Urteil des LG Bielefeld vom 23.12.2008

LG Bielefeld: umkehr der beweislast, therapie, lege artis, ausschluss der haftung, behandlungsfehler, fehlbehandlung, schmerzensgeld, diagnose, krankheit, anfang

Landgericht Bielefeld, 4 O 413/06
Datum:
23.12.2008
Gericht:
Landgericht Bielefeld
Spruchkörper:
4. Zivilkammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
4 O 413/06
Tenor:
Der Beklagte zu 1) wird verurteilt, an den Kläger für den von ihm
erlittenen Gesundheitsschaden anlässlich der Fehlbehandlung in der
Zeit von 1997 bis 1999 ein Schmerzensgeld in Höhe von 150.000,00 €
nebst 5 % Zinsen über dem Basiszinssatz ab dem 30.04.2007 zu zahlen.
Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger
25.762,64 € zuzüglich 5 % Zinsen über dem Basiszinssatz ab dem
30.04.2007 zu zahlen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Es wird festgestellt, dass die Beklagten zu 1) und zu 2) verpflichtet sind,
dem Kläger sämtliche künftigen materiellen Schäden anlässlich der
Fehlbehandlung in der Zeit von 1997 bis 1999 zu ersetzen, soweit diese
nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergehen.
Darüber hinaus wird festgestellt, dass der Beklagte zu 1) verpflichtet ist,
dem Kläger auch sämtliche weitere derzeit nicht voraussehbare
immateriellen Schäden anlässlich der Fehlbehandlung in der Zeit von
1997 bis 1999 zu ersetzen.
Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger
weitere 1.044,00 € zuzüglich 5 % Zinsen über dem Basiszinssatz ab
dem 30.04.2007 zu zahlen.
Die Kosten des Rechtsstreits trägt der Beklagte zu 1) zu 82 % und die
Beklagten zu 1) und zu 2) als Gesamtschuldner zu 18 %.
Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des zu
vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand
1
Der Kläger verlangt von den Beklagten Schadensersatz aufgrund einer vermeintlichen
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ärztlichen Fehlbehandlung in der Zeit von 1997 bis 1999.
Der am 04.09.1991 in Indien geborene Kläger wurde von der Familie L. adoptiert und
am 24.12.1992 am Flughafen in Frankfurt abgeholt. Durch eine in Englisch ausgestellte
Bescheinigung des S. Krankenauses in Delhi erfuhren die Eltern des Klägers, dass
dieser unter einer Sichelzellanämie leidet und während der letzten 6 Monate zweimal
eine Bluttransfusion erhalten hatte.
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In der Zeit vom 24.12. bis zum 31.12.1992 wurde der Kläger dann in der Kinderklinik des
Klinikums N. aufgenommen, dessen Träger die Beklagte zu 2) ist. Der Beklagte zu 1)
war der verantwortliche Leiter der Kinderklinik. Nach Untersuchungen des Klägers
wurden folgende Diagnosen gestellt: Sichelzellthalassämie, Pneumokokkeninfekt.
Aufgrund der Laborbefunde kam der Beklagte zu 1) zu dem Ergebnis, dass es sich nicht
um eine klassische Sichelzellanämie, sondern um eine Mischform mit einer
heterozygoten Komponente einer Thalassämie handelt. Im Jahre 1995 entschloss sich
der Beklagte zu 1) zu einem chronischen Transfusionsprogramm, welches zunächst von
März 1995 bis Mai 1996 durchgeführt wurde. Aufgrund einer zunehmenden
Hämosiderose wurde dieses Konzept zwischenzeitlich abgebrochen. Im weiteren
Verlauf kam es zu vaso-occlusiven Krisen, so dass die Hochtransfusionstherapie mit
begleitenden subcutanen Desferalgaben im März 1997 wieder aufgenommen und im
Jahre 1999 beendet wurde. Die Desferaldosis betrug am Anfang 5 mal 1,5 g/Woche, im
Laufe des Jahre 1997 5 mal 2 g/Woche und im Jahre 1998 5 mal 2,5 g/Woche. Am
15.10.1999 wurden bei dem Kläger eine Sehstörung festgestellt, der Visus betrug nur
noch 10% beidseits.
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Der Kläger wirft den Beklagten - gestützt auf ein fachärztliches Gutachten von Dr. med.
E. vom 22.03.2006 - Behandlungs- und Aufklärungsversäumnisse vor. Die Behandlung
durch den Beklagten zu 1) sei insgesamt aufgrund der mangelnden Kenntnis über das
Krankheitsbild des Klägers grob fehlerhaft gewesen.
5
Für das im Jahre 1995 begonnene chronische Transfusionsprogramm habe schon keine
Indikation bestanden. Eine Indikation für ein chronisches Transfusionsprogramm
bestehe bei Sichelzellpatienten nur nach einem durchgemachten ZNS-Infarkt, nicht aber
bei Schmerzkrisen, unter denen der Kläger gelitten habe. Zudem habe es schon im
Jahre 1995 alternative Behandlungsmethoden gegeben, welche bei dem Kläger
anzuwenden gewesen wären. Richtige Behandlungsmethode sei eine Therapie mit
dem Medikament Hydroxyurea gewesen. Dabei handele es sich um ein Medikament,
welches das Ziel habe, Bluttransfusionen hinfällig werden zu lassen.
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Eine zweite Behandlungsalternative habe in einem Blutaustausch bestanden, welcher
den Vorteil habe, dass die Eisenwerte im Blut nicht erhöht werden. Sowohl die
Verwendung des Medikaments Hydroxyurea als auch der Blutaustausch seien
gleichwertige Behandlungsalternativen, welche darüber hinaus den Vorteil hätten, dass
die Anwendung von Desferal nicht erforderlich sei.
