Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 09.11.2006

LSG Berlin-Brandenburg: befreiung von der versicherungspflicht, beweislast, beitragspflicht, unverzüglich, einverständnis, beweismittel, auskunft, neutralität, betriebsstätte, erwerbstätigkeit

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Gericht:
Landessozialgericht
Berlin-Brandenburg
22. Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
L 22 R 1780/06
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
§ 103 S 1 SGG, § 196 Abs 1 SGB
6, § 2 S 1 Nr 9 SGB 6
Gesetzliche Rentenversicherung - Versicherungspflicht wegen
selbständiger Erwerbstätigkeit - Umfang der
Amtsermittlungspflicht - Darlegungs- und objektive Beweislast -
Ausforschungsbeweis
Tenor
Auf die Berufung des Klägers werden der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom
09. November 2006 und der Bescheid vom 23. März 2005 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 25. Januar 2006 aufgehoben.
Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu
erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Der Kläger wendet sich gegen die Feststellung von Versicherungspflicht und die Zahlung
von Pflichtbeiträgen zur Rentenversicherung wegen seiner selbständigen Tätigkeit.
Der 1966 geborene Kläger nahm zum 01. September 2004 eine selbständige Tätigkeit
als Visagist und Einzelhändler mit Kosmetikprodukten mit Betriebssitz im K (K) auf. Er
beschäftigt keine Mitarbeiter.
Im November 2004 bat er um einen rechtsbehelfsfähigen Bescheid über die Befreiung in
der Rentenversicherung. Der Aufforderung der Beklagten, den entsprechenden Vordruck
ausgefüllt zurück zu senden, kam er nicht nach. Mit Bescheid vom 16. Februar 2005
lehnte die Beklagte die Befreiung von der Versicherungspflicht gemäß § 6 Abs. 1 a Nr. 1
Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI) ab, weil die Informationen nicht ausreichten,
dem Antrag stattzugeben.
Mit Bescheid vom 23. März 2005 stellte die Beklagte Versicherungspflicht ab 01.
September 2004 nach § 2 Satz 1 Nr. 9 SGB VI fest. Sie forderte außerdem für die Zeit
vom 01. September 2004 bis 31. März 2005 Pflichtbeiträge von insgesamt 1.648,22 Euro
auf der Grundlage eines Monatsbeitrages von 235,46 Euro. Der Beitrag entspreche dem
halben Regelbeitrag, dem ein Arbeitseinkommen in Höhe von 1.207,50 Euro monatlich
zugrunde liege. Die künftigen Beiträge in Höhe von 235,46 Euro monatlich seien bis zum
15. des folgenden Kalendermonats zu zahlen.
Den dagegen eingelegten Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom
25. Januar 2006 zurück.
Dagegen hat der Kläger am 27. Februar 2006 beim Sozialgericht Berlin Klage erhoben.
Nach entsprechender Anhörung hat das Sozialgericht die Klage mit Gerichtsbescheid
vom 09. November 2006 abgewiesen: Der Bescheid vom 23. März 2005 in der Gestalt
des Widerspruchsbescheides vom 25. Januar 2006 sei rechtmäßig, denn der Kläger sei
als selbständig Tätiger versicherungspflichtig. Weder Widerspruch noch Klage seien
begründet worden. Das Gericht folge der Begründung in den angegriffenen Bescheiden.
Gegen den seinem Prozessbevollmächtigten am 17. November 2006 zugestellten
Gerichtsbescheid richtet sich die am 18. Dezember 2006, einem Montag, eingelegte
Berufung des Klägers.
Er ist der Auffassung, nicht versicherungspflichtig zu sein, da er für mehr als einen
Auftraggeber tätig werde.
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Der Kläger beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 09. November 2006 zu ändern
und den Bescheid vom 23. März 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom
25. Januar 2006 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie meint, die vorgelegte Gewerbeanmeldung spreche zwar eher für eine Tätigkeit für
mehrere Auftraggeber. Allerdings könnte die Tätigkeit auch für einen großen
Kosmetikhersteller erfolgen, der ggf. als Auftraggeber anzusehen sein könnte.
Außerdem käme das Kals Auftraggeber in Betracht. Die Beweispflicht könne nicht dazu
führen, dass die Beklagte die Tätigkeit für nur überwiegend einen Auftraggeber
nachweisen müsse, wenn der Kläger seinen Mitwirkungspflichten aus § 196 Abs. 1 SGB VI
nicht nachkomme.
Die Beteiligten haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche
Verhandlung erklärt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes sowie des Vorbringens der
Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsakte
der Beklagten (), die bei der Entscheidung vorgelegen haben, verwiesen.
