Urteil des LSG Bayern vom 17.09.2003

LSG Bayern: berufliche tätigkeit, ärztliche untersuchung, wahrscheinlichkeit, anerkennung, entschädigung, berufskrankheit, dokumentation, form, unfallversicherung, sozialversicherung

Bayerisches Landessozialgericht
Urteil vom 17.09.2003 (nicht rechtskräftig)
S 5 U 67/98
Bayerisches Landessozialgericht L 17 U 90/01
Bundessozialgericht B 2 U 360/03 B
I. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 31.01.2001 wird zurückgewiesen. II.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist die Anerkennung und Entschädigung einer Berufskrankheit (BK) nach Nr.2108 der Anlage
1 zur Berufskrankheitenverordnung (BKV) streitig.
Der am 1950 geborene Kläger hatte nach Abschluss einer Lehre als Fliesenleger fortwährend in diesem Beruf - mit
Unterbrechungen durch Arbeitslosigkeit - gearbeitet. Zuletzt war er seit Juli 1990 bei der Firma H. GmbH beschäftigt.
Die Arbeiten wurden in gebückter Haltung und knieend ausgeführt. Sie waren mit Heben und Tragen von Lasten,
insbesonders von Fliesenpaketen, Heraklithplatten, Zement-, Mörtel- und Estrichsäcken verbunden. 1987 machte der
Kläger erstmals Rücken- und Hüftgelenksbeschwerden geltend. Seit 25.04.1994 war er arbeitsunfähig krank, seit
September 1995 arbeitslos.
Die Beklagte zog Befundberichte des Orthopäden Dr.B. vom 14.12.1994/10.02.1995/25.04.1995, ein Gutachten des
Orthopäden Dr.R. (für die LVA Unterfranken) vom 14.06.1995, die ärztlichen Unterlagen der LVA Unterfranken und
eine Krankheitenauskunft der AOK Aschaffenburg vom 26.05.1995 zum Verfahren bei und ließ von Dr.R. ein
orthopädisches Gutachten vom 11.06.1996 erstellen. Dieser diagnostizierte eine leichte Wirbelsäulenfehlstatik,
deutlich degenerative Veränderungen der Hals-, Brust- und Lendenwirbelsäule (HWS, BWS, LWS) sowie einen
konstitutionell engen Spinalkanal lumbal mit Bandscheibenprotrusionen L3/L4 und L4/L5 und hob besonders die
degenerativen Veränderungen der Wirbelsäule in allen Abschnitten hervor. Eine lumbale Wurzelreizsymptomatik hielt
er nicht für nachgewiesen. Dieses Beschwerdebild sei nicht berufsabhängig, da es sich um degenerative
altersphysiologische Verschleißerscheinungen handele.
Die Beklagte vertrat in der Stellungnahme vom 13.06.1997 die Auffassung, dass unter Berücksichtigung der
Dokumentation des Belastungsumfanges eines Fliesenlegers durch die Arbeitsgemeinschaft der Bau-
Berufsgenossenschaften sich kein Abweichen der beruflichen Tätigkeit des Klägers von den in dieser Dokumentation
aufgeführten Belastungsumfängen und Belastungsarten ergebe. Eine gefährdende Tätigkeit im Sinne der BK Nr.2108
habe deshalb bei dem als Fliesenleger tätigen Kläger nicht vorgelegen.
Mit Bescheid vom 28.10.1996 lehnte die Beklagte die Anerkennung und Entschädigung einer Wirbelsäulenerkrankung
als BK nach Nr.2108 mit der Begründung ab, die bestehenden degenerativen Veränderungen an allen drei
Wirbelsäulenabschnitten seien nicht auf berufliche Tätigkeiten zurückzuführen (bestätigt durch Widerspruchsbescheid
vom 21.01.1998).
Gegen diese Bescheide hat der Kläger Klage zum SG Würzburg erhoben und beantragt, die Wirbelsäulenerkrankung
ab Berufsaufgabe als BK nach Nr.2108 zu entschädigen und Verletztenrente nach einer MdE von mindestens 20 v.H.
zu gewähren. Das SG hat ein Gutachten der Orthopädin C. vom 06.05.1999 veranlasst, in dem diese auf ein
rezidivierendes Lumbago ohne Funktionseinschränkung und ohne anhaltende Wurzelirritation bei
computertomographisch nachgewiesenem anlagebedingt engem Spinalkanal und Bandscheibenvorwölbung L3/4 und
L4/5 hingewiesen hat. In allen Wirbelsäulenabschnitten ließen sich degenerative Veränderungen nachweisen.
