Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 27.10.2009

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Landessozialgericht Berlin-Brandenburg
Beschluss vom 27.10.2009 (rechtskräftig)
Sozialgericht Berlin S 58 AL 4507/07
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg L 5 AL 7/09
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 14. November 2008 wird als unzulässig
verworfen. Die Anhörungsrüge des Klägers gegen den Beschluss des Senats vom 20. Januar 2009 wird
zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe:
Der Senat konnte über die Berufung des Klägers gemäß § 158 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) durch
Beschluss entscheiden; er hat die Beteiligten dazu angehört.
Die Berufung des Klägers war gemäß § 158 Satz 1 SGG als unzulässig zu verwerfen, weil sie nach Ablauf der
Berufungsfrist eingelegt wurde.
Gemäß § 151 Abs. 1 SGG ist die Berufung bei dem Landessozialgericht schriftlich oder zur Niederschrift des
Urkundsbeamten der Geschäftsstelle innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils einzulegen. Die
Berufungsfrist ist auch gewahrt, wenn die Berufung innerhalb der Frist bei dem Sozialgericht schriftlich oder zur
Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle eingelegt wird (§ 151 Abs. 2 SGG). Über diese Frist ist der
Kläger in dem angefochtenen Urteil zutreffend belehrt worden.
Der Postzustellungsurkunde zufolge ist dem Kläger das Urteil am 12. Dezember 2008 durch Einlegen in den zur
Wohnung gehörenden Briefkasten zugestellt worden. Die oben bezeichnete Monatsfrist für die Einlegung der Berufung
endete damit nach § 64 Abs. 2 SGG mit Ablauf des 12. Januar 2009, einem Montag. Die Berufungsschrift ist jedoch
erst am 4. Februar 2009 und damit verspätet beim Landessozialgericht eingegangen. Zwar war bereits vor Ablauf der
Frist, nämlich am 12. Januar 2009, beim Sozialgericht Berlin ein Schriftsatz der Prozessbevollmächtigten des Klägers
eingegangen. Mit diesem war jedoch ausdrücklich und ausschließlich die Gewährung von Prozesskostenhilfe
beantragt worden. Eine in ähnlich gelagerten Fällen mögliche Auslegung dahingehend, dass neben dem
Prozesskostenhilfegesuch auch - unbedingt - Berufung eingelegt werden sollte, verbietet sich hier angesichts der in
dem Schreiben verwendeten eindeutigen Formulierung "Die beabsichtigte Berufung hat hinreichend Aussicht auf
Erfolg und ist nicht mutwillig. Bei Gewährung von Prozesskostenhilfe wird gegen das Urteil Berufung eingelegt".
Die bereits am 30. Januar 2009 beantragte Wiedereinsetzung in die Berufungsfrist war nicht zu gewähren, denn
Gründe nach § 67 SGG sind nicht ersichtlich. Entgegen der Auffassung der Prozessbevollmächtigten des Klägers ist
die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH), auf die sie sich berufen, hier nicht von Bedeutung. Zwar verweist
das SGG - unter anderem - in § 73a und auch in § 202 auf die Vorschriften der Zivilprozessordnung (ZPO). Das
bedeutet jedoch nicht, dass diese und die zu ihnen ergangene Rechtsprechung der Zivilgerichte immer und in jedem
Fall von Bedeutung sind. Die Regelungen des Zivilprozesses sind im sozialgerichtlichen Verfahren zum einen nur
entsprechend und zum anderen nur ergänzend anwendbar. In Bereichen, in denen die Prozessordnungen
Unterschiede aufweisen, verbietet sich die Heranziehung der Rechtsprechung zu den zivilprozessualen Normen. So
liegt der Fall hier. Wer als Mittelloser erwägt, einen Zivilprozess anzustrengen, wird dies nur wollen und können, wenn
geklärt ist, ob und gegebenenfalls wie er die damit verbundenen Kosten aufbringen kann. Für das zweitinstanzliche
Verfahren benötigt er einen Rechtsanwalt, um eine Prozesserklärung wirksam abgeben zu können (§ 78 ZPO). Das
Einlegen eines Rechtsmittels gegen die Entscheidung eines Sozialgerichts hingegen wird durch Mittellosigkeit weder
unmöglich noch beschwerlich. Ein Gerichtskostenvorschuss wird nicht erhoben; für Versicherte, Leistungsempfänger,
behinderte Menschen und deren Sonderrechtsnachfolger ist das Verfahren grundsätzlich gerichtskostenfrei (§ 183
Satz 1 SGG). Auch bedarf niemand zum bloßen Einlegen der Berufung anwaltlicher Hilfe: Mangels Anwaltszwang
fehlt es einem Beteiligten nicht an der erforderlichen Postulationsfähigkeit. Wer die Berufung nicht schriftlich einlegen
will oder des Schreibens nicht mächtig ist und sie daher nicht schriftlich einlegen kann, der hat die Möglichkeit, sie
zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle einzulegen (§ 151 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 SGG).
