Urteil des LG Köln vom 24.08.2007

LG Köln: corporate governance, satzung, vvag, gegenseitigkeit, treu und glauben, delegation von rechtsetzungsbefugnissen, aufsichtsrat, öffentliche gewalt, aktiengesellschaft, verfassung

Landgericht Köln, 82 O 212/06
Datum:
24.08.2007
Gericht:
Landgericht Köln
Spruchkörper:
2. Kammer für Handelssachen
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
82 O 212/06
Tenor:
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits trägt der Kläger.
Der Streithelfer trägt seine außergerichtlichen Kosten selbst.
Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des zu
vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.
TATBESTAND
1
Der Kläger ist langjähriges Mitglied der Gothaer Versicherungsbank,
VVAG
zum 30.6.2006 leitender Mitarbeiter der N AG, einer Konzerngesellschaft der Beklagten.
2
Am 23.06.2006 hielt die Beklagte eine Mitgliedervertreterversammlung ab, in der sie die
im Klageantrag benannten drei Mitglieder durch Kooptation in die
Mitgliedervertreterversammlung wählte. Die Wahl erfolgte nach Maßgabe der § 6 Abs. 2
und § 8 der Satzung.
3
§ 2 der Satzung der Beklagten lautet:
4
"Die Mitgliedervertretung besteht aus 50 bis 90
von ihr selbst auf sechs Jah re
gewählten
5
§ 8 der Satzung der Beklagten lautet:
6
"Die Mitglieder können bis zum letzten Werktag im Februar jeden Jahres bei dem Verein
Vorschläge für die Wahlen der Mitgliedervertretung und Anträge zur Beschlussfassung
durch die Mitgliedervertretung schriftlich anbringen und zur Begründung ein
Vereinsmitglied in die Mitgliedervertretung entsenden. Die Vorschläge oder Anträge
müssen von mindestens 100 Vereinsmitgliedern unterzeichnet sein."
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Die letzte Satzungsänderung der Beklagten erfolgte am 30.06.2001 und wurde nach
entsprechender Genehmigung durch die Bundesanstalt für
8
BaFin
Handelsregister eingetragen.
Derzeit besteht die Mitgliedervertreterversammlung der Beklagten aus 63 Mitgliedern.
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Der Kläger strebt an, Aufsichtsratsmitglied der Beklagten zu werden.
10
Der Kläger ist der Meinung, die Wahl der benannten drei Mitglieder in die
Mitgliedervertreterversammlung der Beklagten sei nichtig. Das
VAG
der Beklagten seien verfassungs- und gesetzeswidrig. Sie verstießen insbesondere
gegen die Artikel 9, 20 Grundgesetz.
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Art. 9 Grundgesetz garantiere die Vereinsfreiheit. Der Gesetzgeber und die Gerichte
seien dann aber auch gehalten, eine effektive und aktive Teilhabe an Vereinen zu
ermöglichen. Eine effektive und aktive Teilhabe sei bei der Beklagten nicht
gewährleistet.
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Die zitierten Satzungsbestimmungen verstießen zudem gegen das Demokratieprinzip
des Artikel 20 Grundgesetz. Die Mitgliedervertreterversammlung sei ein "closed shop"
bar jeder demokratischen Legitimation. 63 Mitglieder der Vertreterversammlung
dominierten mehrere 100.000 Mitglieder des VVaG. Die Unternehmensverfassung des
VVaG sei strukturell eine Verfassung für "family and friends". Das Prinzip von "check an
balances" sei beschädigt. Der Gesetzgeber habe es unterlassen, dem VVaG eine
moderne Unternehmensverfassung zu geben. Das Bundesverfassungsgericht habe
bereits im anderen Zusammenhang die Verfassungswidrigkeit und dieLückenhaftigkeit
des VAG festgestellt.
13
Die Unternehmensverfassung des VVaG sei ein "Dinosaurier deutscher
Unternehmensverfassungen". Sie widerspreche dem Corporate Governance Kodex,
wonach sich Vorstand, Aufsichtsrat und/oder Wahlausschuss nicht selbst vorschlagen
zur Entsendung in die oberste Vertretung der Gesellschaft.
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Das Kontrolldefizit bei der Beklagten werde weder durch die BaFin noch durch
Wirtschaftsprüfer kompensiert.
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Der Kläger beantragt,
16
1. festzustellen, dass der Beschluss der Mitgliedervertreterversammlung der Beklagten
vom 23.6.2006, durch den die Herren X, Dr. O und X2 in die
Mitgliedervertreterversammlung gewählt worden sind, nichtig ist.
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hilfsweise: den vorgenannten Beschluss der Mitgliedervertreterversammlung der
Beklagten vom 23.6.2006 für unwirksam zu erklären.
18
2. festzustellen, dass § 6 Absatz 2 und § 8 der Satzung der Beklagten nichtig sind.
19
Der Streithelfer schließt sich den Anträgen des Klägers an.
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Die Beklagte beantragt,
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1. die Klage abzuweisen;
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2. die Nebenintervention zurückzuweisen.
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Die Beklagte bestreitet die Anfechtungsbefugnis des Klägers und des
Nebenintervenienten. Klagebefugt zur Nichtigkeits- und/oder Anfechtungsklage seien
lediglich die Mitglieder des obersten Organs der Beklagten, also die Mitglieder der
Mitgliedervertretung. Hinsichtlich des Eventualantrages sei die Anfechtungsklage nicht
innerhalb der Monatsfrist von § 36 VAG, § 246 Abs. 1 AktG erhoben worden. Im übrigen
fehle die Anfechtungsbefugnis auch deshalb, weil der Kläger in grob eigennütziger
Rechtsausübung handele, da er Aufsichtsratsmitglied der Beklagten werden wolle und
daher lediglich finanzielle Interessen verfolge. Der Kläger füge der Beklagten durch sein
Vorgehen einen erheblichen wirtschaftlichen Schaden zu.
