Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 20.07.2006

LSG Berlin-Brandenburg: wohnung, fortsetzung des mietverhältnisses, darstellung des sachverhaltes, eltern, vermieter, räumung, behörde, hauptsache, mietvertrag, folgekosten

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Gericht:
Landessozialgericht
Berlin-Brandenburg
32. Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
L 32 B 2312/07 AS
ER, L 32 B 2334/07
AS PKH
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 22 Abs 5 S 1 SGB 2 vom
20.07.2006, § 22 Abs 5 S 2 SGB
2 vom 20.07.2006, § 22 Abs 5 S
3 SGB 2 vom 20.07.2006
Arbeitslosengeld II - Unterkunft und Heizung - Darlehen für
Mietschulden - Ermessensentscheidung - Sicherung bzw
Erhaltung der Unterkunft - Prognoseentscheidung zur
zukünftigen Einhaltung mietvertraglicher Pflichten
Leitsatz
Der Behörde steht im Falle des § 22 Abs. 5 Satz 1 SGB II ein Ermessen zu, auch wenn die
Übernahme von Mietschulden zur Sicherung der Unterkunft gerechtfertigt ist. Sie darf dabei
u.a. negativ berücksichtigen, dass der Antragsteller die Notlage selbst verschuldet hat.
Tenor
Der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 14. Dezember 2007 wird aufgehoben,
soweit darin die Gewährung von Prozesskostenhilfe abgelehnt wird.
Dem Antragsteller wird für das erstinstanzliche Verfahren vor dem Sozialgericht Berlin
sowie für das zweitinstanzliche Verfahren vor dem Landessozialgericht Berlin-
Brandenburg Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwältin AW MStr., B beigeordnet.
Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch im Beschwerdeverfahren nicht zu erstatten.
Gründe
Die zulässige Beschwerde vom 17. Dezember 2007, der das Sozialgericht Berlin (SG)
nicht abgeholfen hat, ist unbegründet.
Zur Begründung und zur Darstellung des Sachverhaltes nimmt der Senat zunächst auf
die angefochtene Entscheidung des Sozialgerichts Bezug, deren Gründe er sich zu Eigen
macht (§ 142 Abs. 2 S. 3 Sozialgerichtsgesetz -SGG-).
Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine
einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein
streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung
wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Hierbei dürfen Entscheidungen grundsätzlich
sowohl auf eine Folgenabwägung als auch auf eine summarische Prüfung der
Erfolgsaussichten in der Hauptsache gestützt werden. Drohen ohne die Gewährung
vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare
Beeinträchtigungen, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen
wären, dürfen sich die Gerichte nur an den Erfolgsaussichten orientieren, wenn die Sach-
und Rechtslage abschließend geklärt ist. Ist dem Gericht dagegen eine vollständige
Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, so ist anhand einer
Folgenabwägung zu entscheiden (ständige Rechtsprechung des Senats, siehe auch
Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 12. Mai 2005 - 1 BvR 596/05 -).
Art. 19 Abs. 4 GG stellt nämlich insbesondere dann besondere Anforderungen an die
Ausgestaltung des Eilverfahrens, wenn das einstweilige Verfahren vollständig die
Bedeutung des Hauptsacheverfahrens übernimmt und eine endgültige Verhinderung der
Grundrechtsverwirklichung eines Beteiligten droht, wie dies im Streit um laufende
Leistungen der Grundsicherung für Arbeitslose regelmäßig der Fall ist.
Hier ist allerdings davon auszugehen, dass dem Antragsteller kein Anspruch auf volle
oder teilweise Übernahme der Schulden gegenüber dem Vermieter nach § 22 Abs. 5
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oder teilweise Übernahme der Schulden gegenüber dem Vermieter nach § 22 Abs. 5
Sozialgesetzbuch 2. Buch (SGB II) zusteht.
