Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 27.02.2003

LSG Berlin und Brandenburg: berufliche tätigkeit, anerkennung, maurer, eintritt des versicherungsfalls, wahrscheinlichkeit, ambulante behandlung, ärztliche untersuchung, berufskrankheit, klinik

Landessozialgericht Berlin-Brandenburg
Urteil vom 27.02.2003 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Berlin S 67 U 702/98
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg L 3 U 39/00
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 5. April 2000 geändert. Die Beklagte wird
verurteilt, unter Anerkennung der bandscheibenbedingten Erkrankung der Lendenwirbelsäule als Berufskrankheit nach
Nr. 2108 der Anlage zur BKV dem Kläger für die Zeit vom 27. November 1996 bis 7. Mai 2002 Verletztenrente nach
einer MdE von 20 v.H. zu gewähren. Die weitergehende Klage wird abgewiesen. Im Übrigen wird die Berufung
zurückgewiesen. Die Beklagte hat dem Kläger 3/4 der Kosten des Rechtsstreits zu er- statten. Die Revision wird nicht
zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist, ob der Kläger wegen der Folgen der Berufskrankheit (BK) Nr. 2108 der Anlage zur Berufskrankheiten-
Verordnung (BKV) von der Beklagten eine Verletztenrente beanspruchen kann.
Der 1940 geborene Kläger war nach seiner von 1954 bis 1957 absolvierten Maurerlehre fortlaufend - unterbrochen vom
Wehrdienst bei der Nationalen Volksarmee von Mai 1963 bis Oktober 1964 - im Beitrittsgebiet als Maurer tätig. Zuletzt
übte er diese Tätigkeit ab Juli 1990 bei der M Bau GmbH aus.
Im Januar 1996 hatte sich der Kläger wegen Beschwerden im Bereich der Lendenwirbelsäule in die Behandlung der
Orthopädin Dr. R begeben. Nachdem durch konservative Behandlung zunächst eine Besserung der Beschwerden
erreicht werden konnte, nahmen diese ab Mai 1996 wieder zu. Am 9. Juli 1996 stellte sich bei der Arbeit ein
Taubheitsgefühl am linken Bein ein. Infolgedessen wurde der Kläger ab 15. Juli 1996 durchgehend arbeitsunfähig
krankgeschrieben (Krankheitsbericht der Dr. R an die Beklagte vom 20. Mai 1997). Bei der am 9. August 1996 auf
Veranlassung der Orthopädin durchgeführten Computertomographie der Intervertebralräume bei L4/L5 und L5/S1
wurde im Röntgeninstitut Dres. B und S bei L4/L5 eine deutliche und bei L5/S1 eine stark ausgeprägte dorsale
Bandscheibenprotrusion festgestellt. Bei der Computertomographie am 16. September 1996 sicherte Prof. Dr. P einen
dorsomedianen teilsequestrierten Bandscheibenprolaps bei L5/S1. Am 26. September 1996 erfolgte im Krankenhaus i
F die interlaminäre Fensterung L5/S1 links mit Discotomie. Im Anschluss an die stationäre Behandlung im
Krankenhaus i F vom 23. September bis 6. Oktober 1996 fand die Anschlussheilbehandlung in der MKlinik H vom 29.
Oktober bis 26. November 1996 statt. Aus dieser wurde der Kläger in weitere ambulante Behandlung arbeitsunfähig
entlassen. In der sozialmedizinischen Beurteilung der Klinik heißt es, der Kläger sei für leichte Arbeiten ohne häufiges
Heben, Tragen, Bewegen von Lasten und ohne häufiges Bücken vollschichtig leistungsfähig. Der Kläger war in der
Folgezeit durchgehend arbeitsunfähig krankgeschrieben und bezog bis zu seiner Aussteuerung am 13./15. Januar
1998 Krankengeld. Im Anschluss daran erhielt er (nach eigenen Angaben) von der Landesversicherungsanstalt Berlin
Rente wegen Berufsunfähigkeit und ab 1. September 2001 Altersrente.
Auf die bereits im September 1996 von der A O Berstattete „Unfallanzeige“ leitete die Beklagte ein Verfahren zur
Feststellung der Berufskrankheit Nr. 2108 der Anlage zur BKV ein. In dem auf ihre Veranlassung erstatteten Ersten
Untersuchungsbefund vom 12. Dezember 1996 empfahl der Facharzt für Arbeitsmedizin im Arbeitsmedizinischen
Dienst der Beklagten Dr. R die Prüfung der arbeitstechnischen Voraussetzungen der BK Nr. 2108 durch den
Technischen Aufsichtsdienst (TAD). Zur speziellen Krankheitsvorgeschichte ist in dem Bericht vermerkt, der Kläger
habe ab 1985 gelegentlich Rückenschmerzen gehabt, 1990 sei er erstmals fünf Tage wegen des beginnenden
Bandscheibenleidens bei L5/S1 arbeitsunfähig gewesen. Ab Februar 1995 sei es zu einer erheblichen
Beschwerdezunahme mit orthopädischer Behandlung gekommen. Ende Mai 1996 hätten die Beschwerden extrem
zugenommen. Auch nach der Anschlussrehabilitation bestehe trotz intensiver Nachbehandlung bisher keine
Beschwerdefreiheit.
Zu den körperlichen Belastungen, denen er im Laufe seines Berufslebens ausgesetzt war, gab der Kläger auf
entsprechenden Vordrucken der Beklagten an, er habe zu 30 % Maurer- und Putzarbeiten, zu 12 % Betonarbeiten, zu
19 % Stemmarbeiten - auch per Hand -, zu 8 % Gerüstarbeiten, zu 15 % Schachtarbeiten und zu 6 %
Vollwärmschutzarbeiten an Fassaden verrichtet. Die Lastgewichte hätten zwischen 3 bis 55 kg betragen. Er habe je
nach Art der Arbeiten zwischen 2 bis 5 Stunden täglich in gebückter Haltung von 90° gearbeitet. Die Angaben des
Klägers sind hinsichtlich der Art der ausgeübten Tätigkeiten und der dabei angefallenen Belastungen von der M Bau
GmbH der Beklagten gegenüber im Wesentlichen bestätigt worden (Lastgewichte von 3,5 bis 45 kg, 2 bis 5 Stunden
täglich Arbeit in Rumpfbeuge). Der TAD kam in seiner Stellungnahme zu den arbeitstechnischen Voraussetzungen zu
dem Ergebnis, der Kläger habe seit September 1954 Hebe- oder Tragetätigkeiten oder Arbeiten in extremer
Rumpfbeugehaltung ausgeführt, wie sie in der „Dokumentation“ für den typischen Maurer im Hochbau-Beruf beurteilt
würden. In einem Aktenvermerk vom 24. April 1997 wurden die arbeitstechnischen Voraussetzungen für die
Entstehung einer BK Nr. 2108 als erfüllt angesehen.