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Ein weiterer gravierender Behandlungsfehler sei in der Anwendung der
Desferaltherapie zu sehen, welche aufgrund der durch das Transfusionsprogramm
hervorgerufenen Eisenüberlagerung erforderlich geworden sei. Während des nicht
indizierten Transfusionsprogramms sei nicht rechtzeitig, sondern erst Anfang 1997 mit
der Eiseneliminationstherapie (Chelattherapie) begonnen worden, obwohl bereits im
August 1996 hohe Ferritinwerte vorgelegen hätten. Die dann eingesetzte Desferaldosis
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habe die obere Grenze um mehr als das Doppelte überstiegen. Die Auswirkungen der
hohen Toxität für Augen, Innenohr, Wachstum und Lunge sei ebenso wie die Tatsache,
dass bei niedrigen Ferritinwerten die Toxität zunehme, ignoriert worden. Die bei dem
Kläger eingetretenen Beschwerden wie Visusverlust, Schwerhörigkeit, rezidivierendes
Erbrechen, Gelenkbeschwerden, Herzrhythmusstörungen sowie die im Röntgen-Thorax
beschriebene interstitielle Zeichnungsvermehrung seien als Vergiftungserscheinungen
in Folge der überhöhten Desferaldosis zu werten.
Der Kläger hält ein Schmerzensgeld von mindestens 60.000,00 € für angemessen.
Ferner macht er materielle Schäden in Höhe von 25.968,14 € wegen Fahrtkosten,
Zuzahlungen und Pflegemehraufwendungen geltend, welche von den Beklagten nicht
bestritten werden. Wegen der Berechnung der materiellen Schäden wird auf die
Aufstellung in der Klageschrift nebst Anlagen (Bl.14 ff. d.A.) Bezug genommen. Zudem
verlangt der Kläger nicht anrechenbare vorgerichtliche Anwaltskosten in Höhe von
1.044,00 €. Der Feststellungsantrag sei wegen nicht absehbarer gesundheitlicher
Risiken gerechtfertigt. Die Schmerzkrisen des Klägers würden immer länger andauern
und im Jahre 2008 habe sich zusätzlich eine Hüftnekrose rechts eingestellt.
9
Der Kläger beantragt,
10
1.
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Den Beklagten zu Ziff.1 zu verurteilen, an den Kläger ein angemessenes
Schmerzensgeld anlässlich der Fehlbehandlung in der Zeit von 1997 bis 1999,
dessen Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, zu bezahlen zuzüglich 5
% Zinsen über dem Basiszinssatz ab Zustellung der Klage,
12
2.
13
die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an den Kläger 25.968,14 €
zuzüglich 5 % Zinsen über dem Basiszinssatz ab Zustellung der Klage zu
bezahlen,
14
3.
15
festzustellen, dass die Beklagten zu Ziff.1 und 2 verpflichtet sind, sämtliche
künftigen materiellen Schäden zu ersetzen, der Beklagte zu Ziff.1 auch sämtliche
künftigen, derzeit nicht voraussehbaren immateriellen Schäden, anlässlich der
Fehlbehandlung in der Zeit von 1997 bis 1999, soweit die materiellen Ansprüche
nicht auf Dritte übergegangen sind,
16
4.
17
die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an den Kläger 1.044,00 €
zuzüglich 5 % Zinsen über dem Basiszinssatz ab Zustellung der Klage zu
bezahlen.
18
Die Beklagten beantragen,
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die Klage abzuweisen.
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Zum Behandlungszeitpunkt sei bei dem Krankheitsverlauf des Klägers in der gesamten
medizinischen Literatur die Indikation zur Hochtransfusion unzweifelhaft gegeben. Eine
alternative Behandlungsmethode habe es nicht gegeben. Sowohl die Diagnose als
auch die Therapie des Beklagten zu 1) seien zum damaligen Zeitpunkt lege artis
gewesen.
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Infolge der Zuführung von Eisen durch die Bluttransfusionen sei dann eine
Eiseneliminationstherapie erforderlich geworden. Diese Eiseneliminationstherapie sei
dann durch den Beklagten zu 1) lege artis mittels subcutaner Desferalzufuhr über eine
Pumpe, welche die individuelle Dosis bestimme, um eine negative Eisenbilanz zu
erreichen, durchgeführt worden. Es sei regelmäßig so viel Desferal gegeben worden,
dass die Eisenbilanz zumindest ausgeglichen gewesen sei, d.h. dass annähernd so viel
Eisen ausgeschieden worden sei, wie durch die Erythrozytenkonzentrate zugefügt
worden sei, wobei berücksichtigt worden sei, dass etwa 30% des Eisens nicht über den
Urin, sondern über den Stuhl ausgeschieden werden. Bei der Festlegung der
Desferaldosis habe sich der Beklagte zu 1) auch an den Ferritinwerten des Klägers
orientiert, welche zu hoch gelegen hätten. Eine alternative Behandlungsmethode habe
damals nicht bestanden.
22
Die Mutter des Klägers sei mehrfach über die Risiken der Desferaltherapie und das
erhebliche Sehkraftrisiko aufgeklärt worden. In zahlreichen Gesprächen während der
Behandlung sei ihr die Möglichkeit eines auftretenen Visusverlustes auf Grund einer
toxischen Optikusatrophie aufgezeigt worden. Da es jedoch keine alternative
Behandlungsmethode gegeben habe, sei sie mit einer Fortführung der risikobehafteten
Methode einverstanden gewesen.