Bedeutsamer für das Beschwerdebild sei aber der zweifellos anlagebedingte enge Spinalkanal, der zu den geklagten
Beschwerden geführt habe. Eine berufliche Verursachung könne nicht angenommen werden. Auf Veranlassung des
Klägers hat PD Dr.S. am 27.06.2000 ein orthopädisches Gutachten nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) erstellt.
Er hat die nachgewiesenen Bandscheibenschäden zwischen LWK 3/4 und LWK 4/5 sowie in geringerem Umfang auch
zwischen LWK 5/S1 angesprochen. Dabei hat er im Arbeitsleben des Klägers eine genügende Exposition
wirbelsäulenbelastender Tätigkeiten unterstellt. Degenerative Veränderungen der HWS hat er nicht gefunden. Die
vorliegenden degenerativen Veränderungen der BWS könnten im Rahmen wirbelsäulenbelastender Tätigkeiten
entstanden sein. Auch sei nicht der enge Spinalkanal Ursache für die Beschwerden, sondern die später
hinzugekommenen degenerativen Veränderungen. Damit liege beim Kläger eine Funktionsbeeinträchtigung der LWS
vor mit häufigen radikulären Ausstrahlungen, jedoch ohne Nervenausfälle. Sie sei bis zur Aufgabe der Berufstätigkeit
(September 1995) mit einer MdE von 20 v.H., anschließend aufgrund Befundbesserung mit 10 v.H. zu bewerten. Die
Beklagte hat dem mit Stellungnahme des Chirurgen Dr.E. vom 08.08.2000 widersprochen.
Mit Urteil vom 31.01.2001 hat das SG die Klage abgewiesen und sich im Wesentlichen auf die Ausführungen der
Sachverständigen C. gestützt.
Hiergegen hat der Kläger Berufung eingelegt und einen Arztbericht des Dr.E. vom 12.11.2002 vorgelegt.
Der Senat hat einen Befundbericht des Allgemeinarztes K. von 08.08.2001, die einschlägigen Röntgen- und CT-
Aufnahmen zum Verfahren beigezogen und ein Gutachten des Orthopäden Prof.Dr.B. vom 25.07.2002/14.2.2003
eingeholt. Dieser hat als Diagnosen ein LWS-Syndrom ohne Funktionseinschränkung und ohne radikuläre
Symptomatik neben computertomographisch nachgewiesenem, anlagebedingtem engen Spinalkanal,
Bandscheibenprotrusionen L3/L4 und L4/L5 sowie eine Spondylosis hyperostotica der BWS ohne wesentliche
Funktionseinschränkung angegeben. Einen Zusammenhang der degenerativen Wirbelsäulenveränderungen mit der
Berufsausübung hat er mit der Begründung verneint, im Bereich der gesamten Wirbelsäule lägen degenerative
Verschleißerscheinungen vor. Es imponiere ein chronisch-degeneratives Schadensmuster ohne objektivierbare
ausgeprägte Funktionseinschränkungen.
Der Kläger beantragt, die Beklagte unter Aufhebung des Urteils des SG Würzburg vom 31.01.2001 sowie des
Bescheides vom 28.10.1996 i.d.F. des Widerspruchsbescheides vom 21.01.1998 zu verurteilen, die
Wirbelsäulenerkrankung ab Berufsaufgabe als BK nach Nr.2108 der Anlage 1 zur BKV anzuerkennen und zu
entschädigen, hilfsweise ein weiteres Gutachten nach § 106 SGG einzuholen.
Die Beklagte beantragt, die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Würzburg vom 31.01.2001
zurückzuweisen.
Sie verweist auf die Stellungnahme ihres TAD vom 08.01.2002, wonach bei der vom Kläger ausgeübten Tätigkeit
keine gesundheitliche Gefährdung der Wirbelsäule i.S. der BK Nr. 2108 anzunehmen sei.
Wegen weiterer Einzelheiten wird auf die Verwaltungsakten der Beklagten, die Gerichtsakten erster und zweiter
Instanz sowie die ärztlichen Unterlagen der LVA Unterfranken und die Schwerbehindertenakte des Amtes für
Versorgung und Familienförderung Würzburg Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers ist zulässig, jedoch unbegründet.
