Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 17.11.2010

LSG Berlin-Brandenburg: grobe fahrlässigkeit, verwaltungsakt, erlass, anfang, rechtswidrigkeit, sorgfalt, nettoeinkommen, bruttoeinkommen, leistungsanspruch, rückforderung

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Gericht:
Landessozialgericht
Berlin-Brandenburg 5.
Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
L 5 AS 1710/08
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
§ 11 Abs 1 S 1 SGB 2, § 40 Abs
1 S 1 SGB 2, § 40 Abs 1 S 2 Nr 1
SGB 2, § 40 Abs 2 S 2 SGB 2, §
330 Abs 2 SGB 3
Grundsicherung für Arbeitsuchende -
Einkommensberücksichtigung - Arbeitsentgelt - Aufhebung oder
Rücknahme des Verwaltungsaktes - Umdeutung
Leitsatz
Ist ein Bescheid über die Bewilligung von laufenden Leistungen nach dem SGB II wegen der
Erzielung von Einkommen nach seinem Erlass aufgehoben worden, hat der
Leistungsempfänger das Einkommen aber tatsächlich bereits vor Erlass des Bescheids
erzielt, so kann die Bescheidbegründung unproblematisch durch den Hinweis auf die
Tatsache, dass der Verwaltungsakt von Anfang an rechtswidrig war, ausgetauscht werden,
wenn der Leistungsempfänger um die Rechtswidrigkeit des ihn begünstigenden Bescheids
wusste oder er sie hätte erkennen müssen. Die entsprechenden Rechtsgrundlagen, §§ 45 und
48 SGB X, sind nämlich auf dasselbe Ziel gerichtet und in beiden Fällen handelt es sich um
gebundene Entscheidungen.
Tenor
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 18.
Juli 2008 wird zurückgewiesen.
Die Beteiligten haben einander auch für das Berufungsverfahren keine Kosten zu
erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Der Kläger wendet sich gegen die teilweise Aufhebung und Rückforderung in dem
Zeitraum vom 01. Juni bis zum 30. September 2005 erbrachter Leistungen nach dem
Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II).
Der 1981 geborene Kläger erhielt bis zum 25. April 2005 Leistungen der Agentur für
Arbeit. Am 19. April 2005 beantragte er die Gewährung von Leistungen zur Sicherung
des Lebensunterhalts nach dem SGB II. Ausweislich der Verwaltungsvorgänge des
Beklagten erfolgten weitere Vorsprachen am 09. und 30. Mai 2005. Dabei legte der
Kläger unter anderem seinen Mietvertrag, Kontoauszüge und den Personalausweis vor.
Mit Bescheid vom 15. Juni 2005 bewilligte der Beklagte dem Kläger für die Zeit vom 19.
April bis zum 30. September 2005 Leistungen nach dem SGB II.
Mit Schreiben vom 20. Juni 2005, bei dem Beklagten eingegangen am 29. Juni 2005,
zeigte der Kläger an, dass er am 16. Mai 2005 eine unbefristete Tätigkeit als
Produktionshelfer bei R in einem Umfang von 15 Stunden und mehr wöchentlich
aufgenommen habe.
Unter dem 14. Juli 2005 wandte sich der Beklagte an den Kläger. Ihm sei, so heißt es in
dem Schreiben, bekannt geworden, dass dieser seit dem 16. Mai 2005 aus einer
Tätigkeit bei R Einkommen erziele, das auf das Arbeitslosengeld II anzurechnen sei. Die
Höhe des erzielten Verdienstes sei bislang nicht bekannt, weshalb gebeten werde, sie
durch Vorlage der beigefügten „Einkommenserklärung“, die vom Arbeitgeber
auszufüllen sei, nachzuweisen. Es werde um Rückgabe bis zum 31. Juli 2005 gebeten.
Am 23. August 2005 teilte der Kläger nochmals mit, dass er seit dem 16. Mai 2005 in
einem Beschäftigungsverhältnis stehe.
Ebenfalls unter dem 23. August 2005 forderte der Beklagte den Kläger auf, bis
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Ebenfalls unter dem 23. August 2005 forderte der Beklagte den Kläger auf, bis
spätestens zum 09. September 2005 die monatlichen Einkommensbescheinigungen ab
dem 16. Mai 2005 vorzulegen.
