Urteil des LSG Bayern vom 27.02.2002

LSG Bayern: rehabilitation, psychiatrische behandlung, rente, erwerbsfähigkeit, erwerbsunfähigkeit, form, erwerbstätigkeit, therapie, klinik, krankheit

Bayerisches Landessozialgericht
Urteil vom 27.02.2002 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht München S 12 RA 721/93
Bayerisches Landessozialgericht L 13 RA 239/99
I. Auf die Berufung der Klägerin wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts München vom 23. Dezember 1999
aufgehoben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 4. Juni 1993 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 15. November 1993 verurteilt, über den Antrag der Klägerin auf Gewährung
medizinischer Leistungen zur Rehabilitation unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut
rechtsbehelfsfähig zu entscheiden. II. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen. III. Die Beklagte hat der Klägerin
die notwendigen außergerichtlichen Kosten beider Rechtzüge zu erstatten. IV. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist die Gewährung medizinischer Leistungen zur Rehabilitation streitig.
Die am 1961 geborene Klägerin beantragte im Jahr 1986 erstmals die Gewährung von Rente wegen
Erwerbsunfähigkeit. Sie befand sich vom 30.07.1987 bis 07.10.1987 in einer medizinschen Rehabilitationsmaßnahme
der Beklagten. Daraus wurde sie arbeitsfähig entlassen und noch für fähig erachtet, als Büroangestellte/Studentin
vollschichtig erwerbstätig zu sein. Die Beklagte holte ein orthopädisches Gutachten vom 23.10.1989 ein, worin die
Klägerin noch für fähig erachtete wurde, vollschichtig erwerbstätig zu sein. Weiter holte die Beklagte ein
nervenärztliches Gutachten der Dr.B. vom 07.12.1989 ein, worin zusammenfassend festgestellt wurde, die Klägerin
könne seit 1986 und zur Zeit keine Berufs- oder Erwerbstätigkeit ausüben. Es werde die Rentengewährung für die
Dauer eines Jahres vorgeschlagen. In dieser Zeit sei jedoch eine Therapie in einer Psychosomatischen Klinik mit
gleichzeitiger Behandlung der wirbelsäulenabhängigen Beschwerden unbedingt erforderlich. Der beratungsärztliche
Dienst der Beklagten schloss sich der Beurteilung der Leistungsfähigkeit an, verneinte jedoch die Erforderlichkeit von
medizinischen Reha-Maßnahmen.
Nachdem die Beklagte den Rentenantrag der Klägerin zunächst abgelehnt hatte, bewilligte sie mit Bescheid vom
16.04.1993 der Klägerin ab 01.01.1992 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, ausgehend vom Eintritt des Leistungfalles
am 23.06.1986.
Einem Schreiben der Klägerin vom 11.03.1993 ergeben sich erstmals Hinweise auf einen noch offenen Antrag auf
Durchführung medizinischer Rehabilitationsmaßnahmen. Die Reha-Abteilung der Beklagten teilte der
Leistungsabteilung am 10.06.1993 mit, dass der Antrag auf medizinische Leistungen zur Rehabilitation mit Bescheid
vom 04.06.1993 abgelehnt worden sei. Mit Widerspruchsbescheid vom 15.11.1993 wies die Beklagte den Widerspruch
gegen den Ablehnungsbescheid als unbegründet zurück. Bei Art und Schwere der Gesundheitsstörungen sei nicht zu
erwarten, dass durch medizinische Leistungen zur Rehabilitation die bereits bestehende Erwerbs- oder
Berufsunfähigkeit beseitigt werden könne.
Hiergegen erhob die Klägerin mit Schreiben vom 23.11.1993 Klage zum Sozialgericht München und fügte Kopien des
Reha-Ablehnungsbescheides vom 04.06.1993 und des Widerspruchsbescheides vom 15.11.1993 bei. Zugleich erteilte
sie ihrem Vater Vollmacht. Den Schriftsätzen der Klägerin bzw. ihres Bevollmächtigten ist ein konkretes Begehren
bzw. eine konkrete Antragstellung nicht zu entnehmen.