23
Zusammenfassend bleibe festzuhalten, dass der Kläger an einer der schwersten,
lebensbedrohlichen Erkrankungen leide, für die es zum damaligen Zeitpunkt keine
alternative, schonendere, dennoch mit Erfolg versehene Behandlungsmethode gegeben
habe.
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Der Beklagte erhebt zudem die Einrede der Verjährung.
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Spätestens seit Zugang des Arztbriefes vom 18.11.1999 habe der Kläger, vertreten
durch seine Mutter, Kenntnis von der Ursächlichkeit der Desferal-Therapie für die
Körperschäden des Klägers gehabt. Der Arztbrief ende in seiner Zusammenfassung mit
dem eindeutigen Bekenntnis, dass die verschiedenen Symptome des Klägers als
Desferalnebenwirkung zu werten sei.
26
Die Klage ist den Beklagten am 30.04.2007 zugestellt worden.
27
Das Gericht hat Beweis erhoben durch Einholung eines schriftlichen Gutachtens der
Sachverständigen Prof. Dr. L.. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf
das Gutachten vom 06.05.2008 (Bl.75 ff d.A.) Bezug genommen.
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Entscheidungsgründe
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Die zulässige Klage ist überwiegend begründet.
30
I.
31
Der Kläger hat gegen den Beklagten zu 1) einen Anspruch auf Zahlung eines
Schmerzensgeldes aus §§ 823 Abs.1, 847 BGB alte Fassung.
32
Der Beklagte zu 1) hat in der Zeit von 1997 bis 1999 die Behandlung des Klägers
übernommen. Gem. § 823 Abs.1 BGB hat er dabei für diejenigen Schäden einzustehen,
die er dem Kläger widerrechtlich durch einen Verstoß gegen die Regeln der ärztlichen
Heilkunde zugefügt hat.
33
1.
34
Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme war die durch den Beklagten zu 1) in der Zeit
von 1997 bis 1999 bei dem Kläger durchgeführte Desferal-Therapie fehlerhaft.
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Die Sachverständige hat festgestellt, dass die bei dem Kläger durchgeführte
Eiseneliminationstherapie in Form der Gabe von Desferal aus mehreren Gründen
fehlerhaft war. Zum einen sei die Desferal-Therapie schon deshalb fehlerhaft, weil diese
erst durch die Durchführung des bei dem Kläger nicht indizierten
Transfusionsprogramms erforderlich geworden sei. Wäre der Kläger nicht mit
Transfusionen behandelt worden, hätte er auch keine Desferal-Therapie erhalten. Zum
anderen sei auch die konkrete Durchführung der Desferal-Therapie fehlerhaft.
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Durch mangelnde Kenntnis und fehlende Bemühungen zur Einholung der erforderlichen
Informationen sei die Diagnose nicht exakt gestellt worden, was zu einer fehlerhaften
Behandlung der bei dem Kläger bestehenden Variante der Sichelzellkrankheit in Form
der Sichelzell-(-Thalassämie geführt habe.
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Die Sichelzellkrankheit sei eine Erkrankung aus dem Formenkreis der
Hämoglobinopathien, welche eine Vielzahl unterschiedlicher Blutkrankheiten
zusammenfasse, die auf erheblichen Defekten des roten Blutfarbstoffes basieren
würden. Entsprechend der jeweils vorherrschenden Grundproblematik der
Hämoglobinopathien erfolge deren Einteilung in zwei Hauptgruppen, die Gruppe der
Thalassämien, bei denen die Synthese der Eiweißbausteine des Blutfarbstoffes fehle
oder stark unterdrückt sei, und zum anderen in die Gruppe der Hämoglobin-
Strukturanomalien, bei denen der Eiweißanteil des Hämoglobinmoleküls durch einen
fehlerhaften Aufbau krankhaft verändert sei. Die klassische Sichelzellkrankheit sei
entweder eine vollerbige HbSS-Hämoglobinopathie oder eine gemischterbige HbS-(-
Thalassämie. Der Begriff Sichelzell-ß-Thalassämie sei jedoch keine
Krankheitsdiagnose, sondern eine genetische Definition. Diese Feststellung sei nicht
allgemein präsent, so dass es Missverständnisse gäbe, indem die Sichelzell-(-
Thalassämie als eine Art Thalassämie gedeutet werde, was zu fehlerhaften schädlichen
Therapieentscheidungen führen könne.
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Eine derartige Fehldeutung der Sichelzell-(-Thalassämie sei bei dem Kläger erfolgt.
Ausweislich des Arztbriefes vom 02.03.1993 sei in der Kinderklinik des Klinikums N. die
Diagnose Sichelzell-Thalassämie gestellt worden, welche aus einer Hb-Elektrophorese
mit Nachweis von bis zu 72 % HbS, ca. 11 % HbF, "bis zu" 4,4 % HbA2 und einem
deutlichen HbA1-Anteils von 12,6 % abgeleitet worden sei. Aus diesem
Hämoglobinmuster bzw. aufgrund des HbA1-Anteils sei aber nur eine mischerbige HbS-
(-Thalassämie infrage gekommen, weil HbA1 (das normale Hb des Menschen) bei
reinerbiger HbS Situation nicht vorkommen könne. Die Ärzte der Kinderklinik des
Klinikums N. seien fälschlicherweise davon ausgegangen, dass es aufgrund der
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protektiven Wirkung des hohen HbF nicht zu den typischen Zeichen einer
Sichelzallanämie kommen würde und es für möglich gehalten, dass ein milder Verlauf
im Sinne einer Thalassämia minor oder einer Thalassämia intermedia kommen würde.