Unter dem 13. Oktober 2005 hörte der Beklagte den Kläger zur beabsichtigten
Aufhebung der Leistungsbewilligung für die Zeit vom 16. Mai 2005 bis zum 30.
September 2005 in Höhe von 2.322,23 Euro an; er habe in dem genannten Zeitraum
einen Betrag in dieser Höhe zu Unrecht bezogen. Offenbar zur Begründung heißt es:
„eigene Abmeldung wegen Arbeitsaufnahme, Entziehung wegen fehlender
Mitwirkungspflicht - Verdienstbescheinigung nicht eingereicht“. Aufgrund dieser Tatsache
errechne sich kein Leistungsanspruch mehr. Nach den vorliegenden Unterlagen habe er
die Überzahlung verursacht, da er eine für den Leistungsanspruch erhebliche Änderung
in seinen Verhältnissen verspätet angezeigt habe.
Am 27. Oktober 2005 sprach der Kläger daraufhin erneut bei dem Beklagten vor und
teilte mit, er habe sich pünktlich abgemeldet, als er den Antrag abgegeben habe. Dann
habe er schriftlich eine Veränderungsmitteilung geschickt. Er sei dann noch einmal
persönlich da gewesen und da habe es endlich geklappt. Die Bearbeiterin habe gesagt,
dass er kein Einzelfall sei und er nehme deshalb keine Schuld auf sich. Er habe alles
getan. Er gehe auch sieben Tage die Woche arbeiten und könne nicht jeden Tag zum
Amt gehen. Im Übrigen könne er das Geld auch nicht auf einmal zurückzahlen; soviel
verdiene er nicht. Offenbar legte der Kläger zu diesem Zeitpunkt auch die von seinem
Arbeitgeber unter dem 12. September 2005 ausgestellte Einkommensbescheinigung
vor. Sie befindet sich zwar im Original bei den Verwaltungsvorgängen, jedoch ohne
Eingangsstempel des Beklagten. In der Einkommensbescheinigung heißt es, die
Beschäftigung werde seit dem 16. Mai 2005 ausgeübt. Der Kläger habe im August 2005
1.073,83 Euro brutto verdient, das sozialversicherungspflichtige Entgelt habe 926,97
Euro betragen. Das Einkommen sei nicht monatlich gleich; die Auszahlung sei jeweils am
15. des Folgemonats fällig. Der Einkommensbescheinigung nachgeheftet ist die Kopie
einer vom 11. Juni 2005 datierenden Entgeltabrechnung von R für den Monat Mai 2005.
Dieser zufolge erzielte der Kläger im Mai 2005 ein Bruttoeinkommen von 550,86 Euro,
was einem Nettoeinkommen von 478,19 Euro entsprach.
Mit Bescheid vom 10. Januar 2006 hob der Beklagte die Entscheidung über die
Bewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts mit Wirkung vom 16. Mai
2005 bis zum 30. September 2005 auf und forderte die zu Unrecht gezahlten Leistungen
in Höhe von 2.322,23 Euro mit der Begründung zurück, der Kläger habe aus einer
Beschäftigung seit dem 16. Mai 2005 Einkommen bezogen. Die Entscheidung beruhe
auf § 48 Abs. 1 Satz 2 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) i.V.m. § 40 Abs. 1 SGB II
und § 330 Abs. 3 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III). Den zu Unrecht gezahlten
Betrag habe der Kläger zu erstatten.
Gegen den Bescheid legte der Kläger unter dem 31. Januar 2006 Widerspruch ein und
führte zur Begründung aus, er habe unmittelbar nach der Aufnahme seiner Arbeit bei R
im Mai 2005 die entsprechende Veränderungsmitteilung und später auch den
Einkommensbescheid übersandt. Bei einem Termin am 21. Juli 2005 habe er die
Bearbeiterin auf die veränderte Situation hingewiesen und am 12. September 2005 habe
er das „Zusatzblatt 2.2.“ übersandt. Eine Reaktion sei auf all dies nicht erfolgt, so dass
er davon ausgegangen sei, dass aufgrund der im Zusammenhang mit dem Gespräch
vom 21. Juli 2005 erwähnten Freibeträge und der Einstellung der Zahlung nach dem 30.