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Der Antrag auf Feststellung der Nichtigkeit der Satzung sei bereits ohne
Rechtsgrundlage. Im übrigen könne sich der Kläger nach §§ 36 VAG, 242 Abs. 2 Satz 1
AktG wegen Ablauf der dort genannten Drei-Jahres-Frist auch nicht mehr auf eine
Nichtigkeit der Satzungsbestimmungen berufen.
25
Grundrechte seien nicht verletzt. Artikel 9 Grundgesetz garantiere das Satzungsrecht
und die Organisationsautonomie der Vereine. Die Kooptation sei gerade Ausprägung
der Organisationsautonomie und sei damit durch die Vereinsfreiheit gedeckt.
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Adressat von Artikel 20 Grundgesetz in sei die öffentliche Gewalt, nicht Personen des
Privatrechts.
27
Der Corporate Governance Kodex gelte nur für börsennotierte Aktiengesellschaften,
nicht für den VVaG. Auch das Genossenschaftsrecht sei nicht entsprechend anwendbar.
Die Kooptation im VVaG sei aufgrund der durch § 17 Abs. 1 VAG gewährten
Satzungsautonomie zulässig. Für die Aktiengesellschaft und die Genossenschaft gelte
hingegen Satzungsstrenge. Zudem unterliege die Satzung des VVaG der behördlichen
Genehmigungspflicht durch die BaFin. Die BaFin habe mehrmals zum Ausdruck
gebracht, dass sie die Kooptation für unbedenklich halte.
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Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt
der wechselseitigen Schriftsätze der Parteien sowie auf die dazu eingereichten Anlagen
Bezug genommen.
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ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE
30
Die Klage und die Nebenintervention haben keinen Erfolg.
31
I.
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Die Klage und die Nebenintervention sind bezüglich der Anträge zu 1 (Haupt- und
Eventualantrag) bereits unzulässig.
33
Der Kläger und der Streithelfer sind nicht klagebefugt.
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Nach § 36 VAG gelten für die
Oberste Vertretung
Hauptversammlung der Aktiengesellschaft gegebenen Vorschriften der §§ 118, 119
35
Abs. 1 Nr. 1 bis 3, 5, 7 und 8 und Abs. 2, der §§ 120, 121 Abs. 1 bis 4, Abs. 5 Satz 1 und
Abs. 6, der §§ 122, 123 Abs. 1, der §§ 124 bis 127, 129 Abs. 1 und 4, der § 130 Abs. 1
Satz 1 und 2, Abs. 2 bis 5, §§ 131 bis 133, 134 Abs. 4 sowie der §§ 136, 142 bis 149,
241 bis 253
Nach § 5 der Satzung der Beklagten sind deren Organe die Mitgliedervertretung, der
Aufsichtsrat und der Vorstand. Die Mitgliedervertretung ist nach § 6.1 der Satzung der
Beklagten das
oberste Organ
Vereinsmitglieder. Die Mitgliedervertreterversammlung entscheidet darüber, wer in
dieses Gremium aufgenommen wird (Kooptation).
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Bei dieser Sachlage sind nur die Mitglieder der Mitgliedervertretung der Beklagten
entsprechend §§ 241 ff. AktG klagebefugt, das heißt nur sie können Beschlüsse der
Beklagten wegen Nichtigkeit oder Anfechtbarkeit gerichtlich angreifen. Der Kläger ist
zwar Mitglied der Beklagten, aber nicht Mitglied der Mitgliedervertretung.
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Auch gesetzliche Minderheitenrechte gewähren vorliegend keine Klagebefugnis. Nach
§ 36b VAG hat die Satzung die erforderliche Minderheit der Mitglieder der obersten
Vertretung zu bestimmen, die die nach den Vorschriften des Aktiengesetzes einer
Minderheit von Aktionären gewährten Rechte verfolgen können (§ 93 Abs. 4 Satz 3,
§ 117 Abs. 4, § 120 Abs. 1, §§ 122, 142 Abs. 2 und 4, §§ 147, 258 Abs. 2 Satz 3, § 260
Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 Satz 4 des Aktiengesetzes). Die Befugnis zur Erhebung einer
Anfechtungs- bzw. Nichtigkeitsklage gehört jedoch nicht zu den vorgenannten
gesetzlichen Minderheitsrechten des Aktiengesetzes, abgesehen davon, dass ohnehin
nur Mitglieder der Mitgliedervertretung dieser Rechte ausüben könnten.
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II. Der Antrag zu 2 auf Feststellung der Nichtigkeit von § 6.2 und § 8 der Satzung der
Beklagten ist unbegründet.
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1. Der Kläger wendet sich mit der Klage im wesentlichen gegen das so genannte
Kooptationsprinzip nach § 6 und § 8 der Satzung der Beklagten. Rudimentäre Kontroll-
und Handlungsrechte müssten in Ausprägung der repräsentativen Demokratie allen
Mitgliedern verbleiben. Er fordert eine basisdemokratische Struktur der Beklagten.
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Kooptation
Aufnahme oder Wahl von Mitgliedern durch die übrigen Mitglieder einer Gemeinschaft.
