Urteil des LSG Bayern vom 17.04.2007

LSG Bayern: anhaltende somatoforme schmerzstörung, arbeitsunfall, wahrscheinlichkeit, trennung, spanien, depression, gesundheitsschaden, geburt, diagnose, tod

Bayerisches Landessozialgericht
Urteil vom 17.04.2007 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht München S 20 U 251/03
Bayerisches Landessozialgericht L 3 U 335/05
I. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgericht München vom 09.08.2005 wird zurückgewiesen. II.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist, ob die Klägerin aufgrund des Arbeitsunfalles vom 03.08.2000 Anspruch auf die Gewährung einer
Verletztenrente über den 30.09.2001 hinaus hat.
Die 1948 geborene Klägerin erlitt am 03.08.2000 bei einem Arbeitsunfall, als sie im Kühlraum ausrutschte und eine
Kiste mit Kartoffeln auf sie fiel, erlitt sie eine schwere Verletzung der linken Hüfte. Der Durchgangsarzt Dr.S.
diagnostizierte eine Prellung der Hüfte links, am 13.09.2000 stellten die Dres. P. und M. bei einer
Kernspintomographie einen traumatischen Abriss einzelner Sehnen vom Sitzbeinhöcker links fest.
Zur Aufklärung des Sachverhaltes holte die Beklagte einen Befundbericht des Allgemeinarztes Dr.M. (vom
29.09.2000), eine beratungsärztliche Stellungnahme auf chirurgisch-orthopädischem Gebiet des Dr.G. (vom
17.11.2000, 04.12.2001 und 03.01.2002) sowie ein neurologisch-psychiatrisches Sachverständigengutachten des
Dr.J. vom 15.01.2001/04.12.2001 ein. Aufgrund seiner Feststellung, es sei eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE)
von 10 v.H. und unter Berücksichtigung der chirurgischen Beeinträchtigungen eine Gesamt-MdE von 20 v.H. bis
30.09.2001 für einen Zeitraum von 18 Monaten gegeben, erkannte die Beklagte mit Bescheid vom 19.11.2002 einen
Arbeitsunfall an und gewährte als vorläufige Entschädigung eine Rente in Höhe von 20 v.H. vom 19.12.2000 bis
30.09.2001. Als Folge des Unfalls erkannte die Beklagte an: "Nach ausgeheilter schwerer Kontusion der linken Hüfte
und des Gesäßes links mit Abriss einzelner Sehnen vom Sitzbeinhöcker links, vorübergehende, inzwischen
abgeklungene, Funktionsbeeinträchtigung der linken Hüfte und des linken Beines". Den hiergegen eingelegten
Widerspruch wies sie mit Widerspruchsbescheid vom 13.03.2003 aufgrund des Berichtes des Dr.H. vom 28.01.2003
und des kernspintomographischen Befundes der Beckenregion vom 29.01.2003 in der radiologischen Praxis K.
zurück.
Hiergegen hat die Klägerin Klage zum Sozialgericht München (SG) erhoben und beantragt, die Beklagte unter
Abänderung des Bescheides vom 19.11.2002 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.03.2003 zu verurteilen,
bei ihr über den 30.09.2001 hinaus eine MdE von 20 v.H. anzuerkennen und die gesetzlichen Leistungen zu erbringen.
Das SG hat zur Aufklärung des Sachverhalts ein chirurgisch-orthopädisches Gutachten des Dr.L. (vom 26.9.2003)
und ein nervenärztliches Gutachten des Dr. M. (vom 13.5.2004) eingeholt. Dr. L. hat festgestellt, dass die durchaus
schwere, ausgesprochen ungewöhnliche Verletzung der Klägerin, der Sehnenabriss, keinen höhergradigen
Funktionsverlust oder gar -ausfall bedingt habe. Ab dem 01.04.2001 liege lediglich eine MdE von 10 v.H. vor. Dr.M.
hat auf nervenärztlichem Gebiet aufgrund des Unfalls keine MdE messbaren Grades feststellen können. Da bei der
nervenärztlichen Begutachtung durch Dr.J. am 11.12.2000, also vier Monate nach dem Unfall, Depressionen durch
den Sachverständigen verneint wurden, sei ein ursächlicher Zusammenhang der reaktiv-depressiven Symptomatik mit
dem Unfallereignis zu verneinen. Insbesondere müsse darauf hingewiesen werden, dass sich die Diagnose einer
reaktiven Depression auf die subjektiven Angaben der Klägerin stütze, die vor dem Hintergrund des laufenden
Sozialgerichtsverfahrens gesehen werden müssten. Das SG hat die Klage mit Urteil vom 09.08.2005 abgewiesen und
zur Begründung auf die Sachverständigengutachten der Dres. L. und M. Bezug genommen.
