Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 21.02.2000

LSG Berlin und Brandenburg: selbständige erwerbstätigkeit, einkünfte aus erwerbstätigkeit, erwerbsunfähigkeit, auskunft, berufsunfähigkeit, psychiatrie, neurologie, eigentümer, geschäftsbetrieb

Landessozialgericht Berlin-Brandenburg
Urteil vom 21.02.2000 (rechtskräftig)
Sozialgericht Berlin S 28 J 543/94
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg L 16 RJ 72/97
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 8. Juli 1997 wird zurückgewiesen. Die
Beklagte trägt auch die außergerichtlichen Kosten der Klägerin im Berufungsverfahren. Die Revision wird nicht
zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist, ob der Klägerin Rente wegen Erwerbsunfähigkeit statt Rente wegen Berufsunfähigkeit zusteht.
Die im Dezember 1934 geborene Klägerin ist griechische Staatsbürgerin. Ab Januar 1971 war sie mit Unterbrechungen
in der Bundesrepublik Deutschland versicherungspflichtig beschäftigt. Zuletzt arbeitete sie als Raumpflegerin. Im
November 1989 wurde sie arbeitsunfähig krank und bezog Krankengeld bis zum 6. Juni 1991. Anschließend stand sie
im Leistungsbezug des Arbeitsamtes und bezog ab November 1991 Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem
Bundessozialhilfegesetz (BSHG) von dem Be-zirksamt Steglitz von Berlin. Seit April 1995 lebt die Klägerin wieder in
Griechenland.
Im April 1991 stellte die Klägerin einen Rentenantrag. Diesen lehnte die Beklagte zunächst mit Bescheid vom 3. Juni
1992 ab. Die Klägerin sei weder berufs- noch erwerbsunfähig.
Im Widerspruchsverfahren holte die Beklagte einen Befundbericht der behandelnden Ärztin für Neurologie und
Psychiatrie Dr. B. vom 20. Juli 1992 und ein Gutachten des Arztes für Neurologie und Psychiatrie R. ein. Dieser
stellte in seinem Gutachten vom 5. Dezember 1992 fest, bei der Klägerin liege im Wesentlichen eine destabilisierte
Charakterneurose mit depressiv-resignativer Entwicklung und starker Somatisierungstendenz vor. Das berufliche
Leistungsvermögen der Klägerin sei auf Dauer aufgehoben. Daraufhin teilte die Beklagte der Klägerin im Februar 1993
mit, ein Anspruch auf Rente wegen Berufsunfähigkeit werde anerkannt. Ob Erwerbsunfähigkeit bestehe sei nicht
geklärt, da selbständige Tätigkeit im Frage stehe.
Mit Bescheid vom 12. März 1993 gewährte die Beklagte der Klägerin ab dem 1. Mai 1991 Rente “vorerst nur wegen
Berufsunfähigkeit”.
Nachdem die Klägerin Untätigkeitsklage erhoben hatte (Sozialgericht - SG - Berlin - S 29 J 206/93) und das SG die
Beklagte mit Urteil vom 9. November 1993 verurteilt hatte, über den Antrag der Klägerin auf Gewährung einer Rente
wegen Erwerbsunfähigkeit zu entscheiden, erging der Widerspruchsbescheid vom 13. April 1994, mit dem die
Beklagte den Widerspruch gegen den Bescheid vom 3. Juni 1992 zurückwies, soweit er über das Teilanerkenntnis
vom 1. Februar 1993 (ausgeführt durch Bescheid vom 12. März 1993) hinausgehe. Es sei ungeklärt, ob
Erwerbsunfähigkeit vorliege, da eine selbständige Tätigkeit in der griechischen Landwirtschaft ausgeübt worden sei.
Die Klägerin habe landwirtschaftliches Eigentum in Griechenland.
Zu diesem Zeitpunkt lagen der Beklagten über den Landbesitz in Griechenland folgende Unterlagen vor:
1) Formblatt - Auskunft des griechischen Trägers der landwirtschaftlichen Sozialversicherung (OGA) ohne Datum,
übersetzt im Juli 1992, in der ausgeführt wird, die Klägerin sei seit 1971 in der Bundesrepublik Deutschland. Es sei
ein Besitz von 20 Stremmata landwirtschaftlicher Fläche im Heimatort Exaplatanos vorhanden, zur Hälfte mit
Pfirsichbäumen und zur Hälfte mit Weizen bebaut; die Fläche nutze zur Zeit der Sohn.