Zweck einer solchen Schuldenübernahme ist es, die bisherige Wohnung als Unterkunft
zu erhalten. Kann die Wohnung nicht gehalten werden kann der Zweck nicht erreicht
werden. Dies ist der Fall, wenn die Räumung nicht (mehr) abgewendet werden kann (vgl.
ebenso Berlit in LPK-SGB II § 22 Rdnr. 112 mit Bezugnahme auf LSG Hessen, B. v.
26.10.2005 -L 7 AS 65/05 ER) oder die Prognose künftiger Beachtung aller
Mieterpflichten als Voraussetzung für den längerfristigen Fortbestand des
Mietverhältnisses über die Wohnung negativ ausfällt (so bereits B. des Senats vom
27.09.2007 -L 32 B 1558/07 AS ER-). Auch dann ist der Erhalt der Wohnung nicht
„gesichert“. Nur ein nicht nur vorübergehender gesicherter Erhalt der Wohnung kann es
rechtfertigen, einem Gläubiger des Antragstellers (der bisherige und/oder künftige
Vermieter) auf Staatskosten das Ausfallrisiko abzunehmen.
Es ist hier konkret nicht hinreichend ersichtlich, dass ein neues Mietverhältnis über die
Wohnung S zustande kommen wird. Der Antragsteller ist vielmehr rechtskräftig zur
Räumung verurteilt. Der Vermieter -der Insolvenzverwalter F vertreten durch die C- hat
sich im Oktober zur Fortsetzung nur unter der Voraussetzung bereiterklärt, dass die
Übernahme aller Mietrückstände, des Kautionsrückstandes, aller Rechtskosten sowie der
Zinsen garantiert wird (per 30.10.2007: 4.522,70 € ohne Zinsen und Rechtsstreitkosten;
vgl. Schreiben vom 30. 10.2007, GA Bl. 7).
Dass die Bedingung weiterhin gilt und dass sie durch Zahlung der geforderten 3.997,41
€ aktuell eintreten würde, ist vom Antragsteller nicht hinreichend deutlich glaubhaft
gemacht:
Es kann zunächst nicht davon ausgegangen werden, dass der Mietrückstand deutlich
geringer als gefordert ist, weil der Antragsteller Anschaffungskosten verrechnen konnte:
Der Antragsteller hat nicht glaubhaft gemacht, dass bei Abschluss des Mietvertrages am
29. August 2006 der Vermieter -damals vertreten durch die C- verbindlich zugesagt hat,
die Kosten für eine Einbauküche zu übernehmen.
Es fehlt weiter an der konkreten Glaubhaftmachung eines Sachverhaltes, aus dem sich
hinreichend verlässlich ergibt, dass bei Zahlung der in zweiter Instanz geforderten
3.997,41 € ein neuer Mietvertrag abgeschlossen werden würde: Nach Schriftsatz vom
17. 12 2007 sollen alle Rückstände ab Juli 2007 ausgeglichen sein. Hingegen geht das
Amtsgericht Neukölln im Beschluss vom 18. 12. 2007 -16 C 203/07- von Schuldenfreiheit
(erst) für die Zeit ab Oktober aus. Die Kosten des Zahlungsverzuges und die
Rechtskosten sind nicht beziffert worden. Es ist nicht Aufgabe des Gerichts, für den
Antragsteller diese Umstände aktuell aufzuklären.
Es kann darüber hinaus unabhängig hiervon auch nicht zu Gunsten des Antragstellers
davon ausgegangen werden, dass die Prognose des Antragsgegners falsch ist, der
Erhalt der Wohnung sei auch bei Fortsetzung des Mietverhältnisses nicht gesichert:
Eine negative Prognose ist angezeigt, wenn durch das bisherige Verhalten auf eine
solche Unzuverlässigkeit bei der Erfüllung mietvertraglicher Pflichten zu schließen ist, die
das Verursachen neuer Kündigungsgründe in Zukunft besorgen lassen.