September 2005 die Angelegenheit erledigt gewesen sei. Nun, ein halbes Jahr später,
werde ihm mitgeteilt, dass er auf die erhaltenen Leistungen, die er für lebensnotwendige
Ausgaben verbraucht habe, keinen Anspruch gehabt habe. Zwar sei ihm formal die
Möglichkeit zu einer Stellungnahme gegeben worden. Praktisch aber sei dies eine Farce,
denn er solle ja bis zum 12. Februar 2006 schon gezahlt haben.
Mit Bescheid vom 16. August 2007 nahm der Beklagte den Aufhebungs- und
Erstattungsbescheid vom 10. Januar 2006 teilweise zurück und hob die Entscheidung
über die Bewilligung von Leistungen nach dem SGB II mit Wirkung vom 01. Juni bis zum
30. Juni 2005 teilweise und ab dem 01. Juli 2005 ganz auf. Zur Begründung heißt es in
dem Bescheid, der Kläger befinde sich seit dem 16. Mai 2005 in einem
Beschäftigungsverhältnis und erhalte Einkommen. Das Einkommen werde im
Folgemonat ausgezahlt. Dementsprechend finde die Anrechnung des Maieinkommens
im Juni 2006 statt, die Anrechnung für Juni 2005 finde ab Juli 2005 statt. Dadurch habe
der Kläger im Juni 2006 einen geringeren und ab 01. Juli 2005 keinen Anspruch mehr auf
Leistungen. Die Überzahlung mindere sich von 2.322,23 Euro auf 1.895,44 Euro. Mit
Widerspruchsbescheid vom selben Tag wies der Beklagte den Widerspruch des Klägers
im Übrigen zurück und führte zur Begründung aus, er habe im Mai 2005 ein
Bruttoeinkommen von 586,39 Euro erzielt. Nach Abzug der Steuern und
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Bruttoeinkommen von 586,39 Euro erzielt. Nach Abzug der Steuern und
Sozialversicherungsbeiträge in Höhe von 108,20 Euro, des Pauschbetrags für
Versicherungen in Höhe von 30 Euro und der Werbungskostenpauschale in Höhe von
15,33 Euro ergebe sich ein bereinigtes Nettoeinkommen in Höhe von 432,86 Euro, auf
dessen Grundlage die Freibeträge des § 30 SGB II zu berechnen seien. Nach Abzug des
Gesamtfreibetrags in Höhe von 85,57 Euro ergebe sich ein anzusetzendes
Erwerbseinkommen in Höhe von 347,29 Euro. Dieses werde im Juni 2005 vom
Gesamtbedarf abgezogen. Letzterer setze sich aus der Regelleistung in Höhe von 345
Euro und den Kosten der Unterkunft in Höhe von 171,05 Euro zusammen und betrage
somit 516,05 Euro. Nach Anrechnung des Einkommens verbleibe für den Monat Juni
2005 ein Restanspruch in Höhe von 168,76 Euro. Im Juni 2005 habe der Kläger ein
Bruttoeinkommen von 1.073,83 Euro erzielt, von welchem Steuern und
Sozialversicherungsbeiträge in Höhe von 353,58 Euro, ein Pauschbetrag für
Versicherungen in Höhe von 30 Euro und eine Werbungskostenpauschale in Höhe von
15,33 Euro abzuziehen seien, so dass sich ein bereinigtes Nettoeinkommen in Höhe von
674,92 Euro ergebe, von welchem die Freibeträge nach § 30 SGB II in Höhe von hier
insgesamt 148,38 Euro abzuziehen seien. Das anzusetzende Erwerbseinkommen
betrage danach im Juni 2005 526,54 Euro und werde im Juli 2005 von dem 516,05 Euro
betragenden Gesamtbedarf abgezogen. Das anzurechnende Einkommen übersteige
mithin im Juli 2005 den Bedarf, so dass mangels Bedürftigkeit kein Anspruch auf
Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts bestehe. Dies gelte für die Zeit ab dem
01. Juli 2005. Die Teilaufhebung der Bewilligungsentscheidung stütze sich auf § 48 Abs. 1
Satz 2 Nr. 3 SGB X i.V.m. § 330 Abs. 3 SGB III. Danach sei der Verwaltungsakt
rückwirkend vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufzuheben, soweit nach
Antragstellung oder Erlass des Verwaltungsakts Einkommen oder Vermögen erzielt
worden sei, das zum Wegfall oder zur Minderung des Anspruchs geführt habe. Diese
Voraussetzung sei hier erfüllt. Der Kläger hätte auch erkennen müssen oder zumindest
leicht erkennen können, dass der grundsätzliche Leistungsanspruch für die Monate Juni
bis September 2005 teilweise/voll weggefallen sei und er daher zu Unrecht Leistungen
erhalten habe. Mit einer Rückforderung der zu Unrecht bezogenen Leistungen hätte er
deshalb rechnen müssen. Die Erstattungspflicht ergebe sich aus § 50 Abs. 1 SGB X.