Sie ist in politischen, kirchlichen und gesellschaftlichen Verbänden und stark in
Unternehmen in Gebrauch. Sie bezeichnet die Möglichkeit von Einrichtungen, Gremien
oder Organen, selbst Nachfolger für ausgeschiedene Mitglieder oder zusätzliche
Mitglieder zu wählen. Sie kann zum Beispiel sinnvoll sein, wenn es darum geht,
Personen mit besonderer Sachkenntnis oder Vertreter befreundeter Organisationen zu
integrieren. Die Kooptation ist vor allem bei großen VVaG verbreitet.
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2. Die angegriffenen Satzungsbestimmungen unterliegen der Inhaltskontrolle.
42
Die nach Art 9 Abs. 1 Grundgesetz verfassungsrechtlich geschützte Vereinsautonomie
(Verbandsautonomie) ist das Recht des Vereins, sich in freier Selbstbestimmung eine
eigene innere Ordnung zu geben. Die Gründer des Vereins und die beigetretenen
Mitglieder können die Vereinsangelegenheiten eigenverantwortlich regeln; der Verein
kann durch seine Organe seine Organisation und Rechtsverhältnisse frei gestalten. Die
Vereinsautonomie hat aber Schranken zu beachten, die sich aus den zwingenden
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vereinsrechtlichen Vorschriften, den öffentlich-rechtlichen Vorschriften des
Vereinsgesetzes und aus §§ 134, 138 BGB ergeben. Die Schranken der
Vereinsautonomie sind insbesondere im Hinblick auf die Ausgestaltung der
Organisation, der Inhaltskontrolle der Satzung und der Vereinsordnungen sowie im
Hinblick auf eine Aufnahmepflicht zu bestimmen. Die Vereinsregelungen (Satzung,
Nebenordnungen, Geschäftsordnungen und Maßnahmen eines Vereinsorgans)
unterliegen einer gerichtlichen Inhaltskontrolle nach §§ 242, 315 BGB. Maßstab sind
vornehmlich der Minderheitenschutz und der individuelle Mitgliederschutz, weil es
einem einzelnen Mitglied kaum gelingt, die Änderung von unbilligem oder willkürlichem
Satzungsrecht herbeizuführen (Schwarz/Schöpflin in: Beck'scher Online-Kommentar,
Hrsg: Bamberger/Roth, Stand: 01.02.2007, Edition: 6, § 25 BGB Rn. 28 mit weiteren
Nachweisen zur Rechtsprechung).
Die Rechtsprechung prüft die vereinsrechtlichen Regelwerke auf ihre inhaltliche
Angemessenheit unter dem Gesichtspunkt von Treu und Glauben nach §§ 242, 315
BGB im Hinblick auf die Beziehungen zu den Mitgliedern (Schwarz/Schöpflin in:
Beck'scher Online-Kommentar, Hrsg: Bamberger/Roth, Stand: 01.02.2007, Edition: 6, §
25 BGB Rn. 29). Vereinsrechtliche Regelungen, die gegen § 242 BGB verstoßen, sind
unwirksam. Es wird auf die Angemessenheit der Regelung abgestellt und geprüft, ob die
Regelung den Interessenkonflikt zwischen Verband und Mitglied einseitig zugunsten
des Verbandes entschieden hat (Schwarz/Schöpflin in: Beck'scher Online-Kommentar,
Hrsg: Bamberger/Roth, Stand: 01.02.2007, Edition: 6, § 25 BGB Rn. 29). Bei der
umfassenden Interessenabwägung ist auch zu berücksichtigen, ob ein Mitglied jederzeit
aus dem Verein austreten kann, ohne dass seine Interessen erheblich beeinträchtigt
werden, oder ob es auf die Mitgliedschaft, insbesondere zur Ausübung seines Berufes,
wesentlich angewiesen ist. Kann ein Mitglied ohne weiteres aus dem Verein austreten,
ist eine Inhaltskontrolle im Regelfall nicht geboten (Schwarz/Schöpflin in: Beck'scher
Online-Kommentar, Hrsg: Bamberger/Roth, Stand: 01.02.2007, Edition: 6, § 25 BGB Rn.
29 mit weiteren Nachweisen).
44
3. In der Literatur wird die typische Verbandsstruktur des VVaG kritisiert. Die in den
großen deutschen VVaG aufgetretenen Probleme bei der Unternehmenskontrolle seien
in keiner anderen Unternehmensform anzutreffen. Während sich die
Unternehmensverwaltungen von Aktiengesellschaften den verschiedensten
Kontrollsystemen ausgesetzt sähen, fehlten diese bei den großen
Versicherungsvereinen auf Gegenseitigkeit weitgehend. Vielen Vereinsmitgliedern sei
nicht bewusst, dass sie auch Vereinsmitglieder und nicht nur bloße
Versicherungsnehmer seien. Eine aktive Teilnahme von Mitgliedern an den
Vereinsversammlungen sei nur bei Versicherungsvereinen auf Gegenseitigkeit mit bis
etwa 100 Mitgliedern zu beobachten. Derartige Versicherungsvereine auf
Gegenseitigkeit seien häufig Versicherer für Angehörige einer bestimmten
Berufsgruppe, wie etwa der Versicherungsverband Deutscher Eisenbahnen oder der
Kieler Rückversicherungsverein. Bei derartigen Spezialversicherungen finde sich eine
Anwesenheit der Mitglieder auf den Vereinsversammlungen noch zwischen 3 und 32%.