Diese Einschätzung sei deshalb fehlerhaft, weil der Einfluss des HbF auf das
Krankheitsbild erst ab 15-20 % richtig relevant werde. Bei dem Kläger sei zum Zeitpunkt
der prognostischen Einschätzung seines zu erwartenden Krankheitsbildes im Dezember
1992 allerdings lediglich ein HbF-Wert von 11,1 % dokumentiert worden. Zudem habe
bei dem damals erst 1 ¼ Jahre alten Kläger die Höhe des HbF-Wertes bzw. einer
bleibenden HbF-Vermehrung noch gar nicht beurteilt werden können. Bei Kindern mit
Hämoglobinopathien, besonders bei der HbS-Hämoglobinopathie verlaufe der normale
frühkindliche Rückbildungsprozess des fetalen Hämoglobins bzw. dessen vollständige
Ablösung durch die bleibenden Blutfarbstoffkomponenten verzögert. Aufgrund dessen
finde man in diesem Lebensalter noch nicht die endgültigen HbF-Werte und könne aus
dessen Einfluss auch keine Rückschlüsse ableiten. In dieser fehlerhaften Beurteilung,
vor allem der Beurteilung der Krankheit als Thalassämie liege der Ursprung für die im
Verlauf einsetzende Fehlbeurteilung des gesamten Krankheitsgeschehens.
Auf der Grundlage der dargestellten Bewertung seien die durch die Behandlung des
Klägers aufgeworfenen Fragen dann wie folgt zu beantworten:
40
a.
41
Eine Indikation für ein chronisches Transfusionsprogramm, wie es seit 1995 bei dem
Kläger durchgeführt wurde, habe nicht bestanden. Die Verordnung von
Bluttransfusionen unterliege bei der Sichelzellkrankheit strengen Indikationen. Die bei
Sichelzellkranken typischen, chronisch-anämischen Blutbildwerte würden keine
Transfusionsindikation darstellen. Eine einmalige Fremdblutgabe oder eine
Austauschtransfusion sei vor allem zur Beherrschung einer akuten Situation wie einer
Sichelzellkrise oder einer Erythrozyten-Aplasiekrise mit akutem, starkem Hb Abfall
angezeigt. Fremdblutgaben im Rahmen eines Dauertransfusionsprogramms dürften nur
durchgeführt werden, wenn lebensbedrohliche, wiederkehrende (oder mit dem Risiko
des Wiederkehrens behaftete) Milzsequestrationen einträten, oder Infarkte im
Zentralnervensystem bzw. andere bedrohliche Organinfarkte (z.B. Lunge, Bauch etc.) zu
dieser Maßnahme zwängen. Hierbei gehe es entgegen dem Transfusionsprogramm bei
Thalassämikern zunächst nicht um die Unterdrückung der eigenen Blutbildung, sondern
um die längerfristige starke Absenkung des HbS-Anteils. Dazu müssten HbS-Werte von
unter 30 % (besser unter 25 % oder unter 20 % Gesamtblutfarbstoff) erreicht und
beibehalten werden, wobei der wiederholte Blutaustausch so lange durchgeführt werde,
bis der gewünschte Wert eingestellt sei. Aus den Krankenunterlagen ergebe sich, dass
der HbS-Spiegel unter dem Hoch- bzw. Hypertransfusionsprogramm viel zu hoch
geblieben sei. Im Jahre 2003 sei in einer Hb Elektrophorese ein HbA1-Wert von 59,4 %
sowie ein HbS 40,6 % gemessen worden, wobei laut Arztbrief das HbS im Laufe der
Zeit zwischen 40 und 50 % gelegen habe. Aufgrund dieses unter Anwendung des
Transfusionsprogramms zu hoch bleibenden HbS-Wertes hätte man abklären müssen,
warum mit dem Transfusionsprogramm keine Vermeidung der Gefäßverschlusskrisen
eingetreten sei.
42
b.
43
Die dann aufgrund der fehlerhaften Anwendung des Transfusionsprogramms
erforderlich gewordene Eiseneliminationstherapie sei ebenfalls behandlungsfehlerhaft.
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Zum einen sei mit der Eiseneliminationstherapie (Chelattherapie) viel zu spät begonnen
worden und zum anderen sei die dem Kläger verabreichte Desferaldosis viel zu hoch
gewesen.
Der Beginn der Eiseneliminationstherapie sei dann indiziert, wenn die Serum-
Ferritinkonzentration bei regelmäßigen Bestimmungen wiederholt über 1000 ng/mg
liegt. Bei dem Kläger seien im August 1996 extrem hohe Ferritinwerte von mehr als
3000, im November 1996 von mehr als 4000 und 5000 ng/ml erreicht worden, wobei der
maximale Ferritinwert zu dieser Zeit sogar einmal 6392 ng/ml betragen habe. Insofern
seien im August 1996 schon Ferritinwerte vorhanden gewesen, aufgrund derer die
Indikation für die Durchführung einer Eiseneliminationstherapie bestanden habe.
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Zudem sei die dem Kläger verabreichte Desferaldosis von Anfang an zu hoch gewesen.
Nach dem Therapieprotokoll der kooperativen Thalassaämie-Studie (Thal 1991),
welche in den meisten Kliniken seit 1991 angewandt werde, werde die Desferal-Dosis
mit 40mg/kg KG/Tag subcutan an 5-7 Tagen pro Woche angegeben. Unter
Zugrundelegung dieser Werte hätten dem Kläger im Jahre 1997 lediglich 540 mg pro
Tag an 5-7 Tagen die Woche, anstatt der an 5 Tagen verabreichten Dosen in Höhe von
1500 mg bzw. 2000 mg verabreicht werden dürfen und müssen. Im Jahre 1998 hätten
dem Kläger lediglich 552 mg pro Tag an 5-7 Tagen, anstatt der an 5 Tagen
verabreichten Dosen in Höhe von 2500 mg verabreicht werden dürfen und müssen.
