Urteil des LSG Bayern vom 23.02.2005

LSG Bayern: vergleich, gütliche einigung, falsches zeugnis, zumutbare tätigkeit, arglistige täuschung, widerruf, drohung, anfechtbarkeit, prozesshandlung, persönlichkeitsstörung

Bayerisches Landessozialgericht
Beschluss vom 23.02.2005 (rechtskräftig)
S 4 RJ 371/02
Bayerisches Landessozialgericht L 16 R 706/04
I. Es wird festgestellt, dass der Rechtsstreit durch den am 14. Dezember 2004 geschlossenen Prozessvergleich
erledigt ist. II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Wirksamkeit des einer dem Senat am 14.12.2004 geschlossenen Vergleichs.
Der 1954 geborene Kläger beantragte bei der Beklagten am 28.01.2000 Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit.
Mit Bescheid vom 29.01.2001 lehnte die Beklagte den Rentenantrag ab mit der Begründung, der Kläger könne
vollschichtig auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch eine zumutbare Tätigkeit ausüben und sei deshalb weder berufs-
noch erwerbsunfähig. Der Widerspruch wurde nach Beiziehung eines für das Arbeitsamt erstellten Gutachtens mit
Widerspruchsbescheid vom 17.06.2002 aus den selben Gründen zurückgewiesen.
Im Klageverfahren wurden der Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr.A. sowie der Orthopäde Dr.M. mit der Erstellung
eines Gutachtens beauftragt. Die Gutachter haben als Gesundheitsstörungen festgestellt:
1. ängstlich-asthenische Persönlichkeitsstörung
2. leichte depressive Anpassungsstörung
3. Verdacht auf Somatisierungsstörung
4. Verdacht auf Morbus Meniére
5. Rückenschmerzen bei geringen Aufbraucherscheinungen
6. Schmerzen und Funktionseinschränkungen am Kniegelenk bei Meniskusschaden
7. Schmerzen ohne nachweisbare Veränderungen am rechten Ellenbogengelenk und Handgelenk
Beide Ärzte waren der Auffassung, dass eine deutliche Persönlichkeitsstörung vorliege, die allerdings eine tägliche
Arbeitszeit von acht Stunden für mittelschwere Arbeiten im Sitzen oder Stehen nicht ausschließe.
Das Sozialgericht wies mit Urteil vom 27.03.2003 die Klage ab.
Die dagegen gerichtete Berufung wurde damit begründet, der Kläger habe zuletzt nur befristet bei der Firma S.
gearbeitet und könne in seinem Beruf als Elektromechaniker nicht mehr tätig sein. Nach Einholung von
Befundberichten wurde Dr.S. , Arzt für Neurologie und Psychiatrie zum gerichtlichen Sachverständigen bestellt. Dr.S.
diagnostizierte:
1. Neurasthenie
2. leichte rezidivierende Lumboischialgie ohne Hinweise auf periphäres neurologisches Defizit.
Das Leistungsvermögen bewertete er mit weiterhin vollschichtig, auch für Tätigkeiten als Elektromechaniker,
einfacher Pförtner oder Warenaufmacher. Leichte Arbeiten ohne Heben und Tragen von schweren Lasten, nicht auf
Leitern oder Gerüsten, nicht unter Zeit- und Termindruck und nicht in Nachtschicht sowie ohne überwiegenden
Publikumverkehr seien dem Kläger zumutbar. In der mündlichen Verhandlung vom 14.12.2004 schlossen die
Beteiligten einen Vergleich dahingehend, dass die Beklagte sich bereit erklärte, beim Kläger baldmöglichst eine
ärztlicherseits für erforderlich gehaltene stationäre Rehabilitationsmaßnahme durchzuführen, und der Kläger dieses
Angebot angenommen und die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 27.03.2003
zurückgezogen hat.
