Urteil des LSG Baden-Württemberg vom 27.01.2010

LSG Baden-Württemberg: drucksache, auflage, ausschluss, verfügung, hauptsache, entlastung, verfassungsrecht, verfahrensrecht, zugang, verfahrensordnung

LSG Baden-Württemberg Beschluß vom 27.1.2010, L 7 R 3206/09 B
Sozialgerichtliches Verfahren - Ausschluss der Beschwerde gegen Entscheidung über die Ablehnung eines Sachverständigen -
Gerichtsperson - analoge Anwendung von § 172 Abs 2 SGG - Vereinheitlichung der Verfahrensordnungen - Verfassungsrecht - Instanzenzug -
Abschaffung eines statthaften Rechtsmittels - Änderungen bezüglich Rechtsmittelzugang
Leitsätze
Entscheidungen der Sozialgerichte über die Ablehnung von Sachverständigen sind jedenfalls seit Inkrafttreten des SGGArbGGÄndG vom 26. März
2008 (BGBl. I S. 444) nicht mehr anfechtbar.
Tenor
Die Beschwerde des Klägers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Freiburg vom 23. Juni 2009 wird als unzulässig verworfen.
Gründe
1
Die gegen den Beschluss des Sozialgerichts Freiburg (SG) eingelegte Beschwerde ist unzulässig, da nicht statthaft. Die Beschwerde ist in
entsprechender Anwendung des Beschwerdeausschlussgrundes des § 172 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) nicht gegeben.
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Gemäß § 172 Abs. 2 SGG (in der hier anwendbaren Fassung des Gesetzes zur Änderung des SGG und des Arbeitsgerichtsgesetzes
vom 26. März 2008 - SGGArbGGÄndG - ) können u.a. Beschlüsse über die Ablehnung von Gerichtspersonen nicht mit der
Beschwerde angefochten werden. Diese Regelung gilt zwar nicht unmittelbar, weil - wie die Bestimmung des § 60 Abs. 1 Satz 1 SGG und der
dortige Verweis auf die §§ 41 ff. der Zivilprozessordnung (ZPO) einerseits sowie § 118 Abs. 1 Satz 1 SGG andererseits zeigen - zu den
Gerichtspersonen nur die Richter (§§ 41, 42 ZPO) und die Urkundsbeamten (§ 49 ZPO), nicht dagegen die Sachverständigen zählen (vgl.
Bundesarbeitsgericht , Beschluss vom 22. Juli 2008 - 3 AZB 26/08 - NJW 2009, 935; Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg,
Beschluss vom 21. Juli 1997 - 9 S 1580/97 - NVwZ-RR 1998, 56; Keller in Meyer-Ladewig u.a., SGG, 9. Auflage, § 118 Rdnr. 12o). Die Vorschrift
des § 172 Abs. 2 SGG ist indessen analog anzuwenden (ebenso - zu § 49 Abs. 1 und 3 ArbGG - BAG, Beschluss vom 22. Juli 2008 a.a.O.; a.A.