Daraufhin veranlasste die Beklagte die Begutachtung des Klägers durch den Facharzt für Orthopädie Dr. B. Dieser
stellte eine relative statisch-dynamische Lumbalinsuffizienz bei chronischer Überforderung der Lendenwirbelsäule mit
Verschleißerscheinungen an Bandscheibe und tragenden Strukturen des lumbosacralen Übergangs fest. Es bestehe
kein Zweifel an der ursächlichen Verbindung der beruflichen Dauerbelastung einer 42-jährigen Berufstätigkeit als
Maurer mit der Erkrankung. Er empfahl die Anerkennung der BK Nr. 2108 mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit
(MdE) von 30 v.H. In einer weiteren Stellungnahme vom 24. Oktober 1997 führte Dr. B ergänzend aus, die
Bandscheibenerkrankung betreffe vordergründig das Segment L5/S1 und weniger deutlich L4/L5, so dass sich die
Veränderungen von cranial nach caudal zunehmend darstellten. Die Veränderungen der Bandscheibe bei L5/S1 seien
dem Altersgang deutlich vorauseilend, während die höhergelegenen Wirbelsäulenabschnitte weitgehend unauffällig
seien. In seiner Stellungnahme vom 27. Oktober 1997 empfahl Dr. S, Gewerbearzt am Landesinstitut für
Arbeitsmedizin B, die Anerkennung einer BK Nr. 2108 mit einer MdE von 20 v.H ... In diesem Sinne hatte sich zuvor
schon Dr. R in einer Stellungnahme vom 15. September 1997 geäußert.
Aufgrund eines Schreibens der Hauptverwaltung der Beklagten vom 5. Januar 1998, in dem große Bedenken, den
ärztlichen Sachverständigen zu folgen, geäußert und die Einholung eines Gutachtens nach Aktenlage von Dr. S
(Kassel) oder Dr. H (Bremen) angeregt wurde, holte die Beklagte von Letztgenannter eine gutachterliche
Stellungnahme vom 2. Februar 1998 ein. Darin widersprach diese Ärztin für Chirurgie und Unfallchirurgie der
Einschätzung Dr. B, das Schadensbild überschreite das altersdurchschnittlich zu erwartende Ausmaß deutlich. Die für
die Anerkennung einer belastungsabhängigen bandscheibenbedingten Erkrankung zu stellenden Anforderungen seien
nicht erfüllt. Daher könne sie die Anerkennung der BK Nr. 2108 nicht vorschlagen.
Daraufhin lehnte die Beklagte, ohne der Empfehlung des Gewerbearztes Dr. S, eine Stellungnahme Dr. B zum
Gutachten Dr. H einzuholen, zu folgen, die Gewährung einer Entschädigung wegen einer BK Nr. 2108 durch Bescheid
vom 26. Juni 1998 mit der Begründung ab, die medizinischen Voraussetzungen dieser BK seien nicht erfüllt, weil die
nachweisbaren Bandscheibenveränderungen dem Altersdurchschnitt entsprächen. Den Widerspruch des Klägers, zu
dessen Begründung er darauf hinwies, dass die bei ihm eingetretenen Lähmungserscheinungen, Taubheitsgefühle und
krassen Bandscheibenveränderungen, die eine Operation erforderlich gemacht hätten, nicht als dem
Altersdurchschnitt entsprechend beurteilt werden könnten, wies die Beklagte durch Widerspruchsbescheid vom 28.
August 1998 zurück.
Das Sozialgericht hat zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts ein fachorthopädisches Gutachten von Dr. B vom 22.
April 1999 eingeholt. Dieser ist zu dem Ergebnis gelangt, die bei dem Kläger verbliebenen Nervenwurzelstörungen am
linken Bein nach Operation eines sequestrierten Bandscheibenvorfalls bei L5/S1 links stellten eine ausschließlich
bandscheibenbedingte Erkrankung der Lendenwirbelsäule dar, die durch langjähriges Heben und Tragen schwerer
Lasten und durch langjährige Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung verursacht worden sei. Außerberufliche
Faktoren, die als Schadensursache in Frage kämen, seien bei dem Kläger nicht feststellbar. Die durch die
berufsbedingte Bandscheibenerkrankung der Lendenwirbelsäule bedingte MdE betrage 20 v.H. In ihrer hierzu von der
Beklagten vorgelegten gutachterlichen Stellungnahme vom 8. Juli 1999 wandte Dr. H gegen das Gutachten des Dr. B
ein, dieser habe einen altersüberschreitenden Befund nicht belegen können. Nachdem Dr. B in seiner auf
Veranlassung des Sozialgerichts abgegebenen weiteren gutachterlichen Stellungnahme vom 27. Oktober 1999 bei
seiner Auffassung, die medizinischen Voraussetzungen für die Anerkennung der BK Nr. 2108 seien erfüllt, verblieben
war, hat das Sozialgericht durch Urteil vom 5. April 2000 die Beklagte zur Gewährung einer Verletztenrente aus
Anlass einer BK Nr. 2108 verurteilt: Aufgrund der Gutachten von Dr. B und Dr. B sowie den Stellungnahmen von Dr. R
und Dr. S sei es als erwiesen anzusehen, dass die bei dem Kläger verbliebenen Nervenwurzelreizstörungen am linken
Bein nach Bandscheibenoperation eines sequestrierten Bandscheibenvorfalls bei L5/S1 durch langjähriges Heben und
Tragen schwerer Lasten und durch langjährige Tätigkeit in extremer Rumpfbeugehaltung verursacht worden seien. Alle
Sachverständigen, die den Kläger untersucht hätten, hätten sich für eine Anerkennung des vorhandenen
Wirbelsäulenschadens als BK ausgesprochen. Dr. H habe für ihre ablehnende Haltung keine überzeugenden
Argumente vorgetragen.