Der Antragsteller hat sich hier als unzuverlässig erwiesen. Er hat ganz offenbar bereits
den Mietvertrag abgeschlossen und die Umzüge veranlasst, ohne dass die Finanzierung
der anfallenden laufenden Kosten für Renovierung, Wohnungseinrichtung und Umzug
sowie die Bezahlung der Miete gesichert war. Zustimmungen der Behörden vorab hat er
nicht abgewartet. Bereits dies war leichtfertig und indiziert Unzuverlässigkeit. Er hat dann
darüber hinaus die eingehenden Gelder des Antragsgegners und des Sozialamtes nicht
zur Bezahlung der laufenden Wohnungskosten, sondern für anderes ausgegeben. Der
Antragsteller mag seine Eltern vorbildlich pflegen. Dass seine pflegebedürftigen Eltern
die Wohnung jetzt womöglich räumen müssen, hat jedoch er durch dieses zumindest
leichtsinnige Verhalten zu verantworten. Der Antragsgegner weist in diesem
Zusammenhang zutreffend darauf hin, dass die kontinuierliche Mietzahlung auch jetzt
nicht durch eine direkte Überweisung (vgl. § 22 Abs. 4 SGB II) sichergestellt ist, weil die
Gesamtleistungen an den Antragsteller -also nicht nur die Unterkunftskosten- weniger
betragen als die Gesamtmiete.
Weiter -und ebenfalls alleine die Antragsablehnung tragend- kann auch nicht davon
ausgegangen werden, dass die Schuldenübernahme gerechtfertigt ist. Diese
Tatbestandsvoraussetzung ist sowohl bei der Ermessensvorschrift des § 22 Abs. 5 Satz
1 SGB II vorgesehen, als auch bei § 22 Abs. 5 Satz 2 SGB II. Auch im Falle drohender
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1 SGB II vorgesehen, als auch bei § 22 Abs. 5 Satz 2 SGB II. Auch im Falle drohender
Wohnungslosigkeit ist die Übernahme der Schulden zum Erhalt der Wohnung nicht
immer geboten, sondern nur, wenn dies zur Sicherung der Unterkunft oder Behebung
einer vergleichbaren Notlage gerechtfertigt ist. Da nach Satz 2 bei drohender
Wohnungslosigkeit die Kosten übernommen werden sollen, also im Regelfall zwingend zu
übernehmen sind, es ansonsten im pflichtgemäßen Ermessen der Behörde steht, kann
sich das „Gerechtfertigt-Sein“ nur auf die Angemessenheit der Wohnung (ebenso LSG
Berlin-Brandenburg, B. v. 14.01.2008 -L 26 B 2307/07 AS ER mit weiteren Nachweisen)
beziehen sowie auf das Verhältnis der zu übernehmenden Kosten zu den der Behörde -
oder anderen öffentlichen Einrichtungen (ebenso für Folgekosten der
Obdachlosenbehörde: Berlit in LPK-SGB II § 22 Rdnr. 112)- bei Verlust der Wohnung
entstehenden Kosten. Der Erhalt der Wohnung rechtfertigt sich nämlich generell nicht zu
jedem Preis.
Persönliche Umstände (Verschulden der Situation oder gar Missbrauch, mangelnder
Selbsthilfewillen) stehen hingegen (nur) nach Satz 2 im Einzelfall einer Übernahme
entgegen und können nach Satz 1 im Rahmen der Ermessensausübung zur Ablehnung
führen (ebenso 26. Senat, aaO.). Ob negative Auswirkungen auf die angestrebte
Arbeitsmarktintegration (ohne Schuldenübernahme ist der Antragsteller eher zur
Annahme eines Arbeitsplatzes bereit) bereits den Tatbestand entfallen lassen (so Berlit,
aaO.), kann im vorliegenden Fall dahingestellt bleiben.
Hier ist bereits nicht hinreichend sicher, dass die Übernahme der rund 4.000 € im
angemessenen Rahmen zu den dadurch ersparten Aufwendungen stehen:
Es ist weder vorgetragen noch ersichtlich, dass dem Antragsteller, seinen Eltern und
seiner Schwester generelle Wohnungslosigkeit (Obdachlosigkeit) droht, weil
anderweitiger zumutbarer Wohnraum in Berlin - nicht zur Verfügung steht. Dass die
Eltern bei Verlust der jetzigen Wohnung zwingend in ein Pflegeheim umziehen müssten
wird ins Blaue hinein behauptet und ist nicht glaubhaft gemacht. Gleiches gilt für den
Einwand, im Falle des Verlustes der konkreten Wohnung für die Eltern entstünden kausal
hierdurch im weitaus höheren Umfang Pflegekosten entstehen. Es ist noch nicht einmal
sicher, dass der Vermieter die Wohnung wirklich räumen lassen wird. Immerhin erhält er
die laufende Nutzungsentschädigung.