Ebenso wie bei großen Publikumsaktiengesellschaften bestehe bei großen
Versicherungsvereinen auf Gegenseitigkeit aus Gründen der "rationalen Apathie" der
Mitglieder wenig Nachfrage nach einer Mitwirkung am Vereinsgeschehen. So hätten bei
einem großen Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit mit 40000 Versicherten nur
0,02% (d.h. 80) ihre Mitwirkungsmöglichkeiten wahrgenommen. Die
Mitgliederversammlung sei in praktisch allen größeren Versicherungsvereinen auf
Gegenseitigkeit abgeschafft und durch eine Mitgliedervertreterversammlung ersetzt
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worden. Die übliche Größe der Mitgliedervertreterversammlung liege zwischen 5 und 60
Personen. Für die Mitgliedschaft in der Vertreterversammlung sei keine besondere
Qualifikation erforderlich. Amtszeiten bis zu neun Jahren seien möglich. Die teilweise
geheim gehaltene Wahlordnung werde üblicherweise vom Vorstand und Aufsichtsrat
erlassen. Hierdurch beeinflussten Vorstand und Aufsichtsrat die Zusammensetzung
ihres Kontrollorgans. Das am weitesten verbreitete Wahlverfahren für die Wahl zum
obersten Vereinsorgan sei das Kooptationsverfahren. Hierbei ergänze sich die einmal
eingerichtete Mitgliedervertretung nach eigenem Gutdünken selbst. Teilweise sei das
Wahlverfahren so geregelt, dass sich die Mitglieder der obersten Vertretung ihre neuen
Mitglieder auf Grund von Vorschlägen der zu kontrollierenden Organe aussuchen.
Satzungen und Wahlordnungen räumten das Vorschlagsrecht für die Kandidaten
typischerweise dem Vorstand, Aufsichtsrat, einer bestimmten Anzahl von Mitgliedern
oder einem gemeinsamen Gremium von Vorstand, Aufsichtsrat und Mitgliedern ein.
Unmenschlich groß sei damit die Versuchung, dass der "Vorstand sich die ihm
genehmen Mitgliedervertreter aussucht, die dann den ihm genehmen Aufsichtsrat
wählen, so dass der Vorstand eine Machtfülle erhalte, wie sie weder der Vorstand einer
Aktiengesellschaft noch der eines öffentlich-rechtlichen Versicherers besitze. Die Gefahr
der Bildung von Seilschaften und beherrschenden Cliquen sei unübersehbar. Während
bei Aktiengesellschaften die Unternehmensverwaltungen über das Depotstimmrecht
und die Eigenbeteiligung der Banken, unabhängige Investmentfonds,
Schutzvereinigungen und letztlich über das Verkaufsgeschehen an der Börse mit der
Drohung einer feindlichen Übernahme überwacht würden, fielen diese
Kontrollmechanismen bei Versicherungsvereinen auf Gegenseitigkeit völlig aus. So
gebe es bei Versicherungsvereinen auf Gegenseitigkeit insbesondere keine Kontrolle
über den Kapitalmarkt, da Vereinsanteile nicht handelbar seien. Bei einigen
Versicherungsformen, wie etwa der Kranken- und Kapitallebensversicherung falle auf
Grund der hohen wirtschaftlichen Verluste bei einem Wechsel zu einem anderen
Anbieter selbst die Kontrolle des Produktmarkts weitgehend aus. Es bleibe daher
festzuhalten, dass große Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit nicht mehr einen
von den Mitgliedern getragenen Verband darstellen. Große Versicherungsvereine auf
Gegenseitigkeit seien in der Hand des Unternehmensvorstands, wie dies bei keiner
anderen Unternehmensform anzutreffen sei. Der große Versicherungsverein auf
Gegenseitigkeit sei die unkontrollierteste wirtschaftliche Rechtsform der Bundesrepublik
(B./Maßmann, Vereinsreform in Deutschland, ZRP 2002, 128, 131 f.).
c. In der Rechtsprechung ist bislang – soweit ersichtlich – noch nicht über die
Zulässigkeit des Kooptationsverfahrens im VVaG entschieden worden. Das
Oberlandesgericht Celle, auf dessen Entscheidung sich der Kläger u.a. stützt, hatte
allerdings eine Satzung beanstandet, die einem Beirat des Vereins alle wesentlichen
Entscheidungsbefugnisse innerhalb des Vereins zusprach, ohne die Mitglieder
angemessen zu beteiligen. Zur Begründung hat das Gericht ausgeführt, die Grenzen der
Gestaltungsfreiheit seien jedenfalls dann überschritten, wenn die Geschicke des
Vereins in jeder Hinsicht praktisch ausschließlich von bestimmten Mitgliedern gestaltet
werden, auf deren Bestellung und Kontrolle die übrigen Mitglieder keinen Einfluss
haben und jedwede nennenswerte Mitwirkung bei der Willensbildung des Vereins über
die Mitgliederversammlung von vornherein ausgeschlossen ist. Zu den durch das
Regelungsgefüge der §§ 25, 32, 33, 35 BGB geprägten Grundsätzen des Vereinsrechts
gehörten die Gleichbehandlung der Mitglieder und das Verbot der Willkür und insb.
auch eine Kompetenzverteilung innerhalb der Vereinsorgane, auf deren Grundlage der
Verein jedenfalls vornehmlich von der Willensbildung seiner Mitglieder getragen wird.