Gegen das am 25. April 2000 zugestellte Urteil richtet sich die am 4. Mai 2000 eingelegte Berufung der Beklagten. In
ihrer am 19. Juni 2001 eingegangenen Begründung verweist die Beklagte auf das von ihr veranlasste orthopädische
Zusammenhangsgutachten nach Aktenlage der Ärzte für Orthopädie Dres. T und S (Institut für Medizinische
Begutachtung Kassel) vom 31. Mai 2001. Diese Ärzte äußerten die Auffassung, dass zwar eine
bandscheibenbedingte Erkrankung der Lendenwirbelsäule bei dem Kläger vorliege, diese sei jedoch nicht
berufsbedingt, weil es an belastungsadaptiven Reaktionen an den Deck- und Tragplatten der Wirbelkörper, die bei
beruflichen Belastungen im Sinne der BK Nr. 2108 nachzuweisen sein müssten, fehle. Bei dem Kläger lägen nur
diskrete osteochondrotische und spondylotische Reaktionen vor, die für einen 60-jährigen Mann in ihrer Ausprägung
deutlich unterhalb der alterskorrigierten Norm lägen, was gegen eine berufliche Ursache des präsacralen
Bandscheibenvorfalls spreche. Erst die Verknüpfung belastungsadaptiver Reaktionen mit einer
bandscheibenbedingten Erkrankung stelle eine plausible Begründung für das Vorliegen eines belastungskonformen
Schadensbildes dar. Da im vorliegenden Fall kein belastungskonformes Schadensbild belegt sei, könne die
Anerkennung einer BK Nr. 2108 nicht empfohlen werden. In einer weiteren von der Beklagten eingereichten
Stellungnahme vom 21. Dezember 2001 haben Dres. T/S die Auffassung geäußert, bei den belastungsadaptiven
Reaktionen handele es sich um das entscheidende Merkmal, mit dem nach dem derzeitigen Wissensstand eine
Unterscheidung zwischen schicksalhaft entstandenen Bandscheibenschäden und belastungsbedingten
Bandscheibenerkrankungen möglich sei. Erst wenn eine bandscheibenbedingte Erkrankung mit solchen dem Alter
deutlich vorauseilenden umformenden Veränderungen (belastungsadaptiven Reaktionen) verknüpft sei, lasse sich
nach dem Ausschluss anderweitiger Ursachenfaktoren die Anerkennung einer BK Nr. 2108 mit der notwendigen
Wahrscheinlichkeit befürworten.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 5. April 2000 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger, den der Senat in der mündlichen Verhandlung am 27. Februar 2003 persönlich angehört hat, beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Der Senat hat zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts ein fachorthopädisches Gutachten von Prof. Dr. N, Ev.
Wkrankenhaus S, vom 1. Juli 2002 eingeholt. Der Sachverständige ist aufgrund der am 8. Mai 2002 durchgeführten
Untersuchung des Klägers zu dem Ergebnis gelangt, bei ihm bestünden langjährige linksseitige ischialgieforme
Beschwerden aufgrund der degenerativen Lendenwirbelsäulenveränderungen mit einem stattgehabten
Bandscheibenvorfall bei L5/S1. Nach einer Discotomie sei es zu einer deutlichen Besserung gekommen. Es lägen
aktuell keine Nervenausfallerscheinungen an den unteren Extremitäten vor. Diese Erkrankungen seien nicht auf die
berufliche Tätigkeit des Klägers als Maurer zurückzuführen. Der Grad der MdE für die (nicht berufsbedingten)
Wirbelsäulenveränderungen betrage 10 v.H.
Wegen des Vorbringens der Beteiligten im Einzelnen wird auf den Akteninhalt verwiesen. Der den Kläger betreffende
Verwaltungsvorgang der Beklagten lag dem Senat vor und war Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
Entscheidungsgründe:
Die frist- und formgemäß eingelegte Berufung der Beklagten ist zulässig, jedoch nur teilweise begründet. Das
Sozialgericht hat sie im Ergebnis zu Recht zur Anerkennung der BK Nr. 2108 verpflichtet. Das Urteil des
Sozialgerichts war jedoch dahingehend zu ändern, dass dem Kläger Verletztenrente nur für die Zeit vom 27.
November 1996 (Tag nach dem Ende des Rehabilitationsverfahrens) bis zum 7. Mai 2002 (Tag vor der Untersuchung
durch Prof. Dr. N) zuzusprechen war, und zwar - was das Sozialgericht offengelassen hatte - nach einem Grad der
MdE von 20 v.H. Soweit der Kläger eine Rente auf Dauer über den 7. Mai 2002 hinaus beansprucht, war seine Klage
abzuweisen. Die Berufung der Beklagten war zurückzuweisen, soweit sie die Abweisung der Klage in vollem Umfang
beantragt hat.
Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung werden nach § 547 Reichsversicherungsordnung (RVO), der hier
gemäß § 212 Sozialgesetzbuch Siebentes Buch - SGB VII - zur Anwendung kommt, weil ein Versicherungsfall vor
dem Außerkrafttreten des Dritten Buches der RVO am 31. Dezember 1996 (Art. 35 Nr. 1, 36 des Unfallversicherungs-
Einordnungsgesetzes - UVEG - vom 7. August 1996, BGBl. I S. 1254, 1317) geltend gemacht wird, nach Eintritt eines
Arbeitsunfalls gewährt, soweit die jeweiligen Voraussetzungen der begehrten Leistung erfüllt sind. Als Arbeitsunfall gilt
nach § 551 Abs. 1 RVO auch eine Berufskrankheit. Nach § 581 Abs. 1 Nr. 2 RVO wird, solange die Erwerbsfähigkeit
des Verletzten um wenigstens ein Fünftel gemindert ist, als Verletztenrente der Teil der Vollrente gewährt, der dem
Grade der MdE entspricht.
Als Anspruchsgrundlage für den vom Kläger geltend gemachten Anspruch auf Gewährung einer Verletztenrente
kommt nur § 551 Abs. 1 RVO i.V.m. Nr. 2108 der Anlage 1 zur BKV i.d.F. der Zweiten Verordnung zur Änderung der
BKV vom 18. Dezember 1992 (BGBl. I S. 2343) in Betracht. Hiernach sind bandscheibenbedingte Erkrankungen der
Lendenwirbelsäule durch langjähriges Heben oder Tragen schwerer Lasten oder langjährige Tätigkeiten in extremer
Rumpfbeugehaltung, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung,
Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können, als Berufskrankheit
anzusehen.