Entscheidungsgründe
Der Senat kann ohne mündliche Verhandlung entscheiden, denn die Beteiligten haben
hierzu ihr Einverständnis erklärt (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG).
Die zulässige Berufung ist begründet.
Das Sozialgericht hat zu Unrecht die Klage abgewiesen. Der Bescheid vom 23. März
2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. Januar 2006 ist rechtswidrig
und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Dass der Kläger wegen seiner selbständigen
Tätigkeit versicherungspflichtig ist und deswegen Pflichtbeiträge zur Rentenversicherung
schuldet, wird durch keinerlei Tatsachenvorbringen seitens der Beklagten gestützt, so
dass sich eine Beweiserhebung verbietet, denn Ausforschungsbeweise sind unzulässig.
Nach § 2 Satz 1 Nr. 9 SGB VI sind versicherungspflichtig selbständig tätige Personen, die
a) im Zusammenhang mit ihrer selbständigen Tätigkeit regelmäßig keinen
versicherungspflichtigen Arbeitnehmer beschäftigen (bis 30. April 2007; vgl. Art 1 Nr. 2
Buchstabe b Gesetz vom 20. April 2007 - BGBBl I 2007, 554:, dessen Arbeitsentgelt aus
dieser Beschäftigung regelmäßig 400 Euro im Monat übersteigt), und b) auf Dauer und
im Wesentlichen nur für einen Auftraggeber tätig sind, wobei ab 01. Juli 2006 (vgl. Art. 11
Nr. 1 Buchstabe a Gesetz vom 29. Juni 2006, BGBl I 2006, 1402) bei Gesellschaftern als
Auftraggeber die Auftraggeber der Gesellschaft gelten.
Diese Voraussetzungen sind nicht einmal dargetan.
Die Beklagte trägt für das Vorliegen dieser Voraussetzungen die Darlegungslast und die
objektive Beweislast, denn sie macht das Bestehen von Versicherungspflicht mit der
daran anknüpfenden Beitragspflicht des Klägers geltend.
Schon nach dem Vorbringen der Beklagten ist nicht ersichtlich, dass der von ihr
behauptete Anspruch bestehen könnte. Sie macht keine Tatsachen geltend, sondern
weist lediglich auf verschiedene Möglichkeiten der selbständigen Tätigkeit hin, die nicht
notwendigerweise zur Versicherungspflicht führen. Fehlt mithin insoweit ein
ausreichender Tatsachenvortrag, kommt eine Beweiserhebung nach solchen Tatsachen,
also im Sinne eines Ausforschungsbeweises oder einer Beweiserhebung „ins Blaue
hinein“, nicht in Betracht. Erst recht sind keinerlei Beweismittel ersichtlich oder benannt,
mit denen insoweit wesentliche Tatsachen bewiesen werden könnten.
Aus der Vorschrift des § 103 Satz 1 SGG, wonach das Gericht den Sachverhalt von Amts
wegen erforscht, folgt nichts anderes. Der Umfang der Amtsermittlungspflicht richtet
sich nach dem Streitgegenstand. Er bestimmt sich nach dem Einzelfall und dem Vortrag
der Beteiligten. Das Gericht muss nicht nach Tatsachen forschen, für deren Bestehen
die Umstände des Einzelfalles keine Anhaltspunkte bieten. Nachforschungen sind nur
erforderlich, soweit sie der Sachverhalt oder Vortrag der Beteiligten nahe legen (vgl.
Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, Sozialgerichtsgesetz, Kommentar, 8. Auflage, § 103
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Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, Sozialgerichtsgesetz, Kommentar, 8. Auflage, § 103
Rdnrn. 4 und 7).
Voraussetzung ist damit, dass derjenige, der ein Recht geltend macht, ein Minimum an
Tatsachen vorträgt, die sein Begehren schlüssig werden lassen. Das Gericht prüft,
welche Tatsachen vorliegen müssen, damit es die begehrte Rechtsfolge aussprechen
kann. Ist undenkbar, dass das in Anspruch genommene Recht besteht, auch wenn der
Vortrag als richtig unterstellt wird, und können auch weitere tatsächliche Elemente, die
vom Gericht zu ergänzen und festzustellen wären, an diesem Ergebnis nichts ändern,
bedarf es keiner Beweisaufnahme, denn der behauptete Anspruch ist bereits nicht
schlüssig dargetan. Sind die Tatsachen ausreichend, um den Anspruch zu begründen,
muss das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen erforschen, also zu den Tatsachen
Beweis erheben, die weder offenkundig noch gerichtsbekannt sind (vgl. Meyer-Ladewig,
a.a.O., § 128 Rdnr. 2). Das Ausmaß der Ermittlungen steht hierbei im pflichtgemäßen
Ermessen des Gerichts (vgl. Meyer-Ladewig, a.a.O., § 103 Rdnr. 4).