Dabei stehe, weil nach § 40 BGB auch die Vorschriften der §§ 32, 33, 38 BGB dispositiv
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sind, dem Verein durchaus ein weiter Spielraum bei der Ausgestaltung zu. Dass der
Gesetzgeber in § 40 BGB das Vereinsrecht weitgehend dispositiv gestaltet habe,
beruhe letztlich auf dem Gedanken, dass ohnehin das Handeln privatrechtlicher Vereine
einer gewissen "Marktkontrolle" dadurch unterliegt, dass freiwillige Mitgliedschaft (§ 39
BGB) garantiert ist, so dass niemand gezwungen ist, einem Verein anzugehören,
dessen Verfassung ihm nicht zusagt. Eine "demokratische Willensbildung" der
Mitglieder müsse der Verein nicht ermöglichen. Unterschiedliche Regelungen der
Mitgliedschaftsrechte, die durch sachliche Erwägungen gerechtfertigt sind, seien nicht
ausgeschlossen, und es sei auch nicht zu beanstanden, dass nach der gesetzlichen
Regelung an sich der Mitgliederversammlung zugewiesene Kompetenzen nach der
Satzung anderen Vereinsorganen zugeordnet werden. Die Grenzen der
Gestaltungsfreiheit seien aber überschritten, wenn die Geschicke des Vereins in jeder
Hinsicht praktisch ausschließlich von bestimmten Mitgliedern gestaltet werden, auf
deren Bestellung und Kontrolle die übrigen Mitglieder keinen Einfluss haben und wenn
auch sonst irgendeine nennenswerte Mitwirkung bei der Willensbildung des Vereins
über die Mitgliederversammlung (ggf. bei Großvereinen auch eine
Delegiertenversammlung) von vornherein ausgeschlossen ist. Etwas anderes könne für
sogenannte Monopolvereine gelten (OLG Celle, Beschluss vom 18-10-1994 - 20 W
20/94, NJW-RR 1995, 1273).
4. Vor diesem Hintergrund ist die Satzung der Beklagten nicht zu beanstanden. Sie
verstößt nicht gegen geltendes Recht, auch wenn vielleicht eine Reform des VAG zur
Verbesserung der Unternehmenskontrolle angezeigt wäre. Das ist aber primär eine
politische Frage. Diese Problematik ist bereits diskutiert worden, zuletzt im Rahmen der
Corporate Governance-Diskussion im Jahre 2000 (vgl. die vom dem Kläger vorgelegte
Stellungnahme von Prof. B. vom 21.9.2000 an den Vorsitzenden der
Regierungskommission "Corporate Governance – Unternehmensführung –
Unternehmenskontrolle). Der Gesetzgeber hat in Kenntnis der Problematik davon
abgesehen, die Unternehmensverfassung des VVaG anzupassen, etwa nach dem
Vorbild der Aktiengesellschaft oder der Genossenschaft. Dann ist es nicht Aufgabe des
Gerichts, durch gestaltende Interpretation von § 242 BGB den Mitgliedern des VVaG zur
mehr Unternehmenskontrolle zu verhelfen, als sie derzeit haben und die jedenfalls
rechtlichen Maßstäben genügt. Im Einzelnen:
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a. § 6 und § 8 der Satzung der Beklagten stehen mit dem VAG in Einklang. Das wird
auch vom Kläger nicht in Abrede gestellt. Nach § 17 VAG wird die Verfassung eines
VVaG durch die Satzung bestimmt, soweit sie nicht durch das Gesetz vorgegeben wird.
Danach besteht ähnlich wie in der GmbH Satzungsautonomie im Gegensatz zur
Aktiengesellschaft, für die Satzungsstrenge gilt. Nach § 29 VAG hat die Satzung zu
bestimmen, wie der Vorstand, der Aufsichtsrat und die oberste Vertretung (oberstes
Organ; Versammlung von Mitgliedern oder von Vertretern der Mitglieder) zu bilden sind.
Diese gesetzlichen Bestimmungen räumen dem VVaG erhebliche Gestaltungsfreiheit
bei der inneren Verbandsordnung ein.
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Es entspricht auch dem erklärten Willen des Gesetzgebers, bei dem VVaG die
Kooptation im Rahmen der Satzungsautonomie beizubehalten. Die BaFin hat in ihren
Schreiben vom 27.11.2006 zu Recht ausgeführt, dass § 29 VAG inhaltlich § 29 E-VAG
vom 14. November 1900 entspricht. In der Begründung hat sich der Gesetzgeber mit den
unterschiedlichen Formen, wie dieses oberste Organ bei bereits bestehenden
Versicherungsvereinen auf Gegenseitigkeit gebildet wird, auseinandergesetzt. Eine der
bereits damals gebräuchlichen Formen war die Kooptation. Der Gesetzgeber hat sich
49
seinerzeit dafür ausgesprochen, die gesamte Vielzahl der in der Praxis bewährten
Verfahren beizubehalten (vgl. Stenographische Berichte über die Verhandlungen des
Reichstags, X. Legislaturperiode, II. Session 1900/1901, Erster Anlagenband Nr. 5,
Spalte 71; zitiert aus: Motive zum Versicherungsaufsichtsgesetz, Nachdruck 1963,
herausgegeben vom Bundesaufsichtsamt für das Versicherungs- und Bausparwesen).
Nicht geregelt wurde, wie dieses oberste Organ zu bilden ist. Diese Frage wurde der
Satzungsautonomie der Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit überlassen.