Für die Anerkennung und Entschädigung einer Erkrankung als Berufskrankheit nach Nr. 2108 muss bei dem
Versicherten mithin eine bandscheibenbedingte Erkrankung der Lendenwirbelsäule vorliegen, die durch langjähriges
berufsbedingtes Heben oder Tragen schwerer Lasten oder durch langjährige berufsbedingte Tätigkeiten in extremer
Rumpfbeugehaltung (arbeitstechnische Voraussetzungen) entstanden ist. Die Erkrankung muss den Zwang zur
Unterlassung aller gefährdenden Tätigkeiten herbeigeführt haben, und als Konsequenz aus diesem Zwang muss die
Aufgabe dieser Tätigkeiten tatsächlich erfolgt sein (BSG SozR 3-5670 Anl. 1 Nr. 2108 Nr. 2).
Für das Vorliegen des Tatbestands der Berufskrankheit ist ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der
versicherten Tätigkeit und der schädigenden Einwirkung einerseits (haftungsbegründende Kausalität) und zwischen
der schädigenden Einwirkung und der Erkrankung andererseits (haftungsausfüllende Kausalität) erforderlich. Dabei
müssen die Krankheit, die versicherte Tätigkeit und die durch sie bedingten schädigenden Einwirkungen einschließlich
deren Art und Ausmaß im Sinne des Vollbeweises, also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit,
nachgewiesen werden, während für den ursächlichen Zusammenhang als Voraussetzung der Entschädigungspflicht,
der nach der auch sonst im Sozialrecht geltenden Lehre von der wesentlichen Bedingung zu bestimmen ist,
grundsätzlich die (hinreichende) Wahrscheinlichkeit - nicht allerdings die bloße Möglichkeit - ausreicht (BSG, Urteil
vom 2. Mai 2001 - B 2 U 16/00 R - m.w.N.). Hierunter ist eine Wahrscheinlichkeit zu verstehen, nach der bei
vernünftiger Abwägung aller Umstände den für den Zusammenhang sprechenden Umständen ein deutliches
Übergewicht zukommt, so dass darauf die richterliche Überzeugung gegründet werden kann (BSGE 45, 285, 286).
Die arbeitstechnischen Voraussetzungen für die Anerkennung der Berufskrankheit Nr. 2108 sind, was von der
Beklagten auch nicht in Zweifel gezogen worden ist, erfüllt. Nach dem vom Bundesministerium für Arbeit und
Sozialordnung herausgegebenen „Merkblatt für die ärztliche Untersuchung zu Nr. 2108“ (Bundesarbeitsblatt 3/1993 S.
50 ff., 52; im Folgenden: Merkblatt) wird in Übereinstimmung mit den Gesetzesmotiven (vgl. BR-Drucks. 773/92, zu
Art. 1 Nr. 4 S. 8, 9) eine mindestens zehnjährige Tätigkeit mit Heben und Tragen schwerer Lasten oder mit Arbeiten in
extremer Rumpfbeugehaltung gefordert. Nach dem Merkblatt betragen Lastgewichte, deren regelmäßiges Heben und
Tragen mit einem erhöhten Risiko für die Entwicklung bandscheibenbedingter Erkrankungen der Lendenwirbelsäule
verbunden sind, bei Männern im Alter von 18 bis 39 Jahren 25 kg und ab 40 Jahren 20 kg.
Aufgrund der von der M Bau GmbH, bei der er in den letzten sechs Jahren seines Berufslebens beschäftigt war,
bestätigten Angaben des Klägers im Verwaltungsverfahren zu den beruflichen Belastungen, denen er von 1954 bis
1996 in seiner beruflichen Tätigkeit als Maurer ausgesetzt war, sowie aufgrund der Stellungnahme des TAD der
Beklagten und deren verwaltungsinterner Einschätzung hat der Senat keinen Zweifel, dass der Kläger während seines
mehr als 40-jährigen Berufslebens als Maurer Arbeiten verrichtet hat, die als wirbelsäulenbelastend im Sinne der BK
Nr. 2108 zu werten sind. Aufgrund der Angaben des Arbeitgebers des Klägers und der Stellungnahme des TAD der
Beklagten kann es als gesichert angesehen werden, dass der Kläger länger als 40 Jahre eine Tätigkeit als Maurer
ausgeübt hat, die dem Belastungsprofil der von der Arbeitsgemeinschaft der Bau-Berufsgenossenschaften
erarbeiteten Dokumentation des Belastungsumfangs für Maurer im Hochbau (Stand Januar 1996) entsprach. Nach
dieser Dokumentation ist davon auszugehen, dass ein Maurer regelmäßig 50 % seiner Arbeitszeit
lendenwirbelsäulenbelastend im Sinne der BK Nr. 2108 arbeitet. Der Senat hat keinen Anlass, an der Richtigkeit
dieser von erfahrenen Technischen Aufsichtsbeamten erarbeiteten Dokumentation zu zweifeln, und daher keine
Bedenken, sie seiner rechtlichen Bewertung zugrunde zu legen. Zu berücksichtigen ist weiterhin, dass der Beruf des
Maurers zu den typischen Berufsgruppen gehört, für die epidemiologische Studien einen Zusammenhang zwischen
Heben und Tragen von Lasten sowie zwischen extremer Rumpfbeugehaltung und Erkrankungen der Lendenwirbelsäule
ergeben haben (vgl. BR-Drucks. 773/92 zu Artikel 1 Nr. 4 S. 9 und dem folgend das Merkblatt).
Entgegen der Auffassung der Beklagten besteht eine hinreichende Wahrscheinlichkeit dafür, dass die bei dem Kläger
im Bereich der Lendenwirbelsäule vorliegenden Gesundheitsstörungen ursächlich auf seine berufliche Tätigkeit
zurückzuführen sind. Das folgt aus den Feststellungen derjenigen Gutachter, die den Kläger selbst untersucht und auf
dieser Grundlage Gutachten bzw. gutachterliche Stellungnahmen abgegeben haben, insbesondere Dr. B und Dr. B.
Soweit Dr. H, Dres. T und S sowie Prof. Dr. N zu abweichenden Einschätzungen gekommen sind, kann ihnen im
Ergebnis und in wesentlichen Teilen der Begründung nicht gefolgt werden.