An dem erforderlichen Tatsachenvorbringen der Beklagten fehlt es.
Die Beklagte erteilte den Bescheid vom 23. März 2005, ohne dass ihr irgendwelche
Tatsachen zur selbständigen Tätigkeit bekannt waren. Dementsprechend enthält weder
dieser Bescheid noch der Widerspruchsbescheid vom 25. Januar 2006 eine Begründung
für die festgestellte Versicherungspflicht. Welcher diesbezüglichen Begründung das
Sozialgericht nach seinem Gerichtsbescheid gefolgt sein will, erschließt sich dem Senat
nicht.
Nach der Gewerbeanmeldung vom 30. September 2004 besteht eine selbständige
Tätigkeit als Visagist und Einzelhändler mit Kosmetikprodukten. Diese
Tätigkeitsbezeichnung bietet nicht den geringsten Hinweis darauf, dass der Kläger seine
Dienstleistung im Wesentlichen gegenüber einem Kunden (Auftraggeber) erbringt. Die
Beklagte selbst hat dies eingeräumt. Sie meint jedoch, als Auftraggeber könnten das
Kund ein großer Kosmetikhersteller in Betracht kommen. Das Vorbringen der Beklagten
erschöpft sich insoweit allerdings in Vermutungen, ohne dass es dafür irgendwelche
konkreten Tatsachen gibt. Die einzige weitere Tatsache, die bekannt ist, ist diejenige,
dass der Kläger seine Betriebsstätte im K hat. Daraus ist jedoch allenfalls ein
Mietverhältnis mit dem K oder möglicherweise auch eine abhängige Beschäftigung im
Verhältnis zum K abzuleiten.
Es ist nicht Aufgabe des zur Neutralität verpflichteten Gerichts, nach den zutreffenden
und insbesondere rechtserheblichen Tatsachen zu suchen, also Ausforschungsbeweis zu
betreiben, sondern zu vorgetragenen Tatsachen des Beteiligten, dem die Darlegungslast
obliegt, Sachverhaltsaufklärung durch Erhebung der erforderlichen Beweise zu betreiben.
Da die Beklagte solche Tatsachen nicht vorgetragen hat, kommt eine Beweiserhebung
nicht in Betracht.
Unabhängig davon hat die Beklagte trotz Aufforderung des Senats auch keine
Beweismittel benannt, mit denen Beweis zu welchen Tatsachen auch immer erhoben
werden könnte.
Die Unkenntnis der Beklagten von den Tatsachen, die für die Feststellung der
Versicherungs- und Beitragspflicht erforderlich sind, berechtigt nicht, Bescheide über die
Feststellung der Versicherungspflicht und die zu zahlenden Beiträge „ins Blaue hinein“
zu erlassen. Soweit der Rentenversicherungsträger Anhaltspunkte dafür hat, nach denen
die Möglichkeit besteht, dass Versicherungspflicht vorliegen kann, kann er die infrage
kommende Person um Auskunft über die insoweit maßgeblichen Tatsachen ersuchen,
dem diese unverzüglich nachzukommen hat (§ 196 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI). Solche
Personen haben dem Träger der Rentenversicherung auf dessen Verlangen auch
unverzüglich die Unterlagen vorzulegen, aus denen die maßgebenden Tatsachen
hervorgehen (§ 196 Abs. 1 Satz 2 SGB VI). Kommt der Betroffene seiner Auskunfts- und
Vorlagepflicht nicht nach, ist der Rentenversicherungsträger berechtigt und verpflichtet,
die Vornahme der entsprechenden Handlungen im Wege der Vollstreckung
durchzusetzen. Wenn der Rentenversicherungsträger - wie hier die Beklagte - davon
keinen Gebrauch macht und deswegen keine Tatsachen für das Bestehen von
Versicherungspflicht benennen kann, geht dies zu seinen Lasten, denn er trägt insoweit
die Darlegungslast und die objektive Beweislast.
Die Berufung hat somit Erfolg.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs. 1 SGG und entspricht dem Ergebnis des
Rechtsstreits.
33 Die Revision ist nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen hierfür (§ 160 Abs. 2 Nrn. 1
und 2 SGG) nicht vorliegen.
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