Mit Schreiben vom 18.12.2004 widersprach der Kläger dem Vergleich vom 14.12.2002 und teilte mit, er nehme das
Angebot nicht an und ziehe die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Augsburg nicht zurück. Dies habe er zu
Beginn der Verhandlung eindeutig dargelegt. Er bitte deshalb um Berichtigung des Vergleichs.
Der Kläger beantragt in der mündlichen Verhandlung vom 23.02.2005 festzustellen, dass er die Klage nicht
zurücknimmt.
Die Beklagte beantragt, festzustellen, dass das Berufungsverfahren durch Vergleich erledigt ist.
Wegen weiterer Einzelheiten wird auf den Inhalt der Akten der Beklagten, des Sozialgerichts Augsburg und des Bayer.
Landessozialgerichts Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die vom Kläger form- und fristgerecht eingelegte Berufung war zulässig (§§ 143, 144, 151 Sozialgerichtsgesetz - SGG
-), der Rechtsstreit ist jedoch durch den Vergleich vom 14.12.2004 erledigt.
Der Kläger hat im Termin zur mündlichen Verhandlung am 14.12.2004 vor dem erkennenden Senat mit der Beklagten
einen Prozessvergleich geschlossen. Damit ist der Rechtsstreit gemäß den §§ 153 Abs.1, 101 SGG vollständig
erledigt. Die Voraussetzungen für einen Widerruf bzw. eine Anfechtung des Vergleichs und die Fortführung des
Berufungsverfahrens liegen nicht vor. Wenn der Kläger nunmehr erklärt, er habe zu Beginn der Verhandlung am
14.12.2004 dem Gericht dargelegt, dass er die Berufung nicht zurückziehe, widerspricht das nicht seiner nach
Erörterung der Sach- und Rechtslage später abgegebenen Erklärung, die ausweislich des Protokolls vorgelesen und
von ihm genehmigt wurde. Der von den Beteiligten geschlossene Vergleich hat nach herrschender Meinung eine
Doppelnatur: Er ist einerseits ein materiell-rechlicher Vertrag und andererseits eine Prozesshandlung, welche die
Beendigung des Rechtsstreits bewirkt (vgl. Meyer-Ladewig, 7.Auflage, Rdnr.12 ff. zu § 101 SGG, BSG vom
24.01.1991 - 2 RU 51/90). Es liegen jedoch weder prozess- noch materiell-rechtliche Gründe vor, die den
Prozessvergleich unwirksam machen.
Zunächst ist festzustellen, dass keine prozessrechtlichen Gründe für eine Unwirksamkeit des Prozessvergleichs
ersichtlich sind. Inbesondere wurde der Vergleich den Beteiligten vorgelesen, von diesen genehmigt und
ordnungsgemäß protokolliert (§§ 143 Abs.1, 122 SGG i.V.m. §§ 160 ff. ZPO).
Die Niederschrift wurde vom Vorsitzenden und der Urkundsbeamtin der Geschäftstelle unterzeichnet (§ 163 ZPO).
Das Protokoll wurde unter Beachtung aller Vorschriften (§ 122 SGG i.V. §§ 160, 162, 163 ZPO) erstellt und beweist
somit die Beachtung der für die mündliche Verhandlung vorgeschriebenen Förmlichkeiten (§ 165 ZPO). Der Vermerk
im Protokoll "vorgelesen und genehmigt" beweist, dass die protokollierte Erklärung abgegeben wurde. Deshalb ist
nach § 165 Satz 2 ZPO gegen seinen die Förmlichkeit betreffenden Inhalt nur der Nachweis der Fälschung zulässig.
Die Beweiskraft des Protokolls als öffentlicher Urkunde i.S. von § 415 ZPO kann somit nur durch den Nachweis der
Fälschung (§§ 165 S.2 ZPO) beseitigt werden. In seinem Schreiben vom 18.12.2004 spricht der Kläger von einem
"Missverständnis". Dieses Vorbringen zeigt, dass er möglicherweise nachträglich, die abgegebene Erklärung nicht
aufrechterhalten wollte, lässt aber keinerlei Zweifel am Inhalt der protokollierten Erklärung zu. Auch sein Antrag in der
mündlichen Verhandlung vom 23.02.2005 zeigt, dass er allenfalls über die Rechtsfolge seiner Erklärung im Unklaren
war.