Prof. Dr. N kommt zwar zu dem Ergebnis, dass die Erkrankungen des Klägers nicht auf die berufliche Tätigkeit als
Maurer zurückzuführen seien, er gibt hierfür jedoch keine eigene Begründung, sondern schließt sich - pauschal - den
Ausführungen von Dr. H sowie Dres. T und S an.
Nicht nachvollziehbar sind die Ausführungen Dr. H in ihren Stellungnahmen vom 2. Februar 1998 und 8. Juli 1999,
soweit sie zu der Einschätzung gelangt ist, die bei dem Kläger vorliegenden Wirbelsäulenveränderungen überschritten
nicht die alterskorrigierte Norm. Diese Beurteilung, die nicht durch eine Definition dieses von ihr verwendeten Begriffs
plausibel gemacht wurde, widerspricht nicht nur den Einschätzungen derjenigen Sachverständigen, die den Kläger
selbst untersucht haben, nämlich von Dr. B und Dr. B. Sie wird auch von Dres. T und S nicht geteilt, die ausgeführt
haben, dass eine mit klinischen Symptomen verbundene krankhafte (also vom Normalzustand abweichende)
Veränderung der Lendenwirbelsäule jedenfalls im Jahre 1996 vorgelegen hat. Weiterhin verwundert es, dass Dr. H den
Befund bei L4/L5 als unauffällig bezeichnet hat, während die Fachärzte der Röntgendiagnostik Dres. B und S eine
deutliche dorsale Bandscheibenprotrusion in diesem Segment in ihrer Befundung vom 9. August 1996 beschrieben
haben. Dies lässt nach Auffassung des Senats zumindest Zweifel zu, ob Dr. H bei ihrer Einschätzung, die
bildtechnisch nachweisbaren segmentalen Bandscheibenveränderungen überschritten die alterskorrigierte Norm nicht,
die Befunde zutreffend bewertet und die richtigen Beurteilungsmaßstäbe angelegt hat.
Zu folgen ist hingegen den Ausführungen der Dres. T und S vom 31. Mai 2001 insoweit, als sie darauf hingewiesen
haben, dass eine krankhafte Veränderung der Bandscheibe allein das Kriterium einer „bandscheibenbedingten
Erkrankung“ nicht erfülle, sondern eine klinische Symptomatik zu fordern sei, d.h. funktionelle Auswirkungen gesichert
werden müssten. Letzteres war jedoch bei dem Kläger zumindest ab Beginn der von Dr. R festgestellten
Arbeitsunfähigkeit am 15. Juli 1996 der Fall. Es ist eindeutig belegt, dass bei dem Kläger ab Januar 1996 und erneut
ab Mai 1996 behandlungsbedürftige Beschwerden im Bereich der Lendenwirbelsäule aufgetreten waren, die sich in der
Folgezeit derart verschlimmerten, dass eine Bandscheibenoperation erforderlich wurde. Es lagen also - im Jahre 1996
- im Bereich der unteren Lendenwirbelsäule krankhafte Veränderungen vor, die - damals - belastungsabhängige
Schmerzen mit Ausstrahlung in das linke Bein und Funktionsausfälle verursachten, also die von Dres. T und S
geforderten „Symptome“ aufwiesen. Dieses Krankheitsbild und dessen Auswirkung ist, wie selbst von den
letztgenannten Ärzten eingeräumt wird (vgl. S. 11 der Stellungnahme vom 31. Mai 2001), als bandscheibenbedingte
Erkrankung der Lendenwirbelsäule zu werten. Diese hat dazu geführt, dass der Kläger seine bis 14. Juli 1996
ausgeübte Tätigkeit als Maurer einstellen musste und sie, obwohl durch die am 26. September 1996 durchgeführte
Operation und die Anschlussrehabilitation in der M Klinik Heine Besserung eintrat, anschließend nicht wieder
aufnehmen konnte. Letzteres folgt aus der sozialmedizinischen Stellungnahme der Klinik, wonach der Kläger über ein
vollschichtiges Leistungsvermögen für nur noch leichte körperliche Arbeiten ohne schweres Heben und Tragen und
dauerndes Bücken verfügte, sowie dem Umstand, dass der Kläger bis zu seiner Aussteuerung arbeitsunfähig
krankgeschrieben war und anschließend Rente wegen Berufsunfähigkeit erhielt, was fehlende Leistungsfähigkeit in
dem zuletzt ausgeübten Beruf als Maurer voraussetzt. Die von Prof. Dr. N in dem Gutachten vom 1. Juli 2002
vertretene Auffassung, man hätte den Versuch einer Wiedereingliederung an seinem Arbeitsplatz nach dem
Hamburger Modell mit entsprechender rückengerechter Arbeitsmöglichkeit bzw. Hilfsmittelversorgung unternehmen
können, dürfte sich mit den tatsächlichen Anforderungen an den Maurerberuf nicht in Einklang bringen lassen. Dass,
wie Prof. Dr. N annimmt, der Kläger nach dem erfolgreichen operativen Eingriff beschwerdefrei gewesen war, lässt
sich mit den Feststellungen, die Dr. B in dem Gutachten vom 31. August 1997 und Dr. B bei der Untersuchung am 1.
April 1999 getroffen haben, nicht vereinbaren. Den Angaben, die der Kläger gegenüber diesen Gutachtern gemacht
hat, ist keinesfalls nicht zu entnehmen, dass er „beschwer-defrei“ war. Gegenüber Dr. B hat er angegeben, er habe
beim Heben und Tragen sowie auch in Ruhe immer noch ein starkes Ziehen im Kreuz, das in das linke Bein
ausstrahle. Er habe gelegentlich auch Kribbelgefühle im Bereich der linken Fußsohle. Die Schmerzen strahlten über
das gesamte linke Bein bis in die Gesäßbacke ein. Er benötige dann Tropfen und müsse sich häufig hinlegen.
Teilweise brauche er ein Stufenbett. Er betreibe selbständig Krankengymnastik, die er während der Rehabilitation
gelernt habe. Taubheitsgefühle oder Lähmungen bestünden im Bereich des linken Beines aber nicht mehr.
Hiernach kann lediglich von einer Besserung der Beschwerden im Verhältnis zu der Situation vor der Operation im
September 1996 ausgegangen werden. Eine Beschwerdefreiheit, die es dem Kläger ermöglicht hätte, ohne auf Kosten
der Gesundheit zu arbeiten, seinen Beruf als Maurer (vollschichtig) auszuüben, war - jedenfalls bis zu der
Begutachtung durch Prof. N - nicht eingetreten.