Gegen dieses Urteil hat die Klägerin Berufung eingelegt. Sie trägt vor, es sei fraglich, inwieweit die Depression
unfallbedingt sei. Zum Beleg für die Depression hat sie einen Entlas-sungsbericht der Fachklinik für Psychiatrie und
Psychotherapie G. vom 12.01.2006 übersandt, wo die Klägerin vom 08.12.2005 bis 10.01.2006 in stationärer
Behandlung gewesen ist. Zur Aufklärung des Sachverhalts hat der Senat die Rentenakten der Klägerin von der
Landesversicherungsanstalt Baden-Württemberg beigezogen und ein Sachverständigengutachten der Neurologin und
Psychiaterin Dr.P. vom 05.10.2006 eingeholt. Dr.P. kam zu dem Ergebnis, dass durch den Unfall vom 03.08.2000 nur
die traumatischen Sehnen- und Muskelabrisse, die jedoch neurologischer- wie chirurgischerseits ohne Konsequenzen
über den 01.10.2001 hinaus ausgeheilt sind, verursacht wurden. Die Erkrankungen auf nervenärztlichem Gebiet ließen
sich dagegen nicht mit Wahrscheinlichkeit allein oder wesentlich durch den Unfall vom 03.08.2000 erklären. Die bei
der Klägerin vorliegende anhaltende somatoforme Schmerzstörung und die protrahierte ängstlich-depressive
Anpassungsstörung nach multiplen psychosozialen Belastungen erklärten sich aus der Biographie der Klägerin. Nach
dem frühen Tod der Mutter, dem plötzlichen Herztod des Vaters, dem mehrfachen Umzug durch verschiedene
europäische Länder (Österreich, Schweiz, Spanien, Bundesrepublik), der Geburt des behinderten Sohnes I. , des
Seitensprunges mit nachfolgender Trennung und der Scheidung von ihrem Ehemann im Mai 2000 sei der Unfall
geschehen. Die Lebensgeschichte der Klägerin mit erheblichen emotionalen Defiziten und der Notwendigkeit innerer
Anspannung und innerer Durchhalteappelle, sei eine klassische Grundlage für die später aufgetretene chronische
Schmerzerkrankung. Nach aktueller psychiatrisch-psychotheapeutischer Lehrmeinung könne eine solche
Schmerzerkrankung vor einem derartigen Hintergrund spontan oder aber auch aufgrund einer Gelegenheitsursache
jederzeit ausbrechen und sei ein relativ häufiges Krankheitsbild. Die ängstlich-depressive Entwicklung der Klägerin sei
vor allem eine Reaktion auf die immer schwieriger werdenden äußeren Umstände, verbunden mit der
Perspektivlosigkeit, dass bis auf Weiteres eine Zusammenführung mit ihren Kindern nicht realistisch sei. Bei der
genannten Konstellation sei die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten eines solchen Symptomkomplexes auch ohne
den Unfall relativ hoch. Seit dem 01.10.2001 ergebe sich auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens durch die
unfallbedingten Gesundheitsstörungen keine MdE von 10 v.H. und mehr.
Die Klägerin hat ein fachärztliches Attest des behandelnden Psychiaters Dr.R. vom 21.09.2006 übersandt, das eine
mittlerweile chronifizierte depressive Störung bescheinigt. Erste Symptome seien nach dem Arbeitsunfall aufgetreten.
Die Klägerin beantragt, die Beklagte unter Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts München vom 09.08.2005 und
unter Abänderung des Bescheides vom 19.11.2002 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.03.2003 zu
verurteilen, ihr über den 30.09.2001 hinaus eine Verletztenrente nach einer MdE von mindestens 20 v.H. zu gewähren.
Die Beklagte beantragt, die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 09.08.2005
zurückzuweisen.
Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf die Gerichtsakten beider Instanzen und die beigezogene Beklagtenakte
sowie die Rentenakte der Landesversicherungsanstalt Baden-Württemberg verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung ist unbegründet. Die Klägerin hat über den 30.09.2001 hinaus keinen Anspruch auf eine
Verletztenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung, weil keine MdE von mindestens 20 v.H. vorliegt.
Die Beweisaufnahme durch den Senat hat das Ergebnis des Urteils des Sozialgerichts München bestätigt. Bei der
Klägerin liegen - auch auf nervenärztlichem Gebiet - keine Gesundheitsstörungen vor, die eine MdE von wenigstens
20 v.H. bedingen.
Nach dem Vortrag der Klägerin im Berufungsverfahren steht mittlerweile außer Streit, dass auf chirurgisch-
orthopädischem Gebiet keine MdE vorliegt, die mehr als 10 v.H. beträgt.