Wie sich aus dem Schreiben der BaFin vom 27.11.2006 ergibt, haben sich auch das
Bundesaufsichtsamt für das Versicherungswesen und der bei der BaFin gebildete
Versicherungsbeirat wiederholt mit der Frage befasst, ob das Kooptationsverfahren
noch zeitgemäß ist. Einhelliger Auffassung der anwesenden Beiratsmitglieder sei
gewesen, dass sich das Kooptationsverfahren in der Praxis bewährt habe und von den
geltenden Gesetzen gedeckt sei. Die Satzungsautonomie ermögliche es den
Versicherungsunternehmen, frei zu entscheiden, wie das oberste Organ gewählt werde.
Dementsprechend sei das Kooptationsverfahren, das in einer Vielzahl von Satzungen
von Versicherungsvereinen auf Gegenseitigkeit verankert sei, in der Vergangenheit von
der BaFin genehmigt worden, § 5 Abs. 3 Nr. 1 VAG.
50
b. Die angegriffenen Satzungsbestimmungen stehen auch mit den übrigen Vorschriften
einfachen Rechts, vor allem mit 25 ff., §§ 134, 138, 242, 826 BGB in Einklang.
51
Richtig ist, dass die Mitgliedervertretung der Beklagten eine starke Stellung im
Verbandsgefüge einnimmt. Sie ist nach § 6.1 der Satzung das oberstes Organ des
Vereins und vertritt die Gesamtheit der Vereinsmitglieder. Nach § 6.2 der Satzung
werden die Mitglieder der Mitgliedervertretung von ihr selbst auf sechs Jahre gewählt
aus dem Kreis der Vereinsmitglieder; alle zwei Jahre werden 1/3 der Mitgliedervertreter
neu gewählt. Nicht wählbar sind nach § 6.3 der Satzung der Beklagten ihre Vorstände
und Aufsichtsräte. Die Mitgliedervertretung ist nach § 6.4 der Satzung in ihrer Wahl frei.
Ihr können jedoch Wahlvorschläge durch den Wahlausschuss unterbreitet werden. Der
Wahlausschuss wird nach § 7 der Satzung der Beklagten von der
Mitgliedervertreterversammlung gewählt. Auch Mitglieder können Wahlvorschläge
unterbreiten, die von mindestens 100 Vereinsmitgliedern unterzeichnet sind. Auch dann
haben sie jedoch keinen Anspruch auf die Wahl in die Mitgliedervertretung. Nach § 9.6
beschließt die Mitgliedervertretung in den durch das Gesetz bestimmten Fällen sowie
beim Abschluss von Unternehmensverträgen, der wesentlichen Änderung des
Gesellschaftszweckes sowie strukturellen Maßnahmen von wesentlicher Bedeutung.
Nach § 9.7 der Satzung beschließt die Mitgliedervertretung mit einer Mehrheit von ¾ der
abgegebenen Stimmen über Satzungsänderungen, Veräußerungen von Anteilen an der
G AG und ähnlichem. Daneben nehmen Vorstand und Aufsichtsrat der Beklagten die
verbleibenden Aufgaben wahr.
52
Die Mitglieder der Beklagten haben nach ihrer Satzung keine entscheidenden Rechte.
Sie können lediglich Vorschläge zur Mitgliedervertreterversammlung machen. Nach §
4.1 der Satzung wird zudem ein Beauftragter für die Anliegen der Mitglieder bestellt. Der
Beauftragte hat die Aufgabe, in Streitfällen die Belange der Mitglieder gegenüber der
Verwaltung zu vertreten.
53
Diese Satzungsstruktur verlagert nicht willkürlich wesentliche Entscheidungsbefugnisse
im VVaG auf die Mitgliedervertretung wieder. Vielmehr gibt es sachliche Gründe, die die
vom Kläger angegriffene Verbandstruktur der Beklagten einschließlich des
54
Kooptionsverfahrens tragen.
Die Repräsentation der Mitglieder durch die Mitgliedervertretung ist bei großen
Versicherungsvereinen auf Gegenseitigkeit rechtlich unbedenklich, jedenfalls dann,
wenn die Mitgliedervertretung von den Mitgliedern gewählt wird. Aber auch wenn die
Mitgliedervertretung neue Mitglieder kooptiert, bestehen keine durchgreifenden
Bedenken. Der BaFin ist zustimmen, dass sich die Kooptation gerade bei größeren
Versicherungsvereinen auf Gegenseitigkeit bewährt hat. Sie ermöglicht die
kostengünstige Wahl einer Mitgliedervertretung und stellt sicher, dass in dieser der
erforderliche Sachverstand angemessen vertreten ist. Das Kooptationsverfahren
verhindert zufällige Wahlergebnisse. Auch von den Kritikern des Kooptationsverfahrens
wird eingeräumt, dass die Beteiligung an Mitgliederversammlungen aufgrund der
"rationalen Apathie" weit unter 1% liegt. Bei dieser geringen Beteiligung sind bei der
Wahl der Mitgliedervertretung Zufallergebnisse zu befürchten. Abgesehen davon ist die
"demokratische" Legitimation der von einer solchen Minderheit gewählten
Mitgliedervertretung mindestens so fraglich wie bei der Kooptation in der
Mitgliedervertretung. Im übrigen stünde auch bei großen Versicherungsvereinen auf
Gegenseitigkeit der Aufwand zur Einberufung einer Mitgliederversammlung zwecks
Wahl der Mitgliedervertretung in keinem Verhältnis zu den Teilnahmequoten von unter
1%. Bei dieser Sachlage erscheint die Kooptation innerhalb der Mitgliedervertretung bei
gleichzeitiger Schwächung der Rechte der Mitglieder nicht willkürlich.
