Urteil des LSG Bayern vom 23.03.2005

LSG Bayern: anus praeter, fortbewegung, befreiung, einverständnis, rehabilitation, befund, klinik, fremder, verordnung, eingriff

Bayerisches Landessozialgericht
Urteil vom 23.03.2005 (rechtskräftig)
Sozialgericht Nürnberg S 4 SB 656/02
Bayerisches Landessozialgericht L 18 SB 96/03
I. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 03.07.2003 wird zurückgewiesen. II.
Die Klage gegen den Bescheid vom 14.11.2003 wird abgewiesen. III. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu
erstatten. IV. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist, ob dem Kläger die Merkzeichen aG und RF zustehen.
Bei dem 1941 geborenen Kläger sind mit Bescheid vom 28.11.2001 eine "Enddarmerkrankung (in
Heilungsbewährung), Kunstafter" mit einem GdB von 100 festgestellt. Am 06.08.2002 beantragte er die Zuerkennung
der Merkzeichen G, aG und RF. Der Beklagte zog Befunde des Pathologen Prof. Dr.W. vom 22.02.2002 und des
Klinikums N. vom 28.02.2002 und 31.07.2002 bei und lehnte nach Einholung von Stellungnahmen des Facharztes für
Allgemeinmedizin E. vom 10.08.2002 und des Dr.B. vom 16.12.2002 mit Bescheid vom 23.08.2002 in der Fassung
des Widerspruchsbescheides vom 07.01.2003 die Anerkennung der beantragten Merkzeichen ab.
Im anschließenden Klageverfahren vor dem Sozialgericht Nürnberg (SG) hat der Kläger die Zuerkennung der
Merkzeichen G, aG und RF beantragt. Wegen der Erkrankung an Darmkrebs mit einem künstlichen Ausgang und
nach dreimaliger Operation stünden ihm die beantragten Merkzeichen zu. Das SG hat ärztliche Befunde des
Internisten Dr.A. vom 27.05.2002, des Pathologen Dr.F. vom 23.05.2002, des Allgemeinmediziners H. vom
28.11.2001 und 04.06.2003, des Klinikums N. vom 07.03.2002 mit weiteren Unterlagen, des Chirurgen Dr.F. vom
06.02.2003, des Pathologen M. vom 19.12.2002, einen Reha-Entlassungsbericht der R.klinik A. über die Maßnahme
vom 10.09. bis 22.10.2002 und des Urologen Dr.H. vom 15.02.2003 beigezogen.
Der vom SG mit Gutachten vom 03.07.2003 gehörte Dr.G. hat die gesundheitlichen Voraussetzungen für die
Gewährung der Merkzeichen G, aG und RF verneint. Das SG hat daraufhin die Klage mit Urteil vom 03.07.2003
abgewiesen. Die beim Kläger mit einem GdB von 20 bewerteten Gesundheitsstörungen der Lendenwirbelsäule
bedingten nicht die Zuerkennung des Merkzeichens aG. Auch die Voraussetzungen für die Zuerkennung des
Merkzeichens RF lägen nicht vor, da der Kläger aufgrund der Anlage eines Anus praeter nicht ständig, d.h. nicht
allgemein und umfassend von öffentlichen Veranstaltungen ausgeschlossen sei. Der Anus praeter sei dichtschließend
und es gingen von ihm keine unzumutbar abstoßenden oder störenden Wirkungen aus. Eine Geruchsbelästigung der
Umgebung sei nicht zu erwarten.
Gegen dieses Urteil hat der Kläger Berufung eingelegt. Zur Begründung hat er Arztbriefe des Internisten Dr.A. vom
12.10.2004, des Pathologen Dr.W. vom 12.10.2004, des Klinikums N. vom 02.11.2004 und drei Fotos, die ihn mit
seinem künstlichen Ausgang zeigen, vorgelegt. Des Weiteren hat er auf sein geringes Einkommen und die Schwere
seiner Krankheit hingewiesen.