Das SG hat zutreffend entschieden, dass der Kläger keinen Anspruch auf Anerkennung und Entschädigung einer BK
nach § 551 Abs.1 Reichsversicherungsordnung (RVO) i.V.m. Nr.2108 der Anlage 1 zur BKV hat, da die
Voraussetzungen nicht erfüllt sind. Der Anspruch richtet sich noch nach den Vorschriften der RVO, da die geltend
gemachte BK vor dem In-Kraft-Treten des Sozialgesetzbuchs (SGB) VII am 01.01.1997 eingetreten wäre (Art.36
Unfallversicherungs-Einordnungsgesetz, § 212 SGB VII). Nach § 551 Abs.1 Satz 2 RVO sind BKen die Krankheiten,
welche die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates bezeichnet und die ein
Versicherter bei einer der in den §§ 539, 540 und 543 bis 545 RVO benannten Tätigkeiten erleidet. Zu den vom
Verordnungsgeber bezeichneten BKen gehören nach der Nr.2108 der Anlage 1 zur BKV "bandscheibenbedingte
Erkrankungen der LWS durch langjähriges Heben oder Tragen schwerer Lasten oder durch langjährige Tätigkeiten in
extremer Rumpfbeugehaltung, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die
Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren und sein können". Die Feststellung der
BKen setzt also voraus, dass zum einen die arbeitstechnischen Voraussetzungen der BK erfüllt sein müssen, zum
anderen das typische Krankheitsbild der BK vorliegen muss und dieses i.S. der unfallrechtlichen Kausalitätslehre mit
Wahrscheinlichkeit auf die wirbelsäulenbelastende berufliche Tätigkeit zurückzuführen ist (vgl. Kasseler Kommentar -
Ricke - § 9 SGB VII RdNr.11; Brackmann/Krasney, Handbuch der Sozialversicherung Band 3 - Stand 1997 -, § 9 SGB
VII RdNr.21 ff). Schließlich muss die schädigende Tätigkeit aufgegeben sein. Die Wahrscheinlichkeit des
ursächlichen Zusammenhangs liegt vor, wenn nach vernünftiger Abwägung aller Umstände den für den
Zusammenhang sprechenden Umständen ein deutliches Übergewicht zukommt, so dass darauf die richterliche
Überzeugung gegründet werden kann (vgl. u.a. BSG vom 18.11.1997, SGb 1999, 39). Eine Möglichkeit verdichtet sich
zur Wahrscheinlichkeit, wenn nach geltender ärztlich-wissenschaftlicher Lehrmeinung mehr für als gegen einen
ursächlichen Zusammenhang spricht und ernste Zweifel hinsichtlich einer anderen Verursachung ausscheiden
(Bereiter-Hahn/Mehrtens, Unfallversicherung, § 9 SGB VII Anm.10.1 m.w.N.). Die Beweislast dafür, dass die
Erkrankung der Wirbelsäule durch arbeitsplatzbezogene Einwirkungen verursacht worden ist, trägt der Versicherte.
Der Senat lässt die Frage, ob die arbeitstechnischen Voraussetzungen zur Feststellung einer BK nach Nr.2108 der
Anlage 1 zur BKV erfüllt sind, dahingestellt. Denn selbst wenn diese Voraussetzung erfüllt wäre, ist der Anspruch des
Klägers zu verneinen. Es fehlt an dem Tatbestandsmerkmal der bandscheibenbedingten Erkrankung der LWS und an
der Wahrscheinlichkeit des Zusammenhangs zwischen Erkrankung und beruflicher Belastung.