Weitere Formerfordernisse gibt es nicht; nicht einmal die Bezeichnung des angefochtenen Urteils ist zwingend (§ 151
Abs. 3 SGG). Eine Begründung ist nicht unbedingt erforderlich, geschweige denn binnen einer Ausschlussfrist (vgl. §
151 Abs. 3 SGG). Nichts hätte nach alledem dagegen gesprochen, spätestens zeitgleich mit dem Einreichen des
Antrags auf Gewährung von Prozesskostenhilfe auch Berufung einzulegen. Es nicht zu tun, war zumindest grob
fahrlässig. Anders als seine Prozessbevollmächtigten hatte die Mutter des Klägers - wie ihrem Schreiben vom 23.
April 2009 zu entnehmen ist - dies auch durchaus erkannt. Der Senat ist sich insoweit der Härte seiner Entscheidung
bewusst, jedoch ist das Verschulden der Prozessbevollmächtigten dem Kläger zuzurechnen (§ 73 Abs. 6 Satz 6 SGG
i.V.m. § 85 Abs. 2 ZPO).
Die Anhörungsrüge des Klägers schließlich hat keinen Erfolg. Sie ist zwar zulässig, insbesondere ist sie form- und
fristgerecht erhoben (§ 178a Abs. 2 SGG). Sie ist aber nicht begründet, denn eine Verletzung des rechtlichen Gehörs
in entscheidungserheblicher Weise liegt nicht vor (§ 178a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG).
Der Kläger meint, es sei zu grobem prozessualem Unrecht gekommen, weil der Senat die Ablehnung der
Prozesskostenhilfe allein darauf gestützt habe, dass gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin keine Berufung
eingelegt worden sei. Nach ständiger Rechtsprechung des BGH sei die Berufungseinlegung auch nach Ablauf der
Berufungsfrist möglich, wenn Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt werde, nachdem die Entscheidung
über die innerhalb der Rechtsmittelfrist ordnungsgemäß beantragte Prozesskostenhilfe ergangen sei. Da die
Regelungen der ZPO über den Verweis aus § 202 SGG heranzuziehen seien, sei auch die Rechtsprechung des BGH
bei einem Verfahren vor den Sozialgerichten zu beachten; anderenfalls käme es zu einer rechtswidrigen
Benachteiligung.
Eine Verletzung rechtlichen Gehörs hat der Kläger damit nicht geltend gemacht. Es ist auch nicht erkennbar, worin sie
liegen sollte. Der am Tag des Ablaufs der Berufungsfrist beim Sozialgericht Berlin eingegangene Antrag auf
Gewährung von Prozesskostenhilfe ist so spät gestellt worden, dass ein Hinweis auf die Erforderlichkeit der
Berufungseinlegung innerhalb der Rechtsmittelfrist dem Gericht nicht mehr möglich war. Erforderlich wäre er
angesichts der anwaltlichen Vertretung des Klägers im Übrigen nicht gewesen.
Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung von § 193 SGG und trägt dem Ergebnis des
Verfahrens Rechnung.
Hinsichtlich der Verwerfung der Berufung war die Revision nicht zuzulassen, weil Zulassungsgründe gemäß § 160
Abs. 2 Nrn 1 oder 2 SGG nicht gegeben sind.