Zusammenfassend ist daher zunächst festzuhalten, dass bei dem Kläger im Jahre 1996 eine bandscheibenbedingte
Erkrankung der Lendenwirbelsäule in Form einer computertomographisch gesicherten deutlichen dorsalen
Bandscheibenprotrusion bei L4/L5 (CT Dres. B und S vom 9. August 1996) und eines ebenfalls
computertomographisch gesicherten Bandscheibenvorfalls bei L5/S1 (CT Prof. Dr. P vom 16. September 1996)
aufgetreten ist, die ihn zur Aufgabe der lendenwirbelsäulenbelastenden Maurertätigkeit auf Dauer gezwungen hat.
Hieran hat sich dadurch, dass es durch die Operation zu einer erheblichen Besserung des Beschwerdebildes
gekommen ist, nichts geändert. Durch eine spätere Besserung oder sogar Heilung wird der bereits eingetretene
Versicherungsfall nicht wieder rückwirkend beseitigt. Die Besserung kann sich nur auf die durch den Eintritt des
Versicherungsfalls ausgelösten Entschädigungsansprüche auswirken, z.B. einen Anspruch auf Verletztenrente
verringern oder ausschließen.
Zutreffend sind daher auch Dres. T und S in der Stellungnahme vom 31. Mai 2001 davon ausgegangen, dass bei dem
Kläger im Jahre 1996 eine bandscheibenbedingte Erkrankung der Lendenwirbelsäule vorgelegen hat. Zu Recht
diskutieren die genannten Autoren daher nur die für die Entscheidung des Rechtsstreits ausschlaggebende Frage, ob
die 1996 eingetretene bandscheibenbedingte Erkrankung der Lendenwirbelsäule mit Wahrscheinlichkeit durch die
beruflichen Belastungen hervorgerufen wurde oder auf anderen Ursachen beruht. Den Ausführungen der Autoren ist in
wesentlichen Punkten zuzustimmen, ihrem Ergebnis, dass die hinreichende Wahrscheinlichkeit für eine berufliche
Verursachung der Lendenwirbelsäulenschädigung nicht plausibel zu machen sei, vermag der Senat jedoch nicht zu
folgen.
Dres. T und S weisen darauf hin, dass eine belastungsbedingte Induktion einer bandscheibenbedingten Erkrankung
nach den Regeln der Logik am ehesten topographisch dort zu erwarten sei, wo diese Belastungen kumulierten, was
nach heutigem Kenntnisstand im unteren Lendenwirbelsäulenbereich, besonders in den Segmenten L4/L5 und L5/S1
der Fall sei. Hieraus ergebe sich im Umkehrschluss, dass ein gleichförmiges Schadensbild, also
bandscheibenbedingte Erkrankungen über mehrere Segmente hinweg bis hinein in andere Wirbelsäulenabschnitte,
gegen eine belastungsbedingte Verursachung und somit für eine systemische Erkrankung spreche. Diese Auffassung
findet die uneingeschränkte Zustimmung des Senats und entspricht seiner ständigen Rechtsprechung (vgl. zuletzt
Urteil vom 26. April 2002 - L 3 U 42/99 - rechtskräftig nach Zurückweisung der Nichtzulassungsbeschwerde durch
Beschluss des BSG vom 19. August 2002 - B 2 U 181/02 B -). Liegen degenerative Veränderungen in allen
Wirbelsäulenabschnitten vor und sind die degenerativen Veränderungen im Bereich der Lendenwirbelsäule nicht
stärker ausgeprägt als in den anderen Wirbelsäulenabschnitten, spricht dies gegen eine berufliche Verursachung
bandscheibenbedingter Erkrankungen der Lendenwirbelsäule, so dass die Wahrscheinlichkeit des
Kausalzusammenhangs regelmäßig nicht bejaht werden kann. Sind alle Bereiche der Wirbelsäule betroffen,
insbesondere auch solche, die durch Hebe- und Tragevorgänge bzw. Arbeit in Rumpfbeugehaltung nicht belastet
werden, besteht eine erhebliche Wahrscheinlichkeit für die Ursächlichkeit anlagebedingter Faktoren. Liegen jedoch
Schäden ausschließlich oder überwiegend in Bereichen vor, die durch das langjährige Heben und Tragen schwerer
Lasten oder die Arbeit in Rumpfbeuge besonders belastet werden, nämlich an der unteren Lendenwirbelsäule, liegt der
Schluss auf eine berufliche Verursachung nahe.
Bei dem Kläger ist im Jahre 1996 ein Schadensbild gesichert worden (Prolaps bei L5/S1, Protrusion bei L4/L5), das
hiernach eindeutig für eine durch die langjährige Maurertätigkeit hervorgerufene Schädigung spricht. Entgegen der
(inzwischen wohl überholten) Auffassung Dr. H kann die hinreichende Wahrscheinlichkeit einer beruflichen
Verursachung eines bei L 5/S 1 eingetretenen Bandscheibenvorfalls nicht deshalb ausgeschlossen werden, weil in
den höheren Segmenten keine oder - wie hier bei L 4/L 5 - nur geringe Veränderungen vorliegen. Da die Druckkräfte,
die beim Heben und/oder Tragen schwerer Lasten sowie bei Arbeiten in extremer Rumpfbeugehaltung auf die
Wirbelsäule einwirken, im Bereich von L 5/S 1 am stärksten sind, stellt sich eine bandscheibenbedingte Erkrankung in
diesem Segment als belastungstypisches Schadensbild dar (u.a. Krämer/Brandenburg, Deutsches Ärzteblatt 92, Heft
38, 22. September 1995, A 2482, 2485). Das Fehlen von degenerativen Veränderungen in anderen Abschnitten der
Wirbelsäule und das Vorliegen nur geringer Abnutzungen im nächsthöheren Segment L 4/L 5 spricht nach Auffassung
des Senats gegen eine besondere anlagebedingte Verschleißneigung. Hiernach drängt sich bei einem Schadensbild
wie dem hiesigen (Bandscheibenvorfall in einem Bereich, in dem die Druckkräfte am meisten wirken und die
Belastung am größten ist; Fehlen von Veränderungen in anderen Abschnitten) der Schluss auf eine berufliche
Verursachung geradezu auf. Nach der - wohl auch von Dres. T/S geteilten - in der medizinischen Wissenschaft
inzwischen vorherrschenden Meinung kann eine mono- oder bisegmentale Schädigung an der unteren
Lendenwirbelsäule durchaus berufsbedingt sein (vgl. zum Meinungsstand: Mehrtens/Perlebach, Kommentar zur
BKVO, RdNr. 7.1 zu M 2108; siehe auch Becker, SGB 2000, 116, 119 sowie die Urteile des LSG Nordrhein-Westfalen
vom 10. Februar 1999 - HVBG-Info 1999, 2537 ff. - und vom 1. Juli 1999 - HVBG-Info 1999, 3221 ff. sowie LSG
Baden-Württemberg vom 12. Februar 1998 - HVBG-Info 1999, 3709 ff.).