Mit Gerichtsbescheid vom 23.12.1999 wies das Sozialgericht die Klage ab. Diese sei unzulässig, weil davon
auszugehen sei, dass der Bevollmächtigte der Klägerin prozessunfähig sei. Auch wenn die Klage durch die
Unterschrift der Klägerin dahingehend auszulegen sei, dass sie die Ausführungen des Bevollmächtigten genehmige
und sich zu eigen mache, sei die Klage nicht zulässig, da dies eine ordnungsgemäßen Inhalt der Klageschrift
voraussetze. Die Klageschrift müsse den Streitgegenstand bezeichnen, einen bestimmten Antrag und eine
Begründung enthalten. Die eingereichten Schriftsätze entsprächen diesen Kriterien nicht.
Dagegen richtet sich die Berufung der Klägerin, die vom bevollmächtigten Vater eingelegt wurde. Dem
Berufungsschreiben lässt sich entnehmen, dass Berufung gegen den Gerichtsbescheid mit dem Az.: S 12 RA 721/93
eingelegt werden soll. Ein konkretes Begehren oder ein konkreter Antrag lässt sich den Berufungsschreiben und auch
den folgenden Schriftsätzen nicht entnehmen.
Auf Anfrage übersandte die Beklagte eine Reha-Akte betreffend das 1987 durchgeführte Heilverfahren. Weitere
Vorgänge seien nicht vorhanden.
Unter Berücksichtigung der vorgelegten angefochtenen Bescheide ist davon auszugehen, dass die Klägerin
sinngemäß beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts München vom 23.12.1999 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung
des Bescheides vom 04.06.1993 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15.11.1993 zu verurteilen, ihr
medizinische Leistungen zur Rehabilitation zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf den Inhalt der beigezogenen Akten der Beklagten sowie der Gerichtsakten
beider Rechtszüge Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die von der Klägerin fristgerecht eingelegte Berufung ist gemäß den §§ 143, 151 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässig
und auch im Wesentlichen begründet.
Die vom Bevollmächtigten der Klägerin gefertigte Berufungsschrift entspricht zwar nicht der Form des § 151 Abs.3
SGG, da darin lediglich der angefochtene Gerichtsbescheid bezeichnet ist. Der fehlende Antrag und die fehlende
Angabe der zur Begründung dienenden Tatsachen und Beweismittel führen jedoch nicht zur Unzulässigkeit der
Berufung, da sich jedenfalls anhand der vorliegenden Unterlagen die Feststellung treffen lässt, welches Begehren die
Klägerin mit ihrem Rechtsmittel verfolgt (vgl. Meyer-Ladewig, SGG, 6.Aufl., Rdn.11 f. zu § 151 SGG). Auch eine
etwaige Prozessunfähigkeit des Klägerbevollmächtigten, wie vom Sozialgericht angenommen, macht die Berufung
nicht unzulässig, da es allein auf die Prozessfähigkeit der Klägerin ankommt (§§ 70, 71 SGG). Hieran zu zweifeln,
besteht nach einem Beschluss des Amtsgerichts Pfaffenhofen vom 16.02.1993, mit dem die Bestellung eines
Betreuers abgelehnt wurde, kein Anlass.
Aus den genannten Gründen ist das Sozialgericht zu Unrecht von der Unzulässigkeit der Klage ausgegangen. Die von
der Klägerin bzw. deren Bevollmächtigten eingelegte Klage ist zwar in sich kaum verständlich und wahrt insbesondere
nicht die Form der Sollvorschrift des § 92 SGG. Da die Klägerin jedoch den angefochtenen Bescheid und den
Widerspruchsbescheid der Klage beigefügt hatte, waren die angefochtenen Bescheide und auch das Begehren der
Klägerin festzustellen.
Die Berufung der Klägerin ist materiell-rechtlich auch insoweit begründet, als die Beklagte den Antrag auf Gewährung
medizinischer Leistungen zur Rehabilitation ermessensfehlerhaft abgelehnt hat, in dem sie die persönlichen
Voraussetzungen des Anspruches verneint hat.
Der Anspruch der Klägerin richtet sich nach den im Zeitpunkt der Antragstellung geltenden Fassung der §§ 9 bis 12
Sozialgesetzbuch, Sechstes Buch - SGB VI - (§ 301 SGB VI). Ein genaues Antragsdatum lässt sich nach Aktenlage
nicht feststellen, da die Beklagte die Reha-Akten trotz offenen Rechtsbehelfsverfahrens vernichtet hat. Es kann
jedoch von einer Antragstellung im März 1993 ausgegangen werden, als sich die Klägerin aktenkundig erstmals
wegen der Rehaformulare an die Beklagte wandte. Das genaue Antragsdatum ist im Übrigen von untergeordneter
Bedeutung, da bei den Anspruchsgrundlagen keine für die Klägerin wesentliche Änderungen erfolgt sind.