Nach erneuter Antragstellung des Klägers vom 11.07.2003 hat der Beklagte mit Bescheid vom 07.08.2003 die
Zuerkennung des Merkzeichens G abgelehnt. Auf den Widerspruch des Klägers hin hat der Beklagte mit
Abhilfebescheid vom 14.11.2003 die Erfüllung der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen G ab
01.07.2003 anerkannt und folgende Gesundheitsstörungen festgestellt: 1. Enddarmerkrankung (in
Heilungsbewährung), Kunstafter, GdB 100 2. Chronische Bronchitis, Lungenblähung, GdB 10 3. Bluthochdruck,
Durchblutungsstörungen des Herzens, GdB 10 4. Psychovegetative Störungen, GdB 10 5. Fehlhaltung und
Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, GdB 10.
Die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Merkzeichen B, aG, H, Bl, RF, 1.Klasse hat er verneint.
Der Kläger beantragt sinngemäß, das Urteil des SG Nürnberg vom 03.07.2003 und den Bescheid des Beklagten vom
23.08.2002 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 07.01.2003 aufzuheben und den Bescheid vom
14.11.2003 abzuändern sowie den Beklagten zu verurteilen, bei ihm die gesundheitlichen Voraussetzungen für die
Zuerkennung der Merkzeichen aG und RF festzustellen.
Der Beklagte beantragt, die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Nürnberg vom 03.07.2003
zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben übereinstimmend ihr Einverständnis mit einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren und durch
den Berichterstatter erklärt.
Ergänzend zum Sachverhalt wird auf den Inhalt der Schwerbehindertenakte sowie die Gerichtsakten beider
Rechtszüge Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Entscheidung ergeht im Einverständnis mit den Beteiligten im schriftlichen Verfahren und durch den
Berichterstatter (§§ 153 Abs 1, 124 Abs 2, 155 Abs 3 und 4 Sozialgerichtsgesetz -SGG-).
Soweit der Beklagte mit dem Bescheid vom 14.11.2003 wiederum die Merkzeichen aG und RF abgelehnt hat,
entscheidet hierüber der Senat auf Klage hin. Auch Verwaltungsakte, die aufgrund eines wiederholten Antrags die
bisherige Entscheidung lediglich bestätigen, werden gem § 96 SGG Gegenstand des laufenden Verfahrens (Meyer-
Ladewig, SGG-Komm, 7.Auflage, § 96 Rdnr 9 mwN).
Die form- und fristgerecht (§§ 143, 151 SGG) eingelegte Berufung ist zulässig, aber nicht begründet. Die
gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung der noch streitgegenständlichen Merkzeichen aG und RF
liegen beim Kläger nicht vor.
Wer als außergewöhnlich gehbehindert anzusehen ist, ergibt sich nicht aus dem Schwerbehindertenrecht, sondern aus
§ 6 Abs 1 Nr 14 Straßenverkehrsgesetz (StVG) i.V.m. Nr 11 Abs 2 Satz 1 der Verwaltungsvorschrift (VV) zu § 46
Straßenverkehrsordnung (StVO). Danach ist außergewöhnlich gehbehindert i.S. des § 6 Abs 1 Nr 14 StVG, wer sich
wegen der Schwere seines Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb seines
Kraftfahrzeuges bewegen kann. Hierzu zählen: Querschnittsgelähmte, Doppeloberschenkelamputierte,
Doppelunterschenkelamputierte, Hüftexartikulierte und einseitig Oberschenkelamputierte, die dauernd außerstande
sind, ein Kunstbein zu tragen oder nur eine Beckenkorbprothese tragen können oder zugleich unterschenkel- oder
armamputiert sind, sowie andere Schwerbehinderte, die nach versorgungsärztlicher Feststellung, auch aufgrund von
Erkrankungen, dem vorstehend angeführten Personenkreis gleichzustellen sind.