Von wesentlicher Bedeutung für die Kausalitätsbeurteilung ist der Umstand, dass, worauf insbesondere Dr. B
hingewiesen hat, Anhaltspunkte für Alternativursachen nicht vorliegen. Auch Dres. T/S erörtern ausführlich die in der
orthopädischen Wissenschaft seit geraumer Zeit prinzipiell bekannte und unstreitige Vielfalt der „prädiscotischen“
Ursachenmöglichkeiten, insbesondere stoffwechselbedingte Einflüsse (Mangelernährung) und systemische
Erkrankungen (z.B. Diabetes), mechanische Auswirkungen (Fehlstatik, Beckenschiefstand, Skoliose) sowie
schädigungsrelevante Belastungen durch langjährige besondere sportliche Aktivitäten. Sie räumen ein, dass sich bei
dem Kläger nur geringe Asymmetrien an der unteren Lendenwirbelsäule, ansonsten aber keine groben Störungen der
Statik zeigten und Anhaltspunkte für anderweitige Erkrankungen, die als konkurrierende Ursachenfaktoren in Frage
kämen, den Akten nicht zu entnehmen seien.
Auch der zeitliche Ablauf und die Entwicklung der Erkrankung des Klägers spricht nicht dagegen, sondern eher dafür,
dass die berufliche Belastung, der er im Laufe seines 42-jährigen Berufslebens ausgesetzt gewesen war, wesentliche
Bedingung für den Bandscheibenschaden war, durch den er im Jahre 1996 zur Aufgabe der Berufstätigkeit als Maurer
gezwungen wurde. Nach seinen Angaben, die er gegenüber Dr. R bereits am Anfang des Verfahrens gemacht hat,
traten erstmals in den 80er Jahren gelegentlich Rückenschmerzen auf. 1990 war der Kläger wegen des beginnenden
Bandscheibenleidens erstmals fünf Tage arbeitsunfähig. Anfang 1995 nahmen dann die Beschwerden erheblich zu. In
der mündlichen Verhandlung hat der Kläger seine auf dem Vordruck der Beklagten gemachte Angabe, bei ihm seien
schon 1958 Lendenwirbelsäulenbeschwerden aufgetreten, korrigierend klargestellt. Er hat versichert, dass es sich nur
um einen einmaligen Vorfall gehandelt habe und dass erst 1981 weitere Beschwerden aufgetreten seien. Der Senat
hält das für glaubhaft, weil nicht vorstellbar ist, dass der Kläger den Beruf des Maurers sein ganzes Leben hätte
ausüben können, wenn schon im Alter von 18 Jahren ständig Rückenbeschwerden aufgetreten wären. Bei dem Kläger
ist es demnach erst nach ca. 25-jähriger Berufstätigkeit, also deutlich nach Ablauf der Zehn-Jahres-Frist, zu den
ersten Beschwerden und dann bei gleichbleibender beruflicher Belastung zu einer kontinuierlichen Verschlimmerung
des Leidenszustandes gekommen. Nachdem der Kläger seinen Beruf aufgegeben hatte und keine
lendenwirbelsäulenbelastenden Arbeiten mehr ausübte, ist es, wie aus den Gutachten von Dr. B (1997), Dr. B (1999)
und Prof. Dr. N (2002) hervorgeht, zu einer kontinuierlichen Besserung gekommen. Dieser Ablauf, dass während der
Berufsausübung eine kontinuierliche Verschlimmerung und nach dem Wegfall der beruflichen Belastung eine deutliche
Besserung eingetreten ist, ist weder von Dres. T und Snoch von Prof. Dr. N bei der Abwägung der für und gegen einen
berufsbedingten Zusammenhang sprechenden Umstände berücksichtigt worden. Er stellt jedoch nach der
Überzeugung des Senats einen nicht zu vernachlässigenden weiteren Umstand dar, der für die berufliche
Verursachung der bandscheibenbedingten Erkrankung der Lendenwirbelsäule spricht.
Soweit Dres. T und S die Auffassung vertreten, die Anerkennung der BK Nr. 2108 könne nicht empfohlen werden, weil
keine belastungsadaptiven Reaktionen nachgewiesen seien, vermag ihnen der Senat nicht zu folgen. Es gibt, worauf
der 2. Senat des LSG Berlin in dem Urteil vom 17. Dezember 2002 (L 2 U 6/02) zutreffend hingewiesen hat, keine
gesicherten medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisse, die es rechtfertigen könnten, die Anerkennung der
medizinischen Voraussetzungen der BK Nr. 2108 von dem Nachweis des Vorliegens belastungsadaptiver Reaktionen
an den Deck- und Tragplatten der Wirbelkörper in Form von Osteochondrosen und Spondylosen abhängig zu machen.
Die Behauptung der Autoren, die von ihnen genutzte Prüfungskonzeption zur Kausalitätsbeurteilung habe mittlerweile
breite Akzeptanz bei der Gerichtsbarkeit gefunden, ist durch das Zitat eines Urteils nicht ausreichend belegt worden.