Danach seien bereits gezahlte Leistungen zu erstatten, sobald der Verwaltungsakt
aufgehoben worden sei. Auf ein Verschulden des Klägers komme es nach dem klaren
Wortlaut des § 48 SGB X nicht an. Vielmehr sei der Leistungsträger ohne Ausübung von
Ermessen verpflichtet, die Leistungsbewilligung rückwirkend aufzuheben und
anzupassen. Der Widerspruchsbescheid wurde dem Kläger am 23. November 2007
persönlich übergeben, nachdem er angegeben hatte, ihn bis dahin nicht erhalten zu
haben.
Daraufhin hat der Kläger am 06. Dezember 2007 Klage zum Sozialgericht Berlin
erhoben, um sein Begehren weiterzuverfolgen. Er hat vorgetragen, er habe bereits bei
der Antragstellung darauf hingewiesen, dass er ab dem 16. Mai 2005 bei R arbeiten
werde. Auch unmittelbar nach Aufnahme der Tätigkeit habe er die Arbeitsaufnahme
nochmals schriftlich angezeigt. Danach seien ihm die Leistungen zur Sicherung des
Lebensunterhalts bewilligt worden. Der Bewilligungsbescheid sei dementsprechend von
Anfang an rechtswidrig gewesen und habe nicht auf § 48 SGB X gestützt werden können,
weil es keine Änderung der Sach- und Rechtslage nach Erlass des Verwaltungsakts
gegeben habe. Auch sei der Aufhebungsbescheid nicht innerhalb der Frist des § 45 Abs.
4 SGB X ergangen, denn im Januar 2006 habe der Beklagte bereits weit mehr als ein Jahr
lang Kenntnis von der Einkommenserzielung gehabt. Im Übrigen habe er die erhaltenen
Leistungen für den Lebensunterhalt verbraucht. Er habe darauf vertraut, sie behalten zu
dürfen; sein diesbezügliches Vertrauen sei auch schutzwürdig, vor allem, weil man ihm
auf seine entsprechende Frage hin mitgeteilt habe, dass er aufgrund der hohen
Freibeträge die Leistungen weiterhin zu Recht erhalte.
Nach Anhörung der Beteiligten hat das Sozialgericht Berlin die Klage mit
Gerichtsbescheid vom 18. Juli 2008 abgewiesen und zur Begründung im Wesentlichen
ausgeführt, Ermächtigungsgrundlage für den Aufhebungs- und Erstattungsbescheid
seien §§ 40 SGB II, 330 SGB III und 45 Abs. 2 S. 3 Nr. 2 SGB X. Danach könne ein von
Anfang an rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt auch mit Wirkung für die
Vergangenheit zurückgenommen werden, wenn der Begünstigte erhebliche Tatsachen
vorsätzlich oder grob fahrlässig nicht rechtzeitig der Verwaltung mitgeteilt habe. Der
Kläger habe die Leistungen erstmalig am 19. April 2005 beantragt und seit diesem
Zeitpunkt auf die Erteilung des Leistungsbescheides und auf die Zahlung des Geldes
gewartet. Er habe die Aufnahme seiner Tätigkeit erst nach mehr als sechs Wochen,
nämlich am 29. Juni 2005, mitgeteilt. Für die Bestimmung der grob fahrlässigen
Nichtmitteilung sei auf einen objektiven Empfänger abzustellen. Dabei sei zu beachten,
was nach den konkreten Umständen des Einzelfalls vom Empfänger verlangt werden
könne. Jedenfalls die Mitteilung der Aufnahme einer Tätigkeit sechs Wochen nach
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könne. Jedenfalls die Mitteilung der Aufnahme einer Tätigkeit sechs Wochen nach
Beschäftigungsaufnahme lasse die im Verkehr erforderliche Sorgfalt in erheblichem
Maße außer Betracht. Es hätte einem Leistungsantragsteller in jedem Fall bewusst sein
müssen, dass Nebenverdienst sich auf die Leistungshöhe auswirke und insofern als