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Aus den tatsächlich verabreichten Dosen werde daher deutlich, dass der Kläger
exzessiv erhöhte, toxische Desferaldosen erhalten habe. Die bekannten
Nebenwirkungen wie Wachstumsstörungen, Augenschäden, Knochenmarksschäden,
Hörschäden etc. seien offensichtlich ignoriert und die Vorschriften bei Eintreten von
Nebenwirkungen nicht eingehalten worden.
47
c.
48
Die Verabreichung des Medikaments Hydroxyurea sowie ein vollständiger
Blutaustausch seien als alternative Behandlungsmethode zu der bei dem Kläger
durchgeführten Transfusionstherapie anzusehen.
49
Es hätte den Regeln der ärztlichen Kunst entsprochen, das Medikament Hydroxyurea
angesichts der schweren Symptome bei dem Kläger zu verordnen. Hydroxyurea werde
seit den 1990er Jahren erfolgreich bei Sichelzellpatienten angewandt, weil damit
schwere und häufige Schmerzkrisen reduziert oder sogar verhindert werden könnten,
wobei es bei 70-75 % der behandelnden Patienten erfolgreich sei.
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Ein vollständiger Blutaustausch sei indiziert, um kurzfristig den HbS-Anteil des Blutes zu
senken bei akuten Organversagen, bei Hirninfarkten, bei Infarkten der Lunge oder der
Bauchgefäße mit Darmverschluss. Bei dem Kläger sei einmal ein vollständiger
Blutaustausch durchgeführt worden, wobei es vermutlich weitere Zustände gegeben
habe, in denen ein akuter Blutaustausch angezeigt gewesen sei.
51
d)
52
Die Behandlungsfehler seien als Verstoß gegen elementare Regeln der ärztlichen
Heilkunde zu werten. Durch mangelnde Kenntnis und fehlende Bemühungen zur
Einholung der erforderlichen Informationen sei die Diagnose nicht exakt gestellt worden.
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Man habe sich nicht um ein grundsätzliches Verständnis der in der deutschen Medizin
damals noch eher ungewohnten Materie bemüht und kein auf die Sichelzellkrankheit
spezialisiertes Zentrum befragt. Des weiteren sei weder eine qualifizierte
Routinebetreuung mit regelmäßiger Einbestellung des Klägers zur Untersuchung auch
in beschwerdefreien Intervallen aufgebaut worden, noch sei die Mutter des Klägers in
der gebotenen Ausführlichkeit über die Maßnahmen zur Vorbeugung von
Verschlusskrisen aufgeklärt worden. Schließlich sei dann, wenn der Kläger mit
schwerer Symptomatik in die Klinik eingeliefert wurde, keine nachhaltige Therapie
seiner Sichelzellkrankheit eingeleitet worden.
Nach der medizinischen Bewertung der Sachverständigen ist demnach von dem
Vorliegen eines groben Behandlungsfehlers auszugehen. Der Beklagte zu 1) hat bei
dem Kläger keine Therapie für die bei ihm bestehende Sichelzellkrankheit sondern eine
Thalassämie-Therapie durchgeführt. Infolge dieser Fehleinschätzung der Krankheit des
Klägers kam es zu der Anwendung einer nicht indizierten Transfusionstherapie und in
der weiteren Folge zu der Durchführung einer Desferal-Therapie. Diese von dem
Beklagten zu 1) getroffenen Fehlentscheidungen erscheinen aus objektiver Sicht nicht
mehr verständlich und stellen Verstöße gegen fundamentale ärztliche Regeln dar.
54
Die Kammer folgt den überzeugenden Feststellungen der Sachverständigen, an deren
Sachkunde kein Anlass zu Zweifeln besteht. Die Sachverständige Prof. Dr. L. hat ihrem
Gutachten alle vorhandenen Krankenunterlagen zugrunde gelegt. Aus den damit
vollständig ermittelten Befund- und Anknüpfungstatsachen hat sie unter Darlegung der
medizinischen Vorgaben in jeder Hinsicht nachvollziehbare und widerspruchsfreie
Schlussfolgerungen gezogen.
55
2.
56
Da der Beklagte zu 1) die Erkrankung des Klägers grob fehlerhaft verkannt und
behandelt hat, geht das Beweisergebnis zu seinen Lasten. Der grobe
Behandlungsfehler führt zu einer Umkehr der Beweislast, so dass nunmehr zum
Nachteil des Beklagten zu 1) ein Kausalzusammenhang zwischen dem Fehler und der
Primärschädigung vermutet wird. Es war demnach Sache des Beklagten zu 1)
nachzuweisen, dass der Eintritt des Primärschadens trotz des Fehlverhaltens zumindest
äußerst unwahrscheinlich ist. Dies ist dem Beklagten zu 1) nach dem Ergebnis der
Beweisaufnahme nicht gelungen.