2) Fragebögen vom 29. August 1991 und 13. August 1992, in denen die Klägerin angibt, sie sei nicht Mitinhaberin oder
Eigentümerin eines Betriebes und habe keine Grundstücke verpachtet.
3) Bescheinigung der OGA vom 30. April 1993, die Klägerin habe keinen landwirtschaftlichen Besitz, die Familie habe
ca. 10 Stremmata verpachtet.
4) Bescheinigung der OGA vom 8. Juni 1993, die Klägerin habe kein Land, weitere Formblattfragen nicht ausgefüllt.
Mit ihrer Klage hat die Klägerin geltend gemacht, die Beklagte, die für diesen Umstand die Beweislast trage, habe
eine selbständige Erwerbstätigkeit nicht belegt. Insbesondere könne nicht von einer
Ehegattengesellschaft/Innengesellschaft ausgegangen werden, da sie keine landwirtschaftlichen Gründstücke mit
ihrem Ehemann zusammen bewirtschafte; zudem halte sie sich in der Bundesrepublik Deutschland auf bzw. habe
sich hier aufgehalten. Die Klägerin hat eine eigene als eidesstattliche Versicherung bezeichnete Erklärung vom 5.
April 1995 abgegeben, in der sie erklärt, die Angabe in der ersten Erklärung der OGA, sie habe Grundbesitz im
Umfang von 20 Stremmata, sei unzutreffend. Sie beruhe wohl darauf, dass ihr Ehemann bis 1980 20 Stremmata
bearbeitet habe (von dem ihm 5 und seinem Vater 15 gehört hätten). Seit 1980 bearbeite der Sohn K. diese Fläche.
Die Beklagte hat vorgetragen, die Klägerin sei, wie der ersten Auskunft der OGA zu entnehmen sei, Eigentümerin
einer landwirtschaftlichen Fläche, bezüglich derer sie weder Verkauf noch Verpachtung nachgewiesen habe. Dass sie
dort nicht arbeite, hindere die Annahme einer selbständigen Erwerbstätigkeit nicht. Soweit der Ehemann die Fläche
bewirtschaftet habe, ergebe sich daraus nach gesellschaftsrechtlichen Grundsätzen auch die Selbständigkeit der
Ehefrau. Auf die Höhe der Einkünfte komme es nicht an. Eine Obstanbaufläche von 5000 qm übersteige den in
Anlehnung an das Gesetz über die Altersversorgung der Landwirte (ALG) zu bestimmenden Selbstbehalt. Eine
Ehegattengesellschaft bestehe immer, wenn erzielbare Erträge dem Gesamtgut der Ehegatten zuzurechnen seien.
Während des Klageverfahrens ist eine weitere Bescheinigung der OGA vom 19. Mai 1995 eingegangen. Darin wird
angegeben, der Ehemann habe einen Grundbesitz von 5000 qm, der mit Obstbäu-men bepflanzt sei. Das Areal werde
von einem Sohn genutzt.
Das SG Berlin hat die Beklagte mit Urteil vom 8. Juli 1997 verurteilt, der Klägerin Rente wegen Erwerbsunfähigkeit ab
dem 1. Mai 1991 zu gewähren. Anzuwenden sei das Recht der Reichsversicherungsordnung (RVO). Die
Erwerbsunfähigkeit der Klägerin sei nicht durch selbständige Erwerbstätigkeit ausgeschlossen, da sie keine
Unternehmerin sei. Nach den vorliegenden Auskünften würden weder von ihr noch von ihrem Ehemann
landwirtschaftliche Flächen bewirtschaftet.
Mit ihrer Berufung macht die Beklagte geltend, die Klägerin sei unter Beachtung gesellschaftsrechtlicher Grundsätze
selbständig tätig gewesen. Es müsse eine Grundbuchauskunft in Griechenland eingeholt werden.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 8. Juli 1997 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Während des Berufungsverfahrens hat die Klägerin Grundbuchauskünfte über die ihrem Ehemann gehörenden
Grundstücke sowie einen Pachtvertrag über landwirtschaftliche Fläche (Verpachtung) an den Sohn aus dem Jahre
1998 beigebracht. Darauf wird wegen der Einzelheiten Bezug genommen.
Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Schriftsätze der Beteiligten nebst Anlagen und den
sonstigen Akteninhalt Bezug genommen.
Ein Aktenkonvolut der Beklagten hat vorgelegen und ist Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung der Beklagten ist nicht begründet. Die Klägerin hat einen Anspruch auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit
ab dem 1. Mai 1991. Der Anspruch der Klägerin richtet sich nach § 1247 Reichsversicherungsordnung (RVO), da der
Anspruch Zeiträume vor dem 1. Januar 1992 - Inkrafttreten des Sozialgesetzbuches Gesetzliche Rentenversicherung
(SGB VI) - umfasst. Streitbefangen ist nach den Erklärungen der Beteiligten in der mündlichen Verhandlung der
Rentenanspruch bis zur Gewährung von Regelaltersrente an die Klägerin mit Vollendung des 65. Lebensjahres.
Rente wegen Erwerbsunfähigkeit erhält der Versicherte, der erwerbsunfähig ist und zuletzt vor Eintritt der
Erwerbsunfähigkeit eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit ausgeübt hat, wenn die Wartezeit erfüllt
ist. Erwerbsunfähig ist der Versicherte, der infolge von Krankheit oder andren Gebrechen oder Schwäche seiner
körperlichen oder geistigen Kräfte auf nicht absehbare Zeit eine Erwerbstätigkeit von gewisser Regelmäßigkeit nicht
ausüben oder nicht mehr als nur geringfügige Einkünfte aus Erwerbstätigkeit erzielen kann (§ 1247 Abs. 1, Abs. 2
Satz 1 RVO). Diese Voraussetzungen sind erfüllt. Die Klägerin erfüllt die Wartezeit; sie war zuletzt vor Eintritt der
Erwerbsunfähigkeit versicherungspflichtig beschäftigt (§ 1247 Abs. 2 a i.V. m. § 1246 Abs. 2 a RVO) und eine
vollständige Aufhebung es beruflichen Leistungsvermögens, die Erwerbsunfähigkeit im Sinne des § 1247 Abs. 2 Satz
1 RVO bedingt, hat im streitbefangenen Zeitraum bestanden. Dies ergibt sich aus den überzeugenden Gutachten des
Arztes für Neurologie und Psychiatrie R. und ist zwischen den Beteiligten auch nicht im Streit.
Dem Anspruch steht auch nicht § 1247 Abs. 2 Satz 3 RVO entgegen, wonach nicht erwerbsunfähig ist, wer eine
selbständige Erwerbstätigkeit ausübt, denn die Klägerin hat dies während dieses streitigen Zeitraumes nicht getan.
Ein Versicherter übt eine selbständige Erwerbstätigkeit aus, wenn er im eigenen Namen und auf eigene Rechnung
erwerbstätig ist. Es muss eine unternehmerische Tätigkeit vorliegen, die in Gewinnerzielungsabsicht ausgeübt wird.
Dabei kommt es nicht darauf an, ob und in welcher Weise der Ver-sicherte nach außen oder innen in dem
Geschäftsbetrieb tätig ist und ob tatsächlich Gewinn erzielt wird, solange auf den Geschäftsbetrieb gerichtete
Handlungen in seinem Namen vorgenommen werden (vgl. BSG SozR 2200 § 1247 Nr. 19; zur Gewinnerzielung
insbesondere BSG SozR 2200 § 1247 Nr. 32).
Das SG hat ausführlich und zutreffend dargelegt, dass diese Voraussetzungen nicht vorliegen. Auf diese
Ausführungen wird Bezug genommen (§ 153 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG -).