Die Vorschrift ist ihrem Zweck entsprechend eng auszulegen (BSG SozR 3-3870 § 4 Nr 22). Eine außergewöhnliche
Gehbehinderung liegt nur vor, wenn die Möglichkeit der Fortbewegung in einem hohen Maße eingeschränkt ist, wobei
ausdrücklich auf die Behinderung beim Gehen abzustellen ist. Die Auswirkungen der Gehstörungen müssen funktional
im Hinblick auf die Fortbewegung denen des Personenkreises der Vergleichsgruppe entsprechen. Das Gehen muss
deshalb nur unter ebenso großer Anstrengung möglich sein wie bei den beispielhaft aufgeführten Personen der
Vergleichsgruppen. Bei diesen liegen vornehmlich Schädigungen der unteren Extremitäten in einem erheblichen
Ausmaß vor, die bewirken, dass Beine und Füße die ihnen zukommende Funktion der Fortbewegung nicht oder nur
unter bestimmten Erschwernissen erfüllen (BSG aaO mwN).
Da der Kläger mit den festgestellten Behinderungen nicht zu einer der in der Verwaltungsvorschrift beispielhaft
aufgeführten Gruppen von schwerbehinderten Menschen gehört, kann er nach den Kriterien dieser Norm nur dann als
außergewöhnlich gehbehindert angesehen werden, wenn er diesem Personenkreis gleichzustellen ist. Für eine solche
Gleichstellung hat das BSG in ständiger Rechtsprechung den folgenden Maßstab entwickelt: Ein Betroffener ist
gleichzustellen, wenn seine Gehfähigkeit in ungewöhnlich hohem Maße eingeschränkt ist und er sich nur unter ebenso
großen Anstrengungen wie die in Nr 11 Abschn II 1 Satz 2 1.Halbs. VV zu § 46 StVO aufgeführten Schwerbehinderten
oder nur noch mit fremder Hilfe fortbewegen kann (BSG SozR 3-3870 § 4 Nr 23, BSG vom 10.12.2002 - B 9 SB 7/01
R).
Nach dem vom SG eingeholten Gutachten des Dr.G. , das der Senat im Wege des Urkundenbeweises verwerten kann
(Meyer-Ladewig, aaO § 118 Rdnr 12b) und dem er hinsichtlich der Merkzeichen aG und RF folgt sowie unter
Berücksichtigung der eingeholten Befunde der behandelnden Ärzte (Entlassungsbericht der R.klinik A. vom
21.11.2002, Arztbrief des Urologen Dr.H. vom 15.02.2003 und des Allgemeinmediziners H. vom 04.06.2003) liegen die
gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens aG beim Kläger nicht vor. Danach zeigte
sich während der Rehabilitation vom September bis Oktober 2002 der altersentsprechend wirkende Kläger in einem
leicht reduzierten Allgemeinzustand und Kräftezustand. Es fanden sich keine Zeichen einer kardiopulmonalen
Dekompensation, keine Ruhedispnoe, kein Ikterus, keine Ödeme oder Zyanose. Wirbelsäule und Gelenke waren
altersentsprechend beweglich. Der neurologische Befund war unauffällig. Dr.H. beschrieb unauffällige Nieren bei
restharnfreier Entleerung der Blase. Der Hausarzt H. beschrieb Angaben des Klägers vom 11.07.2001 bis 20.09.2001
über häufig wechselnden Stuhlgang, Stuhlinkontinenz, körperliche Belastungsschwäche, Schwindelgefühle,
linksseitige Leistenbeschwerden, besonders beim Treppensteigen. Vom 11.07.2001 bis 08.01.2003 habe
Arbeitsunfähigkeit bestanden. Nach dem zweiten operativen Eingriff am 24.07.2002 sei eine mäßige Besserung und
ca. drei Monate nach der Rehabilitation sei ab Januar 2003 eine deutliche Befundbesserung erzielt worden. Nach den
von Dr.G. erhobenen Befunden ist die Gehfähigkeit des Klägers nicht in ungewöhnlich hohem Maße eingeschränkt.