55
Die Grenzen der weiten Gestaltungsfreiheit des VVaG werden mit dem
Kooptationsverfahren nicht überschritten. Denn die Geschicke des Vereins werden nicht
ausschließlich von bestimmten Mitgliedern gestaltet, auf deren Bestellung und Kontrolle
die übrigen Mitglieder keinen Einfluss haben. Letztlich wird die Beklagte von der
Willensbildung ihrer Mitglieder getragen. Ihre Mitgliedervertretung repräsentiert die
Mitglieder, auch den Kläger, und vertritt deren Interessen. Zwischen den Kompetenzen
der Mitgliedervertretung und den übrigen Organen der Beklagten besteht ein
ausgewogenes Verhältnis. Jedes Mitglied der Beklagten die Möglichkeit, auch die
Zusammensetzung der Mitgliedervertretung einzuwirken, indem es im Verbund mit
anderen Mitgliedern Vorschläge zur Wahl von Mitgliedervertretern unterbreitet. Eine
"demokratische Willensbildung" der Mitglieder muss der VVaG, wie der Kläger meint,
jedenfalls nicht ermöglichen.
56
Von erheblicher Bedeutung ist ferner, dass das Handeln privatrechtlicher Vereine, auch
der Beklagten, einer gewissen "Marktkontrolle" dadurch unterliegt, dass freiwillige
Mitgliedschaft (§ 39 BGB) garantiert ist, so dass niemand gezwungen ist, einem Verein
anzugehören, dessen Verfassung ihm nicht zusagt. Dass diese Austrittsmöglichkeit für
die Beklagte ohne Bedeutung ist, hat der Kläger nicht dargelegt. Beispielsweise könnte
eine Kündigung der Lebens- und Krankenversicherungsverträgen zu wirtschaftlichen
Nachteilen führen. Der Kläger hat diese Problematik nach Schluss der mündlichen
Verhandlung jedoch nur angedeutet. Er hat nicht einmal konkret behauptet, dass er bei
einem Austritt finanzielle Nachteile erleiden würden würde. Er hat ferner nicht die
Versicherungsstruktur der Beklagten dargelegt, so dass die Kammer auch nicht davon
ausgehen kann, dass die Beklagte überwiegend die vorgenannten
Versicherungsverträge anbietet. Im Gegenteil ergibt sich aus der Satzung der Beklagten,
dass der Gegenstand des Vereins der direkte und indirekte Betrieb aller
Versicherungszweige mit Ausnahme der Lebens- und Krankenversicherung ist.
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Die Unzulässigkeit der Kooptation folgt auch nicht aus aktienrechtlichen oder
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genossenschaftsrechtlichen Regelungen, insbesondere § 43 a Abs. 4 Satz 1
Genossenschaftsgesetz. Dabei ist nicht einmal entscheidend, dass sich der VVaG, die
Aktiengesellschaft und die Genossenschaft in vielfältiger Weise unterscheiden,
insbesondere hinsichtlich der Satzungsstrenge. Entscheidend ist vielmehr, dass es
Aufgabe des Gesetzgebers ist - vorbehaltlich verfassungsrechtlicher Zwänge -, die
Rechte der Mitglieder des VVaG, etwa entsprechend § 43 a Genossenschaftsgesetz, zu
konkretisieren.
Die hier zu beurteilende Problematik deckt sich auch nicht mit der Fallgestaltung, die
dem Urteil des Oberlandesgerichts Celle zugrunde lag. Dort wurden alle wesentlichen
Kompetenzen innerhalb des Vereins auf ein weiteres Vereinsorgan, nämlich ein
siebenköpfiger Beirat, der weitere Mitglieder kooptieren konnte, unter Ausschluss der
übrigen Mitglieder übertragen. Bei der Beklagten liegen die wesentlichen Kompetenzen
innerhalb des Vereins jedoch bei der Mitgliedervertretung, die auch den Kläger vertritt.
Darüber hinaus sprechen sachliche Gründe für die kooptierende Mitgliedervertretung
der Beklagten, die im vorbezeichneten Fall des OLG Celle offensichtlich fehlten.
59
5. Darüber hinaus verstoßen weder die Satzung noch die Vorschriften des VAG gegen
die Verfassung, hier Artikel 2, 9, 14, 20 Grundgesetz. Die vom Kläger angeführte
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bestätigt die behaupteten
Verfassungsverstöße nicht.
60
a. Das Bundesverfassungsgericht hat im Jahre 2005 festgestellt, dass der Gesetzgeber
durch Artikel 2 Abs. 1 und Artikel 14 Abs. 1 Grundgesetz verpflichtet ist, den nach dem
VAG vorgesehenen Verlust der Möglichkeit, die vertragsmäßigen Rechte eigenständig
und individuell durchzusetzen, auszugleichen, soweit es für die Übertragung des
Bestands von Lebensversicherungsverträgen auf ein anderes Unternehmen keiner
Genehmigung durch den Versicherungsnehmer bedarf (Ausschluss des § 415 BGB
durch § 14 I 4 VAG). Ferner seien dabei die Belange der Versicherten von der
Aufsichtsbehörde umfassend festzustellen und ungeschmälert in die Entscheidung über
die Genehmigung und die dabei vorzunehmende Abwägung einzubringen. Der
verfassungsrechtliche Schutz der Privatautonomie durch Art. 2 I Grundgesetz führe im
Falle einer faktischen beziehungsweise gesetzlich bedingten Störung der
Verhandlungspositionen der Vertragspartner zu einer Pflicht des Gesetzgebers, für eine
rechtliche Ausgestaltung des Rechtsverhältnisses der davon betroffenen
Vertragsparteien zu sorgen, die ihren Belangen hinreichend Rechnung trägt. Ferner
habe der Gesetzgeber bei der Übertragung von durch Artikel 14 Grundgesetz
geschützten Vermögenspositionen entsprechende Vorkehrungen zu treffen (BVerfG,
Urteil vom 26. 7. 2005 - 1 BvR 782/94 u. 1 BvR 957/96, NJW 2005, 2363).