Das durch den Vergleich rechtskräftig beendete Verfahren kann auch nicht entsprechend den Bestimmungen des 4.
Buches der ZPO (§ 179 SGG, §§ 578 bis 580 ZPO) wieder aufgenommen werden, (vgl. BSG vom 24.04.1980 - 9 RV
16/79 -). Hierunter fallen insbesondere die falsche eidliche Aussage des gegnerischen Prozessbevollmächtigten, eine
Urkundenfälschung, ein falsches Zeugnis oder Gutachten von Zeugen oder Sachverständigen, die strafbare
Amtspflichtverletzung eines Richters oder das Auffinden einer bisher unbekannten Urkunde. Dabei kommt eine Reihe
der in den §§ 579, 580 ZPO genannten Wiederaufnahmegründen schon deshalb nicht in Betracht, weil der Rechtsstreit
nicht durch gerichtliche Entscheidung, sondern durch gütliche Einigung der Beteiligten (Vergleich) beendet wurde.
Als Prozesshandlung kann der Vergleich auch weder frei widerrufen noch entsprechend dem bürgerlich-rechtlichen
Vorschriften wegen Irrtums oder Drohung (§§ 119, 123 BGB) angefochten werden (BSG Urteil vom 24.04.1980 Az.: 9
RV 16/79 m.w.N.). Es lässt sich aus dem Vorbringen des Klägers keinerlei Anhaltspunkt dafür entnehmen, dass er
sich beim Abschluss des Vergleichs in einem Irrtum im Sinne des § 119 BGB befunden hat oder gar zu der im
Rahmen des Vergleichs abgegebenen Erledigterklärung durch arglistige Täuschung oder Drohung im Sinne des § 123
BGB bestimmt worden ist.
Weiter ist der Prozessvergleich auch nicht aus materiell-rechtlichen Gründen unwirksam. Dies wäre dann der Fall,
wenn er als öffentlich-rechtlicher Vertrag nach den Bestimmungen des BGB nichtig oder wirksam angefochten ist
(siehe § 58 SGB X). Das gleiche gilt, wenn der nach dem Inhalt des Vergleichs als feststehend zugrunde gelegte
Sachverhalt der Wirklichkeit nicht entspricht oder der Streit oder die Ungewissheit bei Kenntnis der Sachlage nicht
entstanden wäre (§ 779 Abs.1 BGB, siehe BSG vom 24.01.1991 2 RU 51/90). Keiner der Voraussetzung der
Unwirksamkeit des Prozessvergleichs liegt hier vor. Zunächst sind die Voraussetzung des § 779 Abs.1 BGB nicht
erfüllt, da die Beteiligten zu Recht davon ausgegangen sind, dass die Entscheidung der Beklagten über den
Widerspruch gegen die Rentenablehnung offen war und darüberhinaus eine Entscheidung über die Gewährung der
befürworteten Leistung zur medizinischen Rehabilitation noch nicht erfolgte. Anhaltspunkte für eine Nichtigkeit des
Prozessvergleichs nach den §§ 116 ff. BGB liegen ebensowenig vor wie die Voraussetzungen einer Anfechtbarkeit
nach den §§ 119, 123 BGB. Es gilt insoweit das bereits für die Anfechtbarkeit der Prozesserklärung gesagte. Da
somit keinerlei Zweifel an der Wirksamkeit und dem Bestand des Vergleichs bestehen, ist festzustellen, dass der
Rechtsstreit durch den Vergleich erledigt ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Eine Kostenerstattung ist nicht angezeigt, da der Kläger mit dem
Widerruf des Vergleichs nicht obsiegen konnte.
Gründe, gemäß § 160 Abs.2 SGG die Revision zuzulassen, liegen nicht vor.