Auch die Zuerkennung des Merkzeichens RF ist zu verneinen. Das Merkzeichen RF ist in den Ausweis einzutragen,
wenn der Schwerbehinderte die landesrechtlich festgestellten gesundheitlichen Voraussetzungen für die Befreiung von
der Rundfunkgebührenpflicht erfüllt. Nach § 1 Abs 1 Nr 3 der Verordnung über die Befreiung von der
Rundfunkgebührenpflicht vom 21.07.1992 (BayGVBl. Nr 14 - 1991, S 254) werden u.a. von der
Rundfunkgebührenpflicht befreit Behinderte, deren GdB nicht nur vorübergehend wenigstens 80 beträgt und die wegen
ihres Leidens an öffentlichen Veranstaltungen ständig nicht teilnehmen können. Nach der Rechtsprechung des BSG
ist eine enge Auslegung von Gebührenbefreiungsvorschriften geboten (BSG SozR 3870 § 3 Nrn 24, 25). Danach wird
dem Zweck der Befreiung von der Gebührenpflicht für den Rundfunk- und Fernsehempfang dann genügt, wenn der
Schwerbehinderte wegen seiner Leiden, d.h. allgemein und umfassend, vom Besuch von Zusammenkünften
politischer, künstlerischer, wissenschaftlicher, kirchlicher, sportlicher, unterhaltender oder wirtschaftlicher Art
ausgeschlossen ist. Von der Teilnahme im angeführten Sinn ausgeschlossen ist auch der Behinderte, dem das
Aufsuchen fast aller öffentlicher Veranstaltungen mit Rücksicht auf die Störung anderer Teilnehmer nicht zugemutet
werden kann. Das ist immer dann der Fall, wenn es den anderen Teinehmern an öffentlichen Veranstaltungen
unzumutbar ist, Behinderte wegen Auswirkungen ihrer Behinderungen zu ertragen, insbesondere, wenn diese durch
ihre Behinderungen auf ihre Umgebung unzumutbar abstoßend oder störend wirken, z.B. durch Entstellung oder
Geruchsbelästigung bei unzureichend verschließbarem Anus praeter (BSG vom 12.02.1997 - 9 RVs 2/96 mwN).
Der Sachverständige Dr.G. hat festgestellt, dass vom Kläger keine unzumutbar abstoßenden oder störenden
Wirkungen ausgehen. Der Anus praeter ist dichtschließend. Eine Geruchsbelästigung der Umgebung ist nicht zu
erwarten. Eine Behandlung mit immunsupressiven Medikamenten wird nicht durchgeführt. Anhaltspunkte, dass der
Kläger öffentliche Veranstaltungen nicht besuchen kann, sind weder den Ausführungen des Klägers und den
ärztlichen Unterlagen, noch dem Sachverständigengutachten zu entnehmen.
Die vom Kläger im Berufungsverfahren vorgelegten ärztlichen Befunde aus dem Jahr 2004 des Internisten Dr.A. , des
Pathologen Dr.W. und des Klinikums N. haben keine Gesichtspunkte erbracht, die eine weitere ärztliche
Begutachtung nahegelegt hätten. Dr.A. spricht in seinem Befundbericht vom 12.10.2004 an die praktische Ärztin G.
von einem relativen Wohlbefinden des Klägers und berichtet im Bereich des Anus praeter von einem unauffälligen
Befund ohne Hinweise auf ein Rezidiv oder Metastasierung. Den Befundbericht des Pathologen Dr.W. hat Dr.A. in
seinem Befundbericht verwertet. Auch der Untersuchungsbefund des Klinikums N. vom 02.11.2004 war unauffällig.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 183, 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision im Sinne des § 160 Abs 2 Nrn 1 und 2 SGG sind nicht ersichtlich.