Die Behauptung, bei dem Vorliegen/Fehlen belastungsadaptiver Reaktionen handele es sich um das entscheidende
Merkmal, mit dem nach derzeitigem Wissensstand eine Unterscheidung zwischen schicksalhaft entstandenen und
belastungsbedingten Bandscheibenschäden möglich sei, ist überhaupt nicht belegt worden. Der von diesen Autoren
angestellte Vergleich mit der „derben Hohlhandverschwielung des Schmieds“ und der Hinweis auf die besonders
kräftige Muskulatur eines Sportlers, um plausibel zu machen, dass bei körperlich schwer arbeitenden Menschen an
den Wirbelkörpern belastungsadaptive Reaktionen entstehen müssten, sind zwar nachvollziehbar. Sie können aber
nicht den Anspruch einer wissenschaftlich fundierten Begründung erheben, die den Senat veranlassen könnte, allein
hierauf seine Entscheidung über das Vorliegen der medizinischen Voraussetzungen der BK Nr. 2108 zu stützen. Es
trifft zwar zu, dass bis heute kein sicheres Unterscheidungsmerkmal, anhand dessen die Entstehung einer
bandscheibenbedingten Erkrankung durch berufliche Einflüsse zu belegen wäre, existiert. Das kann jedoch nicht dazu
führen, das ebenfalls nicht ausreichend gesicherte Kriterium des Vorliegens bzw. Fehlens belastungsadaptiver
Reaktionen als alleiniges oder maßgebliches Unterscheidungsmerkmal zu akzeptieren. Die Prüfung der Frage, ob ein
Gesundheitsschaden durch die versicherte Tätigkeit wesentlich mitverursacht wurde, bereitet nicht nur bei der BK Nr.
2108, sondern auch bei anderen Berufskrankheiten Schwierigkeiten und ist häufig nur durch Abwägung der für und
gegen den Ursachenzusammenhang sprechenden Umstände zu lösen. Die Unfallmedizin hat für die BK Nr. 2108
Merkmale und Abgrenzungskriterien entwickelt, die allgemein anerkannt sind und der Kausalitätsbeurteilung zugrunde
gelegt werden. Die Forderung der Dres. S/ T nach belastungsadaptiven Reaktionen kann, solange es keine fundierten
wissenschaftlichen Erkenntnisse gibt, nicht als alleiniges oder ausschlaggebendes, sondern nur als eines von
mehreren Abgrenzungsmerkmalen bei der Abwägung des Für und Wider Berücksichtigung finden. Sprechen jedoch -
wie hier - die weit überwiegenden Merkmale für einen Kausalzusammenhang, kann dieser nicht mit der Begründung
verneint werden, es fehle an belastungsadaptiven Reaktionen. Selbst S (HVBG-Info 29/2002, S. 2717 ff., 2724) hat
die hinreichende Wahrscheinlichkeit der beruflichen Verursachung in besonders gelagerten Einzelfällen bei dem
Fehlen belastungsadaptiver Reaktionen nicht ausgeschlossen und somit deren Vorliegen nicht als absolutes
negatives Positivkriterium postuliert. Da hier ein solcher besonderer Einzelfall vorliegen könnte, weil alle sonstigen
Umstände für eine berufliche Verursachung sprechen, hätte eine intensive abwägende Auseinandersetzung von Dres.
S und T erwartet werden können. Deren Einschätzung überzeugt daher im Ergebnis nicht.
Da die für eine berufliche Verursachung des Bandscheibenvorfalls sprechenden Umstände deutlich überwiegen, sind
auch die medizinischen Voraussetzungen für die Anerkennung der BK Nr. 2108 als erfüllt anzusehen.
Der Versicherungsfall ist mit dem Beginn der Dauerarbeitsunfähigkeit des Klägers am 15. Juli 1996 eingetreten, der
der Aufgabe der lendenwirbelsäulenbelastenden Tätigkeit gleichsteht. Ein Anspruch auf Verletztenrente steht dem
Kläger gemäß § 580 Abs. 3 Nr. 2 RVO vom Tage nach Beendigung des Anschlussheilverfahrens am 26. November
1996 zu, weil aufgrund der sozialmedizinischen Stellungnahme der M Klinik H bereits zu diesem Zeitpunkt zu
übersehen war, dass der Kläger aufgrund der Schwere seiner berufsbedingten Erkrankung der Lendenwirbelsäule die
Arbeitsfähigkeit nicht mehr erreichen würde und auch durch Maßnahmen der Heilbehandlung oder Berufshilfe nicht
würde beruflich eingegliedert werden können.
Der Senat hat keine Bedenken, den Sachverständigen Dr. Bund Dr. Bzu folgen, dass - nach Beendigung des
Rehabilitationsverfahrens in der M Klinik H - die Erwerbsfähigkeit des Klägers in rentenberechtigendem Grade
eingeschränkt war. Nicht nachvollziehbar ist allerdings die Auffassung Dr. B, dass von einer MdE von 30 v.H.
auszugehen sei. Die von ihm beschriebenen Funktionsstörungen rechtfertigen, wie Dr. R und Dr. S zutreffend
angemerkt haben, nur eine MdE von 20 v.H. Im Zeitpunkt der Begutachtung durch Dr. B im April 1999 war die
Besserung noch nicht soweit fortgeschritten, dass die MdE bereits unter 20 v.H. herabgesunken wäre. Die von dem
Kläger geschilderten (oben bereits wiedergegebenen) Beschwerden, die durch die Feststellungen des
Sachverständigen belegt sind, rechtfertigten nach wie vor den von Dr. B in Ansatz gebrachten Grad der MdE von 20
v.H. Eine Besserung der Funktionsstörungen der Lendenwirbelsäule ist erst bei der Untersuchung durch Prof. Dr. N
am 8. Mai 2002 festgestellt und in dem Gutachten vom 1. Juli 2002 nachvollziehbar dargelegt worden, so dass die
dem Kläger zu Unrecht vorenthaltene Rente erst von diesem Zeitpunkt an von der Beklagten, die wegen der erst ein
Jahr nach Einlegung der Berufung abgegebenen Begründung für die Verzögerung des Verfahrens die Verantwortung
trägt, hätte entzogen werden können.
Dass der Kläger bis 13. Januar 1998 von der AOK Berlin Krankengeld bezogen hat, schließt, da das Recht der RVO
Anwendung findet, den Anspruch auf Verletztenrente nicht aus. Über die Rückabwicklung des Rechtsverhältnisses
zwischen den Beteiligten dieses Verfahrens und der AOK Berlin wegen des gezahlten Krankengeldes ist in dem
hiesigen Rechtsstreit nicht zu befinden.
Bei der auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG) beruhenden Kostenentscheidung war zu berücksichtigen, dass der
Kläger mit seinem Begehren überwiegend Erfolg hatte, weil zum einen dem Antrag auf Anerkennung der BK Nr. 2108
entsprochen wurde und er zum anderen wegen dieser BK eine Verletztenrente für mehrere Jahre zugesprochen
bekam. Der Senat hielt es deshalb für sachgemäß, der Beklagten 3/4 der dem Kläger entstandenen Kosten des
Rechtsstreits aufzuerlegen.
Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.