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Die Thematik der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts steht mit der hier
relevanten Problematik nicht in Zusammenhang. Dort ging es um spezifische
Vermögensinteressen, das heißt die Übertragung des Versicherungsbestandes auf
einen neuen Versicherer ohne Zustimmung des Versicherungsnehmers entsprechend §
415 BGB. Konkrete vermögensrechtliche Rechtspositionen des Klägers sind vorliegend
auch nach seinem Vortrag nicht betroffen. Soweit der Kläger darauf hinweist, dass er als
Mitglied der Beklagten an deren Unternehmenswert beteiligt ist, wird dieser durch die
angegriffene Kooptation jedenfalls nicht infrage gestellt.
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b. Im Jahre 2004 hat das Bundesverfassungsgericht verfassungsrechtliche
Anforderungen an gesetzliche Regelungen über die Delegation von
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Rechtsetzungsbefugnissen an Notarkassen formuliert. Danach ist § 39 der Verordnung
über die Tätigkeit von Notaren in eigener Praxis in der Fassung des Rechtspflege-
Anpassungsgesetzes, § 113 Abschn. I BNotO, mit Art. 12 Grundgesetz unvereinbar
(BVerfG, Beschluss vom 13.7.2004 - 1 BvR 1298/94 u.a., NJW 2005, 2005 ff.). Die
Prinzipien der Selbstverwaltung und der Autonomie seien im demokratischen Prinzip
verankert und entsprächen dem freiheitlichen Charakter der Verfassung; sie
ermöglichten gesellschaftlichen Gruppen, in eigener Verantwortung die Ordnung der sie
berührenden Angelegenheiten mitzugestalten. Die Einrichtung funktionaler
Selbstverwaltung als Ausprägung des Demokratieprinzips des Art. 20 II Grundgesetz mit
dem Ziel der Verwirklichung der freien Selbstbestimmung dürfe nicht dazu führen, dass
der Gesetzgeber sich seiner Regelungsverantwortung entäußert. Überlasse er
öffentlich-rechtlichen Körperschaften und Anstalten als Trägern funktionaler
Selbstverwaltung bestimmte Aufgaben zur Regelung, dürfe er ihnen die
Rechtsetzungsbefugnis nicht zur völlig freien Verfügung überlassen. Das gelte
insbesondere bei Regelungen, die mit Grundrechtseingriffen verbunden seien. Die
Bildung der Organe, ihre Aufgaben und Handlungsbefugnisse müssten in ihren
Grundstrukturen in einem parlamentarischen Gesetz ausreichend bestimmt sein; das
Gesetz müsse außerdem mittels Vorgaben für das Verfahren der autonomen
Entscheidungsfindung eine angemessene Partizipation der Berufsangehörigen an der
Willensbildung gewährleisten. Die Organe müssten nach demokratischen Grundsätzen
gebildet werden; es seien institutionelle Vorkehrungen vorzusehen, damit die
Beschlüsse so gefasst werden, dass nicht einzelne Interessen bevorzugt werden. Das
weitgehende Ermessen des Gesetzgebers hinsichtlich der Bildung von
Organisationseinheiten und der Auswahl der zu übertragenden Aufgaben finde seine
Grenze darin, dass die von ihm zu setzenden Regelungen über Strukturen und
Entscheidungsprozesse, in denen diese Aufgaben bewältigt werden sollen, dem
Demokratie- und dem Rechtsstaatsprinzip entsprechen müssen. Der Gesetzgeber habe
sicherzustellen, dass sich die verbindlich und autonom gesetzten Regelungen mit
Eingriffscharakter als Ergebnis eines demokratischen Willensbildungsprozesses im
Innern darstellen (BVerfG, Beschluss vom 13.7.2004 - 1 BvR 1298/94 u.a., NJW 2005,
2005 ff.).
Diese vom Bundesverfassungsgericht formulierten Anforderungen an den Mindestinhalt
der gesetzlicher Vorschriften zur Verbandstruktur von öffentlich-rechtlichen
Selbstverwaltungsträgern ist auf den VVaG nicht übertragbar. Vorliegend geht es nicht
darum, dass öffentlich-rechtliche Aufgaben von Selbstverwaltungsträgern
wahrgenommen werden, wie etwa bei einer Notarkasse. Es geht um einen
privatwirtschaftlich organisierten Verein, der eigene Interessen beziehungsweise
Interessen seiner Mitglieder wahrnimmt. Das Demokratieprinzip zwingt nicht, in dieses
Rechtsverhältnis gestaltend einzugreifen. Die Mitglieder unterstehen nicht einer
Zwangsmitgliedschaft, wie etwa bei der Notarkammer oder bei anderen
Selbstverwaltungsorganisationen. Sie haben jederzeit die Möglichkeit, ihre Interessen
anderweitig wahrzunehmen.
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6. Die prozessualen Entscheidungen beruhen auf 91 Abs. 1, 101, 709 Satz 1 ZPO.
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7. Streitwert: 50.000,- €
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