Entgegen der Auffassung der Klägerin liegt jedoch auch auf nervenärztlichem Gebiet keine MdE vor, die einen
Rentenanspruch nach § 56 SGB VII begründen könnte. Zwar leidet die Klägerin an einer anhaltenden somatoformen
Schmerzstörung und einer protrahierten ängstlich-depressiven Anpassungsstörung. Diese Erkrankung kann jedoch
nicht in kausalem Zusammenhang mit dem Unfall vom 03.08.2000 gesehen werden. Der Arbeitsunfall muss nämlich
wesentlich an der Entstehung der Gesundheitsstörung mitgewirkt haben. Davon ist auszugehen, wenn der
Arbeitsunfall neben anderen Bedingungen bei wertender Betrachtung die Bedingung ist, die wegen ihrer besonderen
qualitativen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich beigetragen hat (Theorie der wesentlichen Bedingung,
ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. BSGE 63, 277). Für diesen ursächlichen Zusammenhang zwischen dem
schädigenden Ereignis und dem Gesundheitsschaden sowie Folgeschäden ist hinreichende Wahrscheinlichkeit
ausreichend. Es genügt also, wenn bei Abwägung aller Umstände die für den Zusammenhang sprechenden
Erwägungen so stark überwiegen, dass darauf die richterliche Überzeugung gegründet werden kann (BSGE 32, 203,
209; 45, 285, 286).
Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze kommt der Senat zu der Überzeugung, dass die psychischen
Erkrankungen der Klägerin nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit durch den Arbeitsunfall vom 03.08.2000
verursacht wurden. Vielmehr liegt die wesentliche Ursache für die somatoforme Schmerzstörung und die ängstlich-
depressive Anpassungsstörung in der Lebensgeschichte der Klägerin, die viele Schicksalsschläge hinnehmen
musste, auf deren Grundlage sich nach psychiatrisch-psychologischem Wissensstand häufig ein derartiges
Störungsbild entwickelt. Diese multiplen psychosozialen Belastungen im Leben der Klägerin begannen mit dem frühen
Tod der Mutter und dem plötzlichen Herztod des Vaters. In der darauf folgenden Zeit wechselte die Klägerin mehrfach
zwischen Österreich, der Schweiz und Spanien sowie der Bundesrepublik den Wohnsitz, litt unter der außerehelichen
Beziehung des Ehemannes, die sowohl zur Trennung vom Ehemann als auch zur Trennung von den Kindern führte.
Diese Problematik kumulierte dann darin, dass wenige Wochen nach der Scheidung vom Ehemann der Unfall
geschah. Außerdem erlebte die Klägerin die Geburt eines behinderten, mongoloiden Kindes in einer relativ stabilen
Phase des Lebens in der Familie in Spanien. Diese Lebensgeschichte mit erheblichen emotionalen Defiziten und einer
inneren Anspannung bildet die klassische Grundlage für ein chronisches Schmerzsyndrom, wie die Sachverständige
Dr.P. überzeugend festgestellt hat. Derartige Schmerzsyndrome treten jedoch spontan oder aufgrund einer
Gelegenheitsursache jederzeit auf und sind ein relativ häufiges Krankheitsbild. Der Arbeitsunfall hat deshalb nur eine
vorbestehende Krankheitsanlage ausgelöst und stellt daher keine wesentliche Ursache im Sinne des
Unfallversicherungsrechts dar. Krankheitsdispositionen - bei der Klägerin durch die Lebensgeschichte geschaffen -
müssen nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts als allein wesentliche Ursache gewertet werden,
wenn sie so stark ausgeprägt und so leicht ansprechbar sind, dass es zur Auslösung des akuten Krankheitsbildes
keiner besonderen, ihrer Art nach unersetzlichen äußeren Einwirkung aus der versicherten Tätigkeit bedurft hätte und
wenn der Gesundheitsschaden wahrscheinlich auch ohne diese Einwirkungen durch beliebig austauschbare
Ereignisse des unversicherten Alltagslebens zu annähernd gleicher Zeit und in annähernd gleicher Schwere
entstanden wäre (BSG, Urteil vom 02.05.2001 - B 2 U 18/00 R, HVBG-Info 2001, 1713 mit weiteren Nachweisen).
Nach den Ausführungen der Sachverständigen Dr.P. ist bei der Klägerin davon auszugehen, dass die Lebenssituation
der Boden war, auf dem eine chronische Schmerzerkrankung jederzeit - sogar spontan! - ausbrechen konnte. Der
Senat hat keine Gründe, an diesem Ergebnis zu zweifeln. Es deckt sich auch mit den Feststellungen des Dr.M. und
des Dr.J ... Im Übrigen ergibt auch die Auswertung der Rentenunterlagen der Landesversicherungsanstalt Baden-
Württemberg keine Anhaltspunkte für eine andere Entscheidung. Die Sachverständigengutachten des Nervenarztes
Dr.B. bestätigen im Wesentlichen die Diagnose der Sachverständigen Dr.P. , nehmen jedoch nicht zur
Zusammenhangsfrage Stellung.
Im Ergebnis war die Klage abzuweisen, da auf psychiatrischem Gebiet keine Unfallfolgen vorliegen, die eine MdE
bedingen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Die Revision war nicht zuzulassen.