57
Nach den ebenfalls überzeugenden Feststellungen der Sachverständigen, sind bei dem
Kläger aufgrund der mangelhaften Grundtherapie, d.h. der fehlenden Routinebetreuung,
der Durchführung des Therapiekonzepts einer anderen Krankheit, des fehlenden
Therapieversuchs mit Hydroxyurea und der nicht ausreichenden Schlussfolgerung aus
der nicht ausreichenden Absenkung des HbS-Anteils, Dauerschäden nach ZNS-
Infarkten und Knocheninfarkten (Beine, Arme, Wirbelsäule, Steißbein), Schädigungen
des Knochenmarkes, Multiorganschädigungen (Leber, Milz, Nieren) und Folgezustände
durch die schweren Sichelzellkrisen mit permanenter erheblicher Traumatisierung
zurückgeblieben.
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Im Zuge der jahrelang unterlassenen bzw. fehlerhaften Eiseneliminationstherapie seien
zudem Hämosiderosesschäden insbesondere eine Lebersiderose und eine
Milzsiderose als Dauerschäden nachweisbar, wobei auch eine Siderose des Herzens
und eine Siderose der endorkinen Drüsen wahrscheinlich sei. Infolge der
59
Desferalvergiftung seien eine Innenohrschwerhörigkeit, Lungengewebsschädigungen
und Pleuraergüsse, Gelenkveränderungen, Herzmuskelschäden und mögliche Schäden
des Reizleitungssystems sowie ein Stillstand des Wachstums mit Dystrophie
entstanden.
Nach dem Stand der Kenntnis sei nicht vorstellbar, dass die Beschwerden des Klägers,
auch nur zum Teil auf andere Ursachen als die Behandlungsfehler zurückzuführen
seien. Die Sehstörung sei nicht durch den Hirninfarkt verursacht worden und wäre bei
fachgerechter Behandlung nicht eingetreten. Eine schicksalhafte Verwirklichung eines
behandlungsimmanenten Risikos könne allenfalls und wenn überhaupt nur sehr partiell
für einige Probleme der Grundkrankheit selbst - keineswegs aber in dem hier
vorliegenden Schweregrad - diskutiert werden. Für die durch die fehlerhafte
Eiseneliminationstherapie und die Desferalvergiftung beschriebenen Erscheinungen
könne kein behandlungsimmanentes Risiko geltend gemacht werden.
60
Aufgrund der Umkehr der Beweislast ist demnach davon auszugehen, dass sämtliche
von dem Sachverständigen festgestellten Folgeerscheinungen und Beschwerden des
Klägers als Primärschäden auf die Behandlungsfehler des Beklagten zu 1)
zurückzuführen sind. Ein Kausalzusammenhang scheidet auch nicht deshalb aus, weil
die Dauerschäden nach ZNS-Infarkten und Knocheninfarkten (Beine, Arme,
Wirbelsäule, Steißbein), Schädigungen des Knochenmarkes, Multiorganschädigungen
(Leber, Milz, Nieren) und Folgezustände durch die schweren Sichelzellkrisen mit
permanenter erheblicher Traumatisierung, möglicherweise zum Teil auf die bei dem
Kläger bestehende Sichelzellkrankheit zurückzuführen sind. Denn nach den
Ausführungen des Sachverständigen ist es nicht äußerst unwahrscheinlich, dass die
Schäden durch die Behandlungsfehler des Beklagten zu 1) hervorgerufen worden sind.
Dies wäre für einen Ausschluss der Haftung des Beklagten zu 1) für diese
Folgeerscheinungen und Beschwerden des Klägers aber erforderlich.
61
3.
62
Der Höhe nach kann der Kläger bei dieser Sachlage von dem Beklagten zu 1) ein
Schmerzensgeld in Höhe von 150.000,00 € verlangen.
63
Der Bemessung dieses Betrages hat die Kammer zugrunde gelegt, dass der Kläger
aufgrund der Behandlungsfehler des Beklagten zu 1) dauerhaft geschädigt ist.
Insbesondere aufgrund der bei ihm eingetretenen Innenohrschwerhörigkeit, der
Lungengewebsschädigungen, der Gelenkveränderungen, der Herzmuskelschäden, des
Stillstands des Wachstums mit Dystrophie sowie der erheblichen Sehstörung geht die
Kammer davon aus, dass der Kläger lebenslang behandelt und betreut werden muss.
Zudem war bei der Bemessung des Schmerzensgeldes zu berücksichtigen, dass der
Kläger aufgrund der Anwendung einer fehlerhaften Therapie erhebliche Schmerzen
erleiden musste, welche ihm bei Anwendung der für seine Krankheit adäquaten
Therapie erspart geblieben wären.
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Für die Feststellung der zumessungsrelevanten Gesichtspunkte im Rahmen des
Schmerzensgeldanspruchs bedurfte es auch nicht der Einholung eines weiteren
Sachverständigengutachtens. Die Einholung eines weiteren
Sachverständigengutachtens ist gem. § 412 Abs.1 ZPO nur dann erforderlich, wenn
Widersprüche zwischen mehreren Gutachten nicht aufgeklärt werden können, die
Sachkunde des bisherigen Gutachters zweifelhaft ist, das Gutachten grobe Mängel
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aufweist, der neue Sachverständige über eine überlegene sachliche Kompetenz oder
überlegene Forschungsmittel verfügt, besonders schwierige medizinische Fragen zu
entscheiden sind, der Sachverständige von falschen Anknüpfungstatsachen ausgeht
oder sich die Anschlusstatsachen durch neuen Sachvortrag ändern (Zöller/Greger,
24.Auflage, § 412, Rdnr.1; Geiß/Greiner, Arzthaftungsrecht, 4.Auflage, E, Rdnr.25). Die
Sachverständige Prof. Dr. E. L. hat die auf den Behandlungsfehler zurückzuführenden
Folgeerscheinungen und Beschwerden des Klägers umfassend und vollständig
dargestellt. Dass sich die Bewertung der bei dem Kläger eingetretenen
gesundheitlichen Schäden nur auf die in der Akte bis 2005 eingetretenen Probleme
bezieht, ändert daran nichts. Neue Anknüpfungstatsachen, welche eine weitere
Begutachtung erforderlich machen würden, sind nicht vorgetragen. Weder die Beklagten
noch der Kläger haben weitere, nicht durch den Sachverständigen festgestellte
Folgeerscheinungen und Beschwerden des Klägers (substantiiert) vorgetragen. Alleine
die Tatsache, dass nach Auffassung der Sachverständigen eine fachärztliche
Beurteilung zur Feststellung des genauen Ausmaßes der lebenslangen Invalidität, der
entgangenen Bildungschancen und der hochgradigen Minderung der Erwerbsfähigkeit
ratsam ist, rechtfertigt – da es hier allein um die Festsetzung eines angemessenen
Schmerzensgeldes geht – nicht die Einholung eines weiteren
Sachverständigengutachtens.
