fall wollte der Kläger aber gerade nicht seinen Aufenthaltsort auf Dauer in die Türkei
verlegen, sondern sich dort nur vorübergehend aufhalten. Während eines vorübergehenden Aufenthaltes des
Versicherten in der Türkei sieht Art. 12 Abs. 1 Buchst. b in Verbindung mit Art. 4 a des genannten Gesetzes nur dann
eine Kostenübernahme vor, wenn der Versicherungsfall während des vorübergehenden Aufenthaltes eingetreten ist.
Diese Voraussetzung ist aber im Falle des Klägers gerade nicht gegeben. Der Leistungsfall ist 1997 in Deutschland,
also im Geltungsbereich des SGB V eingetreten. Der Kläger beabsichtigte nach Eintritt dieses Versicherungsfalles in
die Türkei einzureisen, um sich dort in zahnärztliche Behandlung zu begeben. Für diesen Fall sieht Art. 12 Abs. 1
Buchst. b des genannten Gesetzes aber gerade keine Kostenübernahme vor.
Ein Anspruch des Klägers auf Übernahme der geltend gemachten Kosten ergibt sich auch nicht aus dem EU-Recht.
Dieses regelt die Krankenversicherung in Art. 18 bis 24 VO (EWG/1408/71). Danach sind Leistungen auf Behandlung
in einem anderen Mitgliedsstaat zu gewähren, falls
a) der Versicherte außerhalb des Gebiets des leistungspflichtigen Staates wohnt (Art. 19 bis 21, 22 Abs. 1 Buchst. b
VO EWG 1408/71),
b) der Versicherte in einem anderen Mitgliedsstaat akut erkrankt ist (Art. 22 Abs. 1 Buchst. a VO EWG 1408/71), oder
c) der Versicherte im Gebiet des zuständigen Staates erkrankte, eine angemessene Behandlung indes nur außerhalb
dieses Staates in einem anderen Mitgliedsstaat erfolgen kann (Art. 22 Abs. 1 Buchst. c VO EWG 1408/71).
Diese Regelungen sind im vorliegenden Fall schon allein deshalb nicht anwendbar, weil die Türkei nicht Mitglied der
EU ist. Jedenfalls aber liegen die Voraussetzungen der genannten Norm nicht vor. Der Kläger hat weder seinen
Wohnsitz in der Türkei noch ist er dort akut erkrankt. Der Versicherungsfall ist, wie dargelegt, in Deutschland
eingetreten. Hier ist eine angemessene zahnärztliche Behandlung gewährleistet.
Der vom Kläger geltend gemachte Anspruch ergibt sich auch nicht aus dem Assoziierungsabkommen zwischen der
Türkei und der EU. Das Sozialgericht hat zu Recht darauf hingewiesen, dass Ansprüche aus diesem Abkommen nicht
hergeleitet werden können. Dieses Abkommen zwischen der Türkei und der EU statuiert lediglich ein sozialrechtliches
Diskriminierungsverbot für die sich innerhalb der EU legal aufhaltenden Arbeitnehmer und Bewohner der Türkei
(Eichenhofer in Fuchs (Hg.), Europäisches Sozialrecht, Art. 3 RdNr. 15). Letztlich kann dies aber offen bleiben. Denn
wie bereits ausgeführt, enthält auch das EU-Recht keinen Anspruch des Klägers auf die Übernahme der geltend
gemachten Kosten. Wenn sich aber schon aus dem EU-Recht kein derartiger Anspruch ergibt, kann sich ein solcher
Anspruch erst recht nicht aus dem Assoziierungsabkommen zwischen der Türkei und der EU ergeben, denn dieses
Abkommen geht nicht über den Regelungsgehalt des EU-Rechts hinaus.
Auch das innerstaatliche (bundesdeutsche) Recht begründet keinen Anspruch auf Übernahme der geltend gemachten
Kosten. Versicherte haben nach § 30 Abs. 1 Satz 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) Anspruch auf die
medizinisch notwendige Versorgung mit Zahnersatz (zahnärztliche Behandlung und zahntechnische Leistungen).
Dieser Anspruch wird aber durch § 16 Abs. 1 Nr. 1 SGB V eingeschränkt. Danach ruht der Anspruch auf Leistungen,
solange der Versicherte sich im Ausland aufhält. Diese Ruhensregelung ist Folge des in der GKV geltenden
Sachleistungsprinzips. Danach werden die Leistungen der GKV grundsätzlich als Sach- und Dienstleistungen erbracht
(§ 2 Abs. 2 SGB V). Die Gewährung von Krankenversorgung in Gebieten außerhalb des Geltungsbereichs des SGB V
wäre infolge der Bindung des Sachleistungssystems an das Territorialprinzip vielfach nicht oder nicht ordnungsgemäß
durchführbar (Urteil des Bundessozialgerichts vom 23. März 1993 - 12 RK 6/92 -, NZS 93, 544). Solange der Kläger
sich also in der Türkei aufhält, ob dauernd, vorübergehend oder nur kurzzeitig (Käsling in Krauskopf, Soziale
Krankenversicherung/Pflegeversicherung, Kommentar, § 16 SGB V RdNr. 6) ruht sein Anspruch auf die Versorgung
mit Zahnersatz. Ruhen in diesem Sinne bedeutet, dass der bestehende Leistungsanspruch nicht zu verwirklichen ist,
insbesondere der Leistungsberechtigte die Leistung nicht beanspruchen kann (Käsling a.a.O. RdNr. 3).
Die Voraussetzungen der gesetzlichen Ausnahmeregelungen zu dieser Ruhensbestimmung sind hier nicht erfüllt.
Weder hält sich der Kläger mit Zustimmung der Beklagten im Ausland auf (§ 16 Abs. 4 SGB V) noch ist ein Fall des §
17 SGB V (Erstattung von Kosten durch die Krankenkasse an den Arbeitgeber bei einer Beschäftigung im Ausland)
gegeben. Eine Behandlung des Klägers ist auch nicht nur im Ausland möglich (§ 18 Abs. 1 SGB V) und der Kläger
macht auch nicht die Kosten für eine „Akut-Erkrankung“ geltend (§ 18 Abs. 3 SGB V).
Ein Anspruch auf Übernahme der geltend gemachten Kosten ist auch nicht in das Ermessen der Beklagten gestellt.
Nach § 31 SGB I dürfen Rechte und Pflichten in den Sozialleistungsbereichen dieses Gesetzbuchs nur begründet,
festgestellt, geändert oder aufgehoben werden, soweit ein Gesetz es vorschreibt oder zulässt. Das bedeutet, dass die
Sozialversicherungsträger Leistungen nur dann gewähren dürfen, wenn ein Gesetz dies ausdrücklich zulässt.
Aufgrund dieses Gesetzesvorbehalts stehen die im Sozialgesetzbuch geregelten Begünstigungen nicht im freien
Ermessen der Verwaltung (Seewald in Kasseler-Kommentar, § 31 SGB I RdNr. 3). Im vorliegenden Fall fehlt es aber,
wie ausgeführt, an einer gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage für die Übernahme eines in der Türkei anzufertigenden
Zahnersatzes.
Auch das von dem Kläger vorgetragene Argument der Wirtschaftlichkeit kann seiner Klage nicht zum Erfolg verhelfen.
Der Gesichtspunkt der Wirtschaftlichkeit ist lediglich im System der GKV zu berücksichtigen und begründet keinen
Anspruch auf eine (preisgünstigere) Behandlung im Ausland.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt dem Ergebnis in der Hauptsache.
Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 2 SGG liegen nicht vor.