Keller in Meyer-Ladewig, a.a.O.; Roller in Hk-SGG, 3. Auflage, § 118 Rdnr. 27; wohl auch Leitherer in Meyer-Ladewig, a.a.O., § 172 Rdnr. 6f), weil
das Gesetz eine ausfüllungsbedürftige Regelungslücke enthält. Dies ergibt sich zur Überzeugung des Senats aus Folgendem:
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Mit dem SGGArbGGÄndG sollte eine Entlastung der Sozialgerichtsbarkeit insgesamt erreicht werden, und zwar durch eine Straffung des
sozialgerichtlichen Verfahrens, die es den Gerichten erlaubt, ihrer Amtsermittlungspflicht zum einen besser nachzukommen, zum anderen aber
auch Verzögerungen des Verfahrens, die durch die Verfahrensbeteiligten selbst verursacht werden, zu sanktionieren (vgl. BT-Drucksache
16/7716 S. 1). Diesem Ziel dient auch die Ausweitung der Regelungen über den Beschwerdeausschluss in § 172 SGG (vgl. hierzu auch
Senatsbeschlüsse vom 29. Juli 2008 - L 7 SO 3431/08 PKH-B - und vom 17. November 2008 - L 7 AS 2588/08 PKH-B - ). Dabei
sollte mit der Änderung in § 172 Abs. 2 SGG im Interesse der Vereinheitlichung der Verfahrensordnungen eine Anpassung an § 146 der
Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) bewirkt werden (vgl. BT-Drucksache 16/7716 S. 22 zu Nr. 29 Buchst. a). Dort war bereits mit dem 6. VwGO-
Änderungsgesetz vom 1. November 1996 (BGBl. I S. 1626) in § 146 Abs. 2 VwGO eine der jetzigen Fassung des § 172 Abs. 2 SGG
entsprechende Bestimmung über den Ausschluss der Beschwerde bei Beschlüssen über die Ablehnung von Gerichtspersonen aufgenommen
worden, die wie alle Rechtsänderungen in der genannten Gesetzesnovelle der Verfahrensvereinfachung und -beschleunigung der seinerzeit
überlasteten Verwaltungsgerichte diente (vgl. BT-Drucksache 13/5098 S. 1 f.). Der Ausschluss der Beschwerdemöglichkeit sollte den Beteiligten
den Anreiz nehmen, Ablehnungsgesuche allein deshalb anzubringen, um die Entscheidung in der Hauptsache hinauszuzögern (vgl. BT-
Drucksache a.a.O. S. 24 f. zu Nr. 21 Buchst. a).
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Die Beschleunigung des Verfahrens bezwecken im Übrigen auch die Regelungen in § 49 Abs. 3 ArbGG (in der Fassung der Bekanntmachung
vom 2. Juli 1979 ; vgl. BAG, Beschluss vom 14. Februar 2002 - 9 AZB 2/02 - NZA 2002, 872; BAG, Beschluss vom 22. Juli 2008
a.a.O.) sowie in § 128 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO); in letzterer Bestimmung ist der Beschwerdeausschluss hinsichtlich von
Beschlüssen über die Ablehnung von Sachverständigen neben demjenigen für Gerichtspersonen (und Dolmetscher) sogar ausdrücklich
geregelt. Mit dieser durch das 2. Gesetz zur Änderung der FGO vom 19. Dezember 2000 (BGBl. I S. 1757) in § 128 Abs. 2 FGO eingefügten
Ergänzung sollte den Beteiligten in Angleichung an die Regelung in § 146 Abs. 2 VwGO der Anreiz zur Hinauszögerung der Entscheidung in der
Hauptsache durch Ablehnungsgesuche genommen werden (vgl. BT-Drucksache 14/4061 S. 11 f. zu Nr. 18); hierbei wurde allerdings mit Blick
auf die Stellungnahme des Bundesrats (vgl. BT-Drucksache 14/4450 S. 3 zu Art. 1 Nr. 18) sowie auf die Beschlussempfehlung des
Rechtsausschusses (vgl. BT-Drucksache 14/4549 S. 12) der ursprünglich im Gesetzesentwurf nur für Gerichtspersonen vorgesehene
Beschwerdeausschluss u.a. auf Sachverständige ausgedehnt, weil diese vom Begriff der „Gerichtsperson“ nicht erfasst seien.
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§ 172 Abs. 2 SGG enthält zwar entgegen § 128 Abs. 2 FGO keine ausdrückliche Regelung hinsichtlich der Ablehnung von Sachverständigen.