II.
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Der Kläger hat gegen die Beklagten als Gesamtschuldner zudem einen Anspruch auf
Ersatz materieller Schäden in Höhe von 25.762,64 €, denen die Beklagten nicht
entgegengetreten sind. Wegen des darüber hinausgehenden Betrages in Höhe von
205,50 € ist die Klage unbegründet.
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Der Anspruch auf Ersatz materieller Schäden ergibt sich gegen den Beklagten zu 1) aus
§ 823 Abs.1, 249 BGB und gegen die Beklagte zu 2) aus §§ 823 Abs.1, 831, 31,
249 BGB. Die Beklagte zu 2) haftet als Trägerin des Klinikums N. für die von den
behandelnden Ärzten verursachten Schäden des Klägers. Gem. § 840 BGB haften die
Beklagten als Gesamtschuldner.
68
Der Umfang des Anspruchs auf Ersatz materieller Schäden richtet sich nach
§ 249 ff. BGB. Gem. § 249 Abs.1 BGB hat der zum Schadensersatz verpflichtete den
Zustand herzustellen, der bestünde, wenn der zum Ersatz verpflichtende Umstand nicht
eingetreten wäre.
69
Nach den Ausführungen des Sachverständigen war sowohl die Durchführung des
Transfusionsprogramms als auch die dadurch erforderlich gewordene Durchführung der
Desferal-Therapie fehlerhaft. Aufgrund der durch die Desferal-Therapie hervorgerufene
Desferalvergiftung des Klägers mit den von dem Sachverständigen festgestellten
Folgen, musste die Mutter des Klägers für ihn eine Vielzahl von Fahrten ins Klinikum N.
sowie weitere Fahrten zu speziellen Augenkliniken in H. und B. und zur kinderärztlichen
Behandlung der Klägers in C. unternehmen, deren Kosten sich auf insgesamt
5.846,68 € belaufen. Die Geltendmachung eines Betrages in Höhe von 0,27 € pro
Kilometer ist angemessen. Ersatz der Fahrtkosten in Höhe von 135,00 € für die Fahrt
nach H. zu einem Ärztekongress im Hinblick auf seltene Anämien kann der Kläger
hingegen nicht ersetzt verlangen. Hierbei handelt es sich nicht um Kosten, die durch
einen Behandlungsfehler der Beklagten verursacht wurden, sondern um
Aufwendungen, welche aufgrund der bei dem Kläger bestehenden Grunderkrankung
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angefallen sind.
Weiterhin kann der Kläger Ersatz der aufgrund seiner nahezu vollständig eingetretenen
Erblindung notwendig gewordenen Aufwendungen in Höhe von insgesamt 2.635,96 €
verlangen. Dabei handelt es sich Kosten für den Erwerb einer Blindenschriftmaschine
nebst Maschinenunterlagen, einer Tastatur für Sehbehinderte, Zuzahlung für eine
Lupenbrille, Zuzahlung für eine behindertengerechte Hardware zur
Eingabeunterstützung, Zuzahlung für ein Brillenglas mit Lupenwirkung, Zuzahlung für
eine Monokular für die Ferne und für ein Schlagzeug. Der Kläger hat schlüssig und
nachvollziehbar dargelegt, dass das Schlagzeug zu therapeutischen Zwecken aufgrund
der Sehbehinderung des Klägers sinnvoll ist. Durch Vorlage von Rechnungen hat der
Kläger die Kosten für die notwendigen Aufwendungen substantiiert vorgetragen und
belegt. Die Übernachtungskosten der Mutter des Klägers in Höhe von 70,50 €, welche
für die Teilnahme an dem Ärztekongress für seltene Anämien angefallen sind, kann
dieser nicht ersetzt verlangen. Hierbei handelt es sich ebenso wie bei den Fahrtkosten
um Kosten, welche im Zusammenhang mit der bei dem Kläger vorliegenden
Grunderkrankung entstanden sind.
71
Bei den Pflegemehraufwendungen für den Zeitraum von Oktober 1999 bis August 2006
in Höhe von 17.280,00 € handelt es sich ebenfalls um ersatzfähige Kosten i.S.d.
§ 249 BGB, die durch die Behandlungsfehler der Beklagten entstanden sind. Eine
Mehraufwendung von einer Stunde pro Tag zu einem Stundensatz von 8,00 € ist
aufgrund der erheblichen Schädigung des Klägers angemessen.
72
III.