Zuletzt ist -die Erfüllung aller Tatbestandsvoraussetzungen des § 22 Abs. 5 Satz 1 SGB II
unterstellt- das Ermessen des Antragsgegners jedenfalls nicht dahingehend reduziert,
dass eine Ablehnung sicher ermessensfehlerhaft wäre („Ermessensreduzierung auf
Null“). Es gibt gute Gründe, die Schulden nicht -auch nicht teilweise- zu übernehmen:
Zum einen hat der Antragsteller die Situation verschuldet. Es liegt nicht -wie von ihm
angedeutet- an einem Zuständigkeitsproblem zwischen Jobcenter und Sozialamt, dass
die Mietschulden aufgelaufen sind. Auch darf zu Lasten des Antragstellers in die
Abwägung eingestellt werden, dass es sich bei den Schulden nicht nur um reine
Mietschulden handelt, sondern auch um erhebliche Folgekosten.
Die einstweilige Zahlung der Mietkaution, auf die der Antragsteller nach der
Rechtsprechung des Senats wohl Anspruch gehabt hätte, ist nicht mehr Gegenstand des
zweitinstanzlichen Begehrens (vgl. Beschluss des Senats vom 30. November 2007 -L 32
B 1912/07AS ER-).
Der Senat weist abschließend darauf hin, dass bei Glaubhaftmachung einer geänderten
Sachlage (verbindliche Zusagen Dritter, Nachweis Schuldenverringerung, aktuelle
Zusage des Vermieters, konkrete Räumung droht) ein neuer Antrag zulässig und
sinnvoll sein kann, falls der Antragsgegner auch dann die gebotene zumindest vorläufige
Übernahme ablehnt.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG entsprechend. Prozesskostenhilfe war zu
bewilligen, weil der Antrag und die Beschwerde hinreichende Aussicht auf Erfolg gehabt
haben (§ 73a Sozialgerichtsgesetz [SGG] i. V. § 114 Zivilprozessordnung [ZPO]).
Die Gewährung von Prozesskostenhilfe ist nach den genannten Vorschriften davon
abhängig, dass die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung
hinreichende Aussicht auf Erfolg hat und nicht mutwillig erscheint. Die Prüfung der
Erfolgsaussichten soll jedoch nicht dazu dienen, die Rechtsverfolgung oder
Rechtsverteidigung selbst in das summarische Verfahren der Prozesskostenhilfe zu
verlagern und dieses an die Stelle des Hauptsacheverfahrens treten zu lassen.
Prozesskostenhilfe darf nur verweigert werden, wenn das Begehren völlig aussichtslos ist
oder ein Erfolg in der Hauptsache zwar nicht schlechthin ausgeschlossen, die
Erfolgschance aber nur eine Entfernte ist (vgl. BVerfG, Beschluss vom 13. Juli 2005 -1
BvR 175/05- NJW 2005, 3849 mit Bezug u. a. auf BVerfGE 81, 347, 357f).
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Die Erfolgschancen hier sind bereits aufgrund der noch nicht gesicherten Anwendung
des § 22 Abs. 5 SGB II nicht nur ganz entfernt liegende gewesen.
Die Hinzuziehung eines bevollmächtigten Rechtsanwalts erscheint geboten, § 121 Abs. 2
ZPO. Hinsichtlich der Prozesskostenhilfe beruht die Kostenentscheidung auf § 127 Abs. 4
ZPO, wonach Kosten des Beschwerdeverfahrens nicht erstattet werden.
Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht
angefochten werden (§ 177 SGG).
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