Zwar dürfte dem Gesetzgeber bei der Schaffung des SGGArbGGÄndG die restriktive Begrenzung der Vorschrift des § 146 Abs. 2 VwGO auf
Gerichtspersonen in der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung und Literatur und damit die dort angenommene Nichtanwendbarkeit des
Beschwerdeausschlusses auf Beschlüsse über eine Sachverständigenablehnung bekannt gewesen sein (vgl. hierzu nochmals VGH Baden-
Württemberg, Beschluss vom 21. Juli 1997 a.a.O.; Bayer. VGH, Beschluss vom 4. August 2003 - 1 C 03.950 - NJW 2004, 90; Meissner in
Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, § 54 Rdnr. 57, Meyer-Ladewig/Rudisile, a.a.O., § 146 Rdnr. 10; Guckelberger in Sodan/Ziekow,
VwGO, 2. Auflage, § 146 Rdnr. 28; Kopp/Schenke, VwGO, 16. Auflage, § 54 Rdnr. 19). Anhaltspunkte dafür, dass der Gesetzgeber in diesem
Sinne für Sachverständige auch im sozialgerichtlichen Verfahren bewusst einen Beschwerdeausschluss nicht vorsehen wollte mit der Folge,
dass über § 118 Abs. 1 Satz 1 SGG oder § 202 SGG der zivilprozessualen Bestimmung des § 406 Abs. 5 ZPO (weiterhin) Geltung verschafft
werden sollte (so anscheinend Keller in Meyer-Ladewig u.a., a.a.O., § 118 Rdnr. 12o; Roller in Hk-SGG, a.a.O., § 118 Rdnr. 27), sind indessen
nicht ersichtlich. Der oben aufgezeigte Sinn und Zweck der Bestimmung, die der Entlastung der Landessozialgerichte sowie der
Verfahrensbeschleunigung dienen soll, gebietet es vielmehr, den Ausschluss der Beschwerde auch auf Beschlüsse über die Ablehnung von
Sachverständigen entsprechend anzuwenden (ebenso für das arbeitsgerichtliche Verfahren BAG, Beschluss vom 22. Juli 2008 a.a.O.).
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Einem anderen Ergebnis stünden auch rechtssystematische Erwägungen entgegen. So sind Beschlüsse über die Richterablehnung wegen der
bei den Instanzgerichten allein den Landessozialgerichten zugewiesenen Zuständigkeit (§ 60 Abs. 1 Satz 2 SGG) schon wegen § 177 SGG nicht
mit der Beschwerde anfechtbar; für die Ablehnung von Urkundsbeamten wurde über § 172 Abs. 2 SGG (in der Fassung des SGGArbGGÄndG)
eine dem entsprechende Regelung geschaffen. Angesichts dieses Umstandes, nämlich dass hinsichtlich von Entscheidungen über ein
Ablehnungsgesuch gegen einen Richter oder gegen weitere Gerichtspersonen ein Rechtsmittel nicht gegeben ist, ist es nicht einleuchtend, dass
demgegenüber in Bezug auf Beschlüsse gegen die Ablehnung von Sachverständigen, die wie die Urkundsbeamten Helfer des Richters als
endgültigem Entscheidungsträger sind, die Beschwerde eröffnet sein soll (so auch BAG, Beschluss vom 22. Juli 2008 a.a.O.). Zutreffend hat das
BAG im genannten Beschluss vom 22. Juli 2008 ferner darauf hingewiesen, dass eine unterschiedliche Behandlung der Ablehnung eines
Richters und eines Sachverständigen völlig außer Acht ließe, dass die ZPO die materiellen Anforderungen an die Ablehnung eines
Sachverständigen den Anforderungen an die Ablehnung eines Richters gleichstellt (vgl. § 406 Abs. 1 Satz 1 ZPO), sodass es keinen Sachgrund
gibt, das Verfahren unterschiedlich auszugestalten. Dementsprechend sind auch im zivilprozessualen Verfahren die Rechtsmittelmöglichkeiten
bezüglich der Entscheidung über die Ablehnung von Richtern und Sachverständigen gleichlautend geregelt (vgl. § 406 Abs. 5, § 46 Abs. 2 ZPO).
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Mit der vorgetragenen Auffassung weicht der Senat nicht von der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) ab. Zwar hat das BSG
entschieden, dass das Landessozialgericht in den Fällen, in denen das Sozialgericht über die Ablehnung eines Sachverständigen nicht durch
Beschluss, sondern in den Urteilsgründen entschieden hat und die Ablehnung im Berufungsverfahren weiterhin geltend gemacht wird, über den
Antrag vorab durch Beschluss zu befinden habe (vgl. BSG SozR 1750 § 406 Nr. 1; Keller in Meyer-Ladewig u.a., a.a.O., § 118 Rdnr. 12m); diese
Entscheidung ist indessen vor Inkrafttreten des SGGArbGGÄndG mit den oben aufgezeigten Rechtsänderungen ergangen. Ohnehin hat das SG,
wenngleich datumsgleich mit der - vom Kläger mit dem Rechtsmittel der Berufung angefochtenen - Endentscheidung (Urteil vom 23. Juni 2009)
durch gesonderten Beschluss vom 23. Juni 2009 über das Ablehnungsgesuch entschieden.