Grundlage für die Bescheiderteilung wesentlich sei. Dies räume der Antragsteller auch
ein. Dabei könne das Gericht aufgrund des Akteninhalts lediglich davon ausgehen, dass
der Kläger die Anzeige am 29. Juni 2005 getätigt habe. Zwar habe er anwaltlich
vortragen lassen, dass er dies schon bei Antragstellung getan habe. Ein diesbezüglicher
Verweis finde sich in der Akte jedoch nicht. Auch das Zusatzblatt hinsichtlich des
Nebenverdienstes enthalte keinen diesbezüglichen Hinweis des Antragstellers. Weitere
Feststellungen seien nicht möglich, weshalb der Kläger die Nichterweislichkeit dieser
Tatsache als Nachteil tragen müsse. Die zu späte Mitteilung der Aufnahme der Tätigkeit
sei ursächlich für die Erteilung des Leistungsbescheides gewesen, die falsche
Leistungshöhe beruhe insofern auf den Angaben des Klägers. Nach § 330 SGB III sei im
Fall des Vorliegens der Voraussetzungen von § 45 Abs. 2 S. 3 Nr. 2 SGB X der
Verwaltungsakt in jedem Fall zurückzunehmen. Ermessen habe dem Beklagten daher
nicht zugestanden. Es seien auch die Jahresfristen nach § 45 Abs. 5 SGB X eingehalten.
Der Beklagte habe innerhalb der Jahresfrist das Anhörungsschreiben vom 14. Juli 2005
an den Kläger geschickt sowie den Aufhebungsbescheid vom 10. Januar 2006 erlassen.
Der darauffolgende Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 16. August 2007 sei im
Rahmen des anhängigen Widerspruchsverfahrens nach § 86 SGG ergangen. Der
Beklagte habe die Erstattungsforderung nach Erlass des ursprünglichen
Aufhebungsbescheides ohne Rechtsprobleme reduzieren können. Die Einjahresfrist nach
§ 45 Abs. 5 SGB X habe nicht zur Voraussetzung, dass das Widerspruchsverfahren
innerhalb eines Jahres abgeschlossen sein müsse.
Gegen den ihm am 28. Juli 2008 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 15.
August 2008 Berufung eingelegt. Er ist der Auffassung, ein Aufhebungs- und
Erstattungsbescheid nach § 48 SGB X könne nicht in einen solchen nach § 45 SGB X
umgedeutet werden, da letzterer die Ausübung von Ermessen erfordert hätte, welches
hier jedoch nicht geschehen sei. Die Entscheidung könne auch nicht auf § 45 Abs. 2 S. 3
Nr. 2 SGB X gestützt werden. Es sei dem Gericht verwehrt, die vom Beklagten gewählte
Begründung durch eine eigene, von den Beteiligten ganz bewusst nicht vorgetragene zu
ersetzen. Grundlage der Aufhebungsentscheidung des Beklagten sei allein die sich nach
dessen - irriger - Auffassung nach § 48 SGB X richtende Erzielung von Einnahmen sowohl
nach Antragstellung als auch nach Erlass der Entscheidung gewesen, nicht aber eine
grob fahrlässige, fahrlässige oder unverschuldet verspätete Veränderungsmitteilung. Im
Übrigen sei er auch nicht grob fahrlässig gewesen, denn angesichts seiner
vergleichsweise schlechten Sprachkenntnisse könne man ihm kaum vorwerfen, dass er
die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt habe. Schließlich sei es
dem Gericht auch verwehrt, seine Entscheidung ohne vorherigen Hinweis auf diese für
alle Beteiligten überraschenden Erwägungen zu stützen. Schließlich sei der angegriffene
Bescheid auch nicht hinreichend bestimmt, weil es an einer monatlichen Unterteilung
der einzelnen Aufhebungs- und Erstattungsbeträge ebenso wie an einer Unterteilung in
aufzuhebende Regelleistung und Leistungen für Kosten der Unterkunft und Heizung
fehle.