Nach § 10 SGB VI haben Versicherte für Leistungen zur Rehabilitation die persönlichen Voraussetzungen u.a. dann
erfüllt, wenn deren Erwerbsfähigkeit wegen Krankheit oder körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung
gemindert ist und diese geminderte Erwerbsfähigkeit wesentlich gebessert oder wiederhergestellt werden kann. Die
versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für die medizinischen Leistungen zur Rehabilitation haben Versicherte
nach § 11 Abs.1 Nr.2 SGB VI u.a. dann erfüllt, wenn sie bei Antragstellung eine Rente wegen verminderter
Erwerbsfähigkeit beziehen.
Die Klägerin bezieht seit 01.01.1992 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit und erfüllt somit die versicherungsrechtlichen
Voraussetzungen für die Gewährung medizinischer Reha-Maßnahmen (vgl. Niesel in Kasseler Kommentar, Rdn.6 zu §
11 SGB VI).
Die Klägerin erfüllte jedenfalls zum Zeitpunkt der Entscheidung der Beklagten auch die persönlichen Voraussetzungen
des § 10 SGB VI, weshalb die angefochtenen Bescheide rechtswidrig sind.
Unbestritten ist die Erwerbsfähigkeit der Klägerin gemindert, weshalb ihr die Beklagte auch Rente wegen
Erwerbsunfähigkeit zuerkannt hat. Die Bewilligung dieser Rente basiert im Wesentlichen auf dem nervenärztlichen
Gutachten der Dr.H. B. vom 07.12.1989, die zu der Feststellung gelangte, die Klägerin sei derzeit zu einer Berufs-
oder Erwerbstätigkeit nicht in der Lage. Gleichzeitig wurde jedoch eine Therapie in einer Psychosomatischen Klinik für
unbedingt erforderlich erachtet und die Notwendigkeit von Rehabilitationsleistungen in Form einer Heilbehandlung
ausdrücklich bejaht. Diese Festellungen sind auch angesichts des damaligen Alters der 1961 geborenen Klägerin
durchaus nachvollziehbar, zumal die Klägerin aus einem 1987 durchgeführten Heilverfahren als in jedenfalls
geringfügig gebessertem Zustand als arbeitsfähig entlassen und auch hier eine weitere psychiatrische Behandlung für
dringend erforderlich gehalten wurde.
Wenn demgegenüber der ärztlichen Dienst der Beklagten, ohne die Klägerin selbst untersucht und gesehen zu haben,
sich zwar der Leistungsbeurteilung der Gutachterin anschließt, den Erfolg einer Reha-Maßnahme aber entgegen der
Gutachterin verneint, so vermag dies nicht zu überzeugen.
Jedenfalls geht der angefochtene Bescheid vom 04.06.1993, der sich offensichtlich allein auf eine beratungsärztliche
Stellungnahme vom 19.12.1989 stützt, zu Unrecht davon aus, dass eine wesentliche Besserung der Erwerbsfähigkeit
durch eine medizinische Reha-Maßnahme nicht zu erreichen ist.
Der Bescheid ist daher rechtswidrig und aufzuheben.
Da die Klägerin jedoch keinen Anspruch auf eine bestimmte Leistung hat, sondern nur Anspruch auf pflichtgemäße
Ausübung des Ermessens (§ 39 Abs.1 Satz 2 Sozialgesetzbuch, Erstes Buch - SGB I -, § 9 Abs.2 SGB VI), wird die
Beklagte erneut über den Antrag auf Gewährung medizinischer Rehabilitationsmaßnahmen zu entscheiden haben.
Insoweit ist die Klägerin mit ihrem Begehren erfolgreich. Eine Verurteilung des Versicherungsträgers zur Gewährung
einer bestimmten Maßnahme ist bei Ermessensleistungen in der Regel nicht möglich.
Wegen Zeitablaufes wird die Beklagte die Frage, ob die Erwerbsminderung durch eine medizinische Reha-Maßnahme
auch jetzt noch wesentlich gebessert oder wieder hergestellt werden kann, durch Einholung eines Fachgutachtens neu
zu prüfen und dann nach dem Ergebnis der Sachverhaltsaufklärung zu entscheiden haben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe, gemäß § 160 Abs.2 SGG die Revision zuzulassen, liegen nicht vor.