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Der analogen Anwendung des § 172 Abs. 2 SGG steht Verfassungsrecht nicht entgegen. Weder Art. 19 Abs. 4 Satz 1 des Grundgesetzes (GG)
noch Art. 20 Abs. 3 GG oder Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG fordern zwingend für jede gerichtliche Entscheidung einen Instanzenzug (vgl. BAG,
Beschluss vom 22. Juli 2008 a.a.O. ; ferner Bundesverfassungsgericht BVerfGE 65, 76, 90 f.; 92, 365, 410; BVerfG,
Nichtannahmebeschluss vom 28. September 2009 - 1 BvR 1943/09 - juris>). Dem Gesetzgeber ist es ferner von Verfassungs wegen nicht
verwehrt, ein nach der jeweiligen Verfahrensordnung statthaftes Rechtsmittel abzuschaffen oder den Zugang zu einem an sich eröffneten
Rechtsmittel von neuen einschränkenden Voraussetzungen abhängig zu machen (vgl. BVerfGE 87, 48, 61; BVerfG, Beschluss vom 28.
September 2009 a.a.O.).
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Die Beschwerde des Klägers ist nach allem bereits aus den oben aufgezeigten Gründen nicht statthaft. Deshalb kommt es nicht mehr darauf an,
ob der Zulässigkeit der Beschwerde auch entgegengehalten werden könnte, dass diese nur bis zur Entscheidung in der Sache statthaft wäre
(vgl. hierzu Keller in Meyer-Ladewig, a.a.O., § 118 Rdnr. 12o). Nicht weiter darauf einzugehen ist ferner darauf, ob die Nachholung einer
Ablehnungsentscheidung erst mit dem Endurteil Verfahrensrecht verletzt (vgl. hierzu BSG SozR 3-1500 § 170 Nr. 5; BSG SozR 3-1500 § 153 Nr.
13). Darüber hinaus erübrigen sich Ausführungen dazu, ob der Kläger sein Ablehnungsrecht verloren hatte, nachdem er auf die gerichtliche
Verfügung vom 4. Juli 2008, in der ihm über seine Prozessbevollmächtigten mitgeteilt worden war, dass die im Schriftsatz vom 25. April 2008
geäußerten Bedenken gegen die Unbefangenheit des Sachverständigen Dr. H. nicht geeignet seien, von der Unverwertbarkeit dieses
Gutachtens auszugehen, und er ferner unter Fristsetzung um Mitteilung gebeten worden war, welcher der im vorbezeichneten Schriftsatz
benannten Ärzte als Sachverständiger nach § 109 SGG beauftragt werden solle, in den Schriftsätzen vom 10., 21. und 30. Juli 2008 nunmehr die
Einholung des Gutachtens bei Prof. Dr. M. beantragt hatte, während er auf das Ablehnungsgesuch gegen Dr. H. erst in der mündlichen
Verhandlung vor dem SG vom 23. Juni 2009 zurückgekommen ist. Dessen ungeachtet erscheinen auch dem Senat im Anschluss an die
Ausführungen des SG im Beschluss vom 23. Juni 2009 die vorgebrachten Ablehnungsgründe ungeeignet, Misstrauen gegen die Unparteilichkeit
des Sachverständigen zu erwecken.
10 Eine Kostenentscheidung ist wegen § 19 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 des Rechtsanwaltsvergütungsgesetzes nicht veranlasst (vgl. BAG, Beschluss vom
22. Juli 2008 a.a.O.).
11 Dieser Beschluss ist nicht anfechtbar (§ 177 SGG).