Der Kläger beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 18. Juli 2008 sowie den
Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 10. Januar 2006 in der Fassung des
Teilabhilfe- und des Widerspruchsbescheids vom 16. August 2007 aufzuheben,
hilfsweise, die Revision zuzulassen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung des Klägers zurückzuweisen.
Er hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands im Übrigen wird auf
den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten
(Nr. der Bedarfsgemeinschaft: ) verwiesen, der Gegenstand der mündlichen
Verhandlung gewesen ist.
Entscheidungsgründe
Die Berufung des Klägers hat keinen Erfolg. Sie ist zwar statthaft (§ 143
Sozialgerichtsgesetz [SGG]) und auch im Übrigen zulässig, insbesondere fristgerecht
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Sozialgerichtsgesetz [SGG]) und auch im Übrigen zulässig, insbesondere fristgerecht
eingelegt (§ 151 SGG). Sie ist jedoch nicht begründet, denn das Sozialgericht Berlin hat
die Anfechtungsklage zu Recht zurückgewiesen. Der Aufhebungs- und
Erstattungsbescheid des Beklagten vom 10. Januar 2006 in der Fassung des Teilabhilfe-
und des Widerspruchsbescheids vom 16. August 2007 ist rechtmäßig.
Der vom 15. Juni 2005 datierende Bewilligungsbescheid war von Anfang an rechtswidrig
und nach §§ 40 Abs. 1 Satz 1 SGB II, 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X sowie § 40 Abs. 1 Satz
2 Nr. 1 SGB II i.V.m. § 330 Abs. 2 SGB III in entsprechender Anwendung mit Wirkung für
die Vergangenheit zurückzunehmen, weil der Kläger die Rechtswidrigkeit entweder
kannte oder jedenfalls infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte.
Der Bewilligungsbescheid vom 15. Juni 2005 wurde dem Kläger nicht persönlich
übergeben. Jedenfalls ist solches dem Verwaltungsvorgang des Beklagten nicht zu
entnehmen. Wurde er dem Kläger übersandt, so ist er ihm zu einem nicht bekannten
Zeitpunkt nach dem 15. Juni 2005, jedenfalls aber nicht am 15. Juni 2005, zugegangen.
Erst zu diesem Zeitpunkt kann der Verwaltungsakt bekannt gegeben und damit erlassen
worden sein (§ 37 Abs. 1 Satz 1 SGB X). Sein erstes Entgelt, nämlich das für den Monat
Mai 2005, erhielt der Kläger ausweislich der vom 11. Juni 2005 datierenden Abrechnung
der Arbeitgeberin am 15. Juni 2005, mithin vor Eintritt der Wirksamkeit des
Bewilligungsbescheids. Letzterer war damit von Anfang an rechtswidrig, weil das bereits
erzielte Einkommen des Klägers nicht berücksichtigt war.
Dass der Bewilligungsbescheid rechtswidrig war, hätte der Kläger auch wissen oder
zumindest erkennen müssen. Kannte er die Rechtswidrigkeit des Bescheids nicht, so ist
ihm jedenfalls grobe Fahrlässigkeit im Sinne einer besonders schweren Verletzung der
erforderlichen Sorgfalt vorzuwerfen (§ 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X). Mit der
Antragstellung hat er versichert, dass er Änderungen der von ihm gemachten Angaben,
insbesondere die Familien-, Einkommens- und Vermögensverhältnisse betreffenden,
unaufgefordert und unverzüglich mitteilen werde. Ihm war also bewusst oder hätte
bewusst sein müssen, dass diese Angaben für die Berechnung der ihm zustehenden
Leistungen von großer Bedeutung sind. Dass ein auf der Grundlage der Angabe, dass
kein Einkommen erzielt wird, erstellter Bescheid nicht rechtmäßig sein kann, wenn
tatsächlich Einkommen erzielt wird, war für ihn ohne Weiteres erkennbar. Dies gilt auch
unter Berücksichtigung des Umstands, dass der Kläger der deutschen Sprache nicht in
derselben Weise mächtig ist wie ein Muttersprachler. Er hat den entsprechenden Passus
unterschrieben. Soweit er seine Unterschrift geleistet haben sollte, ohne sich über den
Inhalt der Erklärung im Klaren zu sein, stellt auch dies eine grobe
Sorgfaltspflichtverletzung dar. Er hätte in diesem Fall die Möglichkeit gehabt,
nachzufragen und sich die Bedeutung der Erklärung erläutern zu lassen. Auch hatte der
Kläger zuvor Arbeitslosengeld I mit einem Leistungssatz von 15,07 Euro kalendertäglich
bezogen, ohne zugleich bei dem Beklagten im Leistungsbezug zu stehen. Da das mit
der Arbeitgeberin vereinbarte und erstmals am 15. Juni 2005 zu erwartende Entgelt
höher als die zuvor bezogenen Leistungen war, musste ihm bewusst sein, dass die
bewilligten Leistungen ihm nicht oder jedenfalls nicht in dieser Höhe zustehen konnten,
der Bescheid also nicht rechtmäßig sein konnte. Es kommt deshalb nicht darauf an,
wann der Kläger dem Beklagten erstmals Mitteilung von dem Beschäftigungsverhältnis
und der Einkommenserzielung gemacht hat.
