Urteil des LG Aachen vom 17.07.2009

LG Aachen: grad des verschuldens, fristlose kündigung, unternehmer, handelsvertreter, händler, beendigung, beitrag, anfang, geschäftsverbindung, betrug

Landgericht Aachen, 43 O 21/04
Datum:
17.07.2009
Gericht:
Landgericht Aachen
Spruchkörper:
3. Kammer für Handelssachen
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
43 O 21/04
Schlagworte:
Ausgleichsanspruch; Vertragshändler; Türkei
Tenor:
Die Klage ist dem Grunde nach gerechtfertigt.
T a t b e s t a n d
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Der Kläger macht aus abgetretenem Recht der türkischen Gesellschaft FPBW (im
Folgenden: F) einen Ausgleichsanspruch nach Beendigung eines
Vertriebshändlervertrags geltend; hilfsweise verlangt er Schadensersatz.
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Die Beklagte verkaufte und lieferte in den Jahre 1991 bis 2002 nacheinander an vier
türkische Kapitalgesellschaften, die vom Kläger beherrscht, geleitet und vertreten
wurden, Transparent-, Durchschreib- und anderes Spezialpapier zum Weiterverkauf an
Händler oder Großverbraucher in der Türkei und benachbarten Staaten. Der Umsatz,
der im Jahr 1991 etwa 50.000,00 DM betrug, stieg in den folgenden Jahren stetig an; im
Jahr 2000 erreichte er 1.436.829,00 DM. Wegen einer Erhöhung der Preise in deutscher
und mehr noch in der damals stark abgewerteten türkischen Währung fiel der Umsatz in
2001 auf 511.747,00 DM. Die Beklagte zahlte den jeweiligen Abnehmerfirmen
Werbezuschüsse (Ns), und zwar jeweils nachträglich 44.800,00 DM für das Jahr 1994,
11.250,00 DM für das Jahr 1995, 70.000,00 DM für das Jahr 1999 und 100.000,00 DM
für das Jahr 2000; ob solche Zuschüsse auch für die Jahre 1996 bis 1998 gezahlt
wurden, ist zwischen den Parteien streitig. Anfang des Jahre 2002 behielt F von fälligen
Zahlungen 100.000,00 DM als Werbezuschuss für das Jahr 2001 ein. Auf Grund von
Zusagen bei einem Treffen der Parteien am 02.05.2002 zahlte der Kläger 32.000,00 €
und 32.328,02 € im Juli 2002, sodann 33.000,00 € und 33.223,61 € Anfang September
2002. Damit beglich der Kläger die bis 02.05.2002 ausgestellten Rechnungen der
Beklagten bis auf 51.129,19 € (= 100.000,00 DM). Als der Kläger mit E-mail vom
14.05.2002 die Ansicht vertrat, ihm sei für das Jahr 2001 sogar ein höherer
Werbezuschuss als 100.000,00 DM in Aussicht gestellt worden, forderte mit E-mail vom
23.05.2002 (Anlage K 17 in AH I) die Beklagte die umgehende Überweisung des
ausstehenden Betrags; für 2001 werde kein Marketingzuschuss gewährt, weil der
Kläger den Anfang des Jahres 2001 angeforderten Marketingplan nicht vorgelegt habe.
Zwischen dem 02.05.2002 und dem 08.07.2002 brachte die Beklagte
Warenbestellungen des Klägers aus der Zeit vom 14.02.2002 bis 07.05.2002 im Wert
von 68.342,68 € zur Auslieferung. Spätere Aufträge im Wert von 106.575,65 €, die die
Beklagte mit Schreiben vom 16.07.2002, 05.08.2002 und 07.08.2002 bestätigt hatte,
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führte sie nicht mehr aus. Nach Zahlungserinnerungen vom 15.08.2002 (Anlage K 25 in
AH I) und vom 20.08.2002 (Anlage BB 24 = Bl. 912 d.A.) erklärte die Beklagte mit E-mail
vom 11.09.2002, der Kläger werde nicht mehr beliefert, bis der Betrag von 51.129,19 €
(= 100.000,00 DM) und offene Rechnungen in Höhe von insgesamt 68.446,77 € bezahlt
seien. F lehnte dies mit E-mail vom 18.09.2002 ab und verwies darauf, der
Marketingzuschuss stehe ihr zu; die offenen Rechnungen seien noch nicht zur
Bezahlung fällig. Mit Schreiben vom 02.10.2002 nahm die Beklagte die Schweizer Bank
D1 auf Zahlung von 121.692,87 € aus einer Garantie in Anspruch, die die Bank auf
Veranlassung des Klägers für Verbindlichkeiten der S1 in Hongkong ausgestellt hatte.
Auf Grund eines am 01.11.2004/09.11.2004 geschlossenen Vergleichs zahlte D1 an die
Beklagte 150.000,00 sfr.
Bei einer Veranstaltung der VCGI (im Folgenden: V) erklärte am 21.12.2002 der Zeuge
L, ein Mitarbeiter der Beklagten, vor 120 geladenen Gästen, bei denen es sich zum Teil
um Kunden der F handelte, die Beklagte werde künftig ihre Produkte über V und nicht
mehr über F verkaufen, weil man mit dem bisherigen Vertrieb nicht zufrieden sei. Mit
Anwaltsschreiben vom 23.12.2002, das der Beklagten als Einschreiben mit Rückschein
übermittelt wurde, erklärte F die "fristlose Kündigung" des zwischen ihr und der
Beklagten bestehenden "Vertriebshändlervertrags". Durch eine undatierte schriftliche
Erklärung (Anlage K 31 in AH I) trat F alle Ansprüche gegen die Beklagte "auf
Vertriebshändlerausgleich, Schadenersatz und Zahlung der sog. N" an den Kläger ab.
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Der Kläger behauptet, der für den Verkauf in der Türkei zuständige Mitarbeiter der
Beklagten, der Zeuge D, habe auf der Frühjahrsmesse in Frankfurt im Jahr 1992 erklärt,
die Beklagte wolle künftig nur noch mit ihm dem Kläger als exklusivem Vertriebspartner
auf dem türkischen Markt zusammenarbeiten. Das Vertragsverhältnis mit der Beklagten
sei, weil sie keine Einwände geäußert habe, jeweils auf die neuen Firmen, für die er
aufgetreten sei, übergegangen. Er und seine Firmen hätten keine Konkurrenzprodukte
geführt. Umgekehrt habe die Beklagte allein über ihn und seine Firmen ihre
Erzeugnisse in der Türkei und in den angrenzenden Ländern vertrieben. Er der Kläger
habe daraus bedeutende Gewinne erzielt, nämlich 1.261.376,00 DM im Jahr 1999,
1.836.244,00 DM im Jahr 2000, 1.334.793,00 DM im Jahr 2001 und 760.429,00 DM im
Jahr 2002. Die Beklagte habe ihm auch in den Jahren 1997, 1998 und 1999 einen
Werbezuschuss von 50.000,00 DM bis 70.000,00 DM gezahlt. Bereits im Jahr 2001
habe die Beklagte begonnen, durch unsinnig hohe Preise und fehlende Mitwirkung an
Werbemaßnahmen die Umsätze des Klägers zu drücken. Als er einige Rechnungen
nach Verweigerung des Werbezuschusses nicht mehr bezahlt habe