Zwar konnten beim Kläger sämtliche Gutachter eine Bandscheibenvorwölbung im Segment L 3/L4 und L4/L5 neben
einer Ostechondrose (Knochen- bzw Knorpeldegeneration) im Bereich L5/S1 feststellen. Dieses klinische
Krankheitsbild umfasst auch ein Lumbalsyndrom, beruhend auf Wirbelsäulenverschleiß und Bandscheibenabnutzung
der untersten Etagen. Für das Vorliegen einer bandscheibenbedingten Erkrankung i.S. der BK Nr.2108 müssen aber
nach dem Merkblatt für ärztliche Untersuchung bei der BK Nr.2108 auch tatsächlich chronisch-rezidivierende
Beschwerden und Funktionseinschränkungen vorliegen, da die o.g. Krankheitsbilder auch bei beschwerdefreien
Personen auftreten können (Mehrtens/Perlebach, Die Berufskrankheitenverordnung, M 2108, Seite 6, 21;
Schönberger/ Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 6. Auflage, Seite 530). An einer deutlichen
Funktionsstörung fehlt es beim Kläger. Bei den klinischen Untersuchungen durch die Ärztin C. und Prof.B. konnten
keine wesentlichen Funktionsdefizite im Bereich des Achsen-Skelettes festgestellt werden. Es imponierte ein
chronisch-degeneratives Schadensmuster ohne objektivierbare ausgeprägte Funktionseinschränkung. Auch hatte der
Kläger, insbesondere bei der Untersuchung durch Prof.B. , subjektiv keine Schmerzen hinsichtlich der
Wirbelsäulenfunktion geäußert, weder bei Seit- noch bei Rotationsbewegungen. Eine Verspannung oder
Druckschmerzhaftigkeit der vertebralen Rückenmuskulatur konnte ebenfalls nicht ermittelt werden. Anhaltspunkte für
eine Wurzelirritation der LWS bestehen also nicht. Dies wird durch das Gutachten der Orthopädin Dr.B. (für die LVA
Unterfranken) vom 28.11.1996 bestätigt, die ebenfalls keine Wurzelreizsymptomatik oder neurologische Ausfälle an
der Wirbelsäule erkennen konnte. Damit ist der Begriff der bandscheibenbedingten Erkrankung i.S. der Nr.2108 nicht
erfüllt, obwohl an zwei Segmenten Bandscheibenprotrusionen nachgewiesen sind.
Gegen den beruflichen Kausalzuammenhang spricht auch die gleichzeitige Erkrankung aller Wirbelsäulenabschnitte
des Klägers, insbesondere HWS und BWS. Bei einer gleichmäßigen Degeneration der gesamten Wirbelsäule oder
stärkeren Verschleißerscheinungen an HWS und BWS ist der Kausalzusammenhang grundsätzlich wegen einer
konstitutionellen Veranlagung zu verneinen (Becker in: SGb 2000, 116 (119); Becker in: Brennpunkte des Sozialrechts
2001 - Thesen und Ergebnisse der 13. sozialrechtlichen Jahrestagung vom Februar 2001 in Bad Homburg -, Bl.52;
Urteil des SG Gießen vom 15.12.1998 - S 1 U 1473/95 -). Im Röntgenbefund der HWS lassen sich beim Kläger
degenerative Veränderungen in Form einer beginnenden Spondylose HWK 4 sowie einer bestehenden Uncarthrose der
unteren HWS-Anteile feststellen. Bei den degenerativen Veränderungen im Bereich der BWS, die ausgeprägter sind
als die Veränderungen an der LWS, handelt es sich um Abnützungsreaktionen i.S. einer Spondylosis hyperostotica
Forestier, also um ausgeprägte degenerative Wirbelsäulenaffektionen mit breiten zuckergußartigen
Knochenanlagerungen an den Vorderflächen der Wirbelkörper und groben intervertebralen Knochenspannungen mit
Wirbelankylose. Insbesondere bei der BWS handelt es sich um einen nicht belasteten Wirbelsäulenabschnitt. Liegen
auch dort krankhafte Veränderungen vor, spricht dies eindeutig für ein anlagebedingtes Leiden. Dass die
degenerativen Veränderungen lediglich rechts und ventral der BWS vorkommen, ist als zufälliges Verteilungsmuster
anzusehen. Einseitige degenerative Wirbelsäulenveränderungen durch eine einseitige Mehrbelastung der Wirbelsäule
als Rechtshänder sind nämlich nicht bekannt. Entgegen der Auffassung des PD Dr.S. gibt es keine wissenschaftliche
Nachweise, dass Veränderungen der BWS durch berufliche Belastung entstehen können. Dies kommt auch dadurch
zum Ausdruck, dass der Verordnungsgeber Erkrankungen der BWS ausdrücklich nicht in die
Berufskrankheitenverordnung als BKen aufgenommen hat.
Da der Sachverhalt hinreichend aufgeklärt ist, war die Einholung weiterer Gutachten nicht erforderlich.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs.2 Nrn.1 und 2 SGG liegen nicht vor.