73
Neben einem angemessenen Schmerzensgeld und dem Ersatz materieller Schäden
kann der Kläger auch die beantragte Feststellung verlangen, dass ihm die Beklagten
zum Ersatz sämtlicher künftiger materieller Schäden sowie der Beklagte zu 1) darüber
hinaus zum Ersatz weiterer nicht voraussehbarer künftiger immaterieller Schäden
verpflichtet ist.
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Der Beklagte zu 1) ist dem Kläger – wie ausgeführt – dem Grunde nach zum Ersatz aller
aus der Fehlbehandlung in der Zeit von 1997 bis 1999 entstehenden Schäden
verpflichtet. Der Beklagte zu 2) ist dem Kläger zum Ersatz aller materiellen Schäden
verpflichtet.
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Aufgrund der dauerhaften Verschlechterung des Zustandes des Klägers sind weitere
materielle sowie weitere immaterielle Schäden denkbar, die – weil sie derzeit noch nicht
voraussehbar sind - bei der Bemessung des Schmerzensgeldes nicht berücksichtigt
werden konnten.
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IV.
77
Neben dem Schmerzensgeld kann der Kläger Ersatz seiner nicht anrechenbaren
außergerichtlichen Anwaltskosten verlangen, die Teil seines materiellen Schadens
sind. Außergerichtlich hat der Prozessbevollmächtigte des Klägers die Ansprüche
gegenüber den Beklagten dem Grunde nach angemeldet. Die geltend gemachten
Anwaltsgebühren sind der Höhe nach gerechtfertigt.
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V.
79
Die Schadensersatzansprüche des Klägers sind entgegen der Auffassung der
Beklagten auch nicht verjährt. Der Kläger hat am 05.10.2006 einen
Prozesskostenhilfeantrag gestellt, welcher gem. § 204 Abs.1 Nr.14 BGB die Verjährung
hemmt. Die Behandlung, aufgrund welcher der Kläger Schadensersatzansprüche
geltend macht, war im Zeitraum von 1997 bis 1999. Gem. Art. 229 § 6 Abs.1 S.2 EG
BGB bestimmt sich der Beginn der Verjährung für den Zeitraum vor dem 01.01.2002
nach dem BGB in der bis zu diesem Tag geltenden Fassung. Nach § 852 Abs. 1 BGB
a.F. beginnt die Verjährungsfrist von 3 Jahren grundsätzlich mit Kenntnis des
Betroffenen vom Eintritt eines Schadens zumindest dem Grunde nach, von seiner
eigenen Schadensbetroffenheit und von der Person des Ersatzpflichtigen zu laufen. Für
die Annahme einer positiven Kenntnis des Patienten vom Vorliegen eines
Behandlungsfehlers ist auch die Kenntnis von solchen Tatsachen erforderlich, aus
denen sich für ihn als medizinischen Laien ergibt, dass der behandelnde Arzt von dem
üblichen medizinischen Vorgehen abgewichen ist (Martins/Winkhart, Arthaftungsrecht,
S.521; BGH NJW 2001, 885ff.; BGH NJW 1999, 2734 ff.). Eine derartige Kenntnis der
erforderlichen Tatsachen ergibt sich nicht aus dem Arztbrief der Beklagten vom
18.11.1999. Daraus ergibt sich lediglich, dass die Körperschäden des Klägers als
Nebenwirkungen der Desferal-Therapie zu werten sind. Aus diesen Feststellungen
kann der Kläger als medizinischer Laie aber noch nicht schließen, dass die Desferal-
Therapie auch behandlungsfehlerhaft war. Wären die bei dem Kläger eingetretenen
Schäden als Nebenwirkungen der Desferal-Therapie zu werten, ergäbe sich hieraus
kein Behandlungsfehler der Beklagten, weil es sich dann um die Verwirklichung eines
behandlungsimmanenten Risikos gehandelt hätte.
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Die Kenntnis vom Vorliegen eines möglichen Behandlungsfehlers hatte der Kläger erst
aufgrund des ärztlichen Gutachtens der Dr. med. E. vom 23.03.2006. In diesem
Gutachten ist erstmals ausgeführt, dass die Dosis der Desferalgabe zu hoch war, so
dass es zu einer Desferalvergiftung des Klägers gekommen ist. Die Verjährungsfrist
begann daher erst ab diesem Zeitpunkt zu laufen, so dass zum Zeitpunkt der
Einreichung des Prozesskostenhilfeantrags am 05.10.2006 nach altem und neuen (§§
195, 199 BGB n. F.) Verjährungsrecht noch keine Verjährung eingetreten war.
81
VI.
82
Ob die Beklagten neben der Annahme von Behandlungsfehlern noch aufgrund eines
Aufklärungsversäumnisses zur Zahlung von Schadensersatz verpflichtet sind, kann
dahinstehen, weil die Haftung aufgrund eines Behandlungsfehlers nicht hinter den
Ansprüchen aus einem Aufklärungsfehler zurückbleibt.
83
VII.
84
Der Zinsanspruch folgt aus den §§ 288, 291 BGB. Die prozessualen
Nebenentscheidungen beruhen auf den §§ 92 Abs.2 Nr.1, 100 Abs.2, 709 ZPO. Bei den
geltend gemachten Kosten für die Teilnahme an dem Ärztekongress handelt es sich um
eine Zuvielforderung, die verhältnismäßig geringfügig war und keine höheren Kosten
veranlasst hat.
85
VIII.
86
Der Streitwert für den Schmerzensgeldanspruch wird auf 150.000,00 €, derjenige für
87
den Feststellungsantrag auf 10.000,00 €, insgesamt wird der Streitwert unter
Einbeziehung des bezifferten Schadensersatzanspruchs auf 185.968,14 € festgesetzt.