Dazu ist Folgendes zu ergänzen. Die Klägerin hat in ihrer Erklärung vom 5. April 1995 angegeben, sie sei nicht
Eigentümerin landwirtschaftlicher Flächen in Griechenland. Ihr Ehemann sei Eigentümer von 5 Stremmata (5000 qm),
ihr Schwiegervater von 15 Stremmata. Diese Flächen habe ihr Ehemann bis 1980 bewirtschaftet; seit diesem
Zeitpunkt bewirtschafte ein gemeinsamer Sohn das Areal. Dieser Sachverhalt ist der rechtlichen Beurteilung zugrunde
zu legen, da kein Anlass besteht, die Klägerin, allein weil sie Anspruchsstellerin ist, für unglaubwürdig zu halten.
Zudem werden ihre Ausführungen durch die Auskunft der OGA im Wesentlichen bestätigt und durch die vorgelegten
Grundbuchauszüge nicht widerlegt. Soweit in der ersten Bescheinigung der OGA - übersetzt im Juli 1992 - mehrfach
von “ihren” (der Klägerin) landwirtschaftlichen Flächen die Rede ist, ist durch die weiteren Auskünfte der OGA und die
Grundbuchauskünfte deutlich geworden, dass damit offensichtlich keine Aussage zu den Eigentumsverhältnissen
gemacht wird. Vielmehr wird ersichtlich daran angeknüpft, dass die Flächen vor der Übersiedlung der Klägerin in die
Bundesrepublik im Jahre 1971 von dem Ehepaar K. gemeinschaftlich bewirtschaftet wurden.
Die so zu beschreibende Beziehung der Klägerin zu der in Griechenland gelegenen Ackerfläche - die Klägerin hielt
sich bis März 1995 in der Bundesrepublik auf, die Flächen gehörten dem Ehemann oder einem Rechtsvorgänger und
wurden vom Sohn bewirtschaftet, dem sie 1998 auch verpachtet wurden - begründet für die Person der Klägerin keine
selbständige Erwerbstätigkeit. Es besteht kein Anhaltspunkt, dass im Namen der Klägerin und auf ihre Rechnung auf
“den Betrieb” gerichtete Handlungen vorgenommen wurden. Die Beklagte hat nichts aufgezeigt, was auf irgendwie
gearbeitete Geschäftstätigkeit der Klägerin bzw. Tätigkeiten in ihrem Namen hindeutet. Dagegen sprechen die
Sachverhaltsumstände. Die Klägerin hielt sich zum Beginn des streitbefangenen Zeitraums bereits seit 20 Jahren
nicht mehr in Griechenland auf und bei dem “Betrieb” handelt es sich um eine kleinere landwirtschaftliche Fläche,
deren Bewirtschaftung eine weitere Mitwirkung der Klägerin weder bezüglich der tatsächlichen landwirtschaftlichen
Arbeitsleistung noch im Sinne einer Beteiligung an der “Füh-rung der Geschäfte” bedurfte. Dies gilt auch für die Zeit
nach der Rückkehr der Klägerin nach Griechenland, wobei zudem das Lebensalter der Klägerin und ihr
Gesundheitszustand, wie ihn der Neurologe und Psychiater R. dargestellt hat, eine wesentliche Änderung der
Verhältnisse ausschießt.
Die Klägerin war im streitbefangenen Zeitraum auch nicht deshalb selbständig erwerbstätig im Sinne des § 1247 Abs.
2 Satz 3 RVO, weil sie die Ehefrau des Eigentümers der landwirtschaftlichen Flächen ist. Auch insoweit wäre
erforderlich, dass die Klägerin “eine gewisse Unternehmerinitiative hätte entfalten können und ein Unternehmerrisiko
getragen hätte” (so BSG SozR 2200 § 1247 Nr. 39). Dies war indes nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens nicht
der Fall. Allein eine Beteiligung am wirtschaftlichen Erfolg oder am Misserfolg “des Betriebes” kraft einer
güterrechtlichen Verbundenheit zum Eigentümer würde (sofern sie hier im Tatsächlichen überhaupt gegeben war)
keine selbstständige Erwerbstätigkeit begründen (BSG a.a.0, zur weitergehenden Kritik an der Übertragung unterhalts-
rechtlicher Überlegungen auf § 1247 Abs. 2 Satz 2 RVO vgl. Kasseler Kommentar - Niesel, § 44 SGB VI RdNr. 30).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Gründe für eine Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 Nrn. 1 oder 2 SGG liegen nicht vor.