Da der Kläger die Rechtswidrigkeit des Bewilligungsbescheids jedenfalls infolge grober
Fahrlässigkeit nicht kannte, die Voraussetzungen des § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X
also vorlagen, war der Verwaltungsakt nach § 40 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II i.V.m. § 330
Abs. 2 SGB III (auch) für die Vergangenheit zurückzunehmen; einen Ermessensspielraum
hatte der Beklagte insoweit nicht. Er hat deshalb zu Recht darauf hingewiesen, dass der
Umstand, dass er den angefochtenen Bescheid fälschlicherweise auf § 40 Abs. 1 Satz 1
und 2 SGB II i.V.m. § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB X und § 330 Abs. 3 Satz 1 SGB III
gestützt hat, sich letztlich nicht auswirkt. Der Austausch der Bescheidbegründung ist in
einem solchen Fall zulässig, denn die beiden Rechtsgrundlagen, §§ 45 und 48 SGB X,
sind auf dasselbe Ziel, nämlich die Aufhebung eines Verwaltungsakts gerichtet, und es
handelt sich in beiden Fällen um gebundene Entscheidungen (vgl. das Urteil des
Bundessozialgerichts [BSG] vom 16. Dezember 2008, B 4 AS 48/07 R, FEVS 60, 546;
Geiger in info also 2009, Seite 147 ff).
Die Rückforderung der nach Aufhebung des Bewilligungsbescheids ohne Rechtsgrund
erbrachten Leistungen erfolgte auf der Grundlage von § 50 Abs. 1 Satz 1 SGB X, dessen
Anwendung § 40 Abs. 1 Satz 1 SGB II vorschreibt. Zu Recht hat der Beklagte den
zurückzufordernden Betrag nicht nach § 40 Abs. 2 Satz 1 SGB II gemindert, denn nach §
40 Abs. 2 Satz 2 SGB II gilt diese Regelung nicht, wenn - wie hier - die Voraussetzungen
des § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X erfüllt sind. Dass die Höhe des
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Rückforderungsbetrags ansonsten fehlerhaft berechnet wäre, ist weder vorgetragen
noch ersichtlich.
Entgegen der Auffassung des Klägers ist der angegriffene Aufhebungs- und
Erstattungsbescheid auch nicht mangels hinreichender inhaltlicher Bestimmtheit im
Sinne des § 33 Abs. 1 SGB X rechtswidrig. Da es nur einen Bewilligungsbescheid, nämlich
den vom 10. Januar 2006, gab, konnte kein Zweifel bestehen, auf welchen Bescheid sich
die Aufhebungsentscheidung beziehen sollte. Die Höhe der Erstattungsforderung ließ
sich unschwer aus den im Aufhebungszeitraum gewährten Leistungen errechnen;
Bedenken hinsichtlich der Höhe hat der Kläger im Übrigen auch nicht geltend gemacht
(vgl. das Urteil des BSG vom 18. Februar 2010, B 14 AS 76/08 R, zitiert nach juris).
Die Kostenentscheidung findet ihre Grundlage in § 193 SGG und trägt dem Ausgang des
Verfahrens Rechnung.
Die Revision war nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 Nrn 1 und
2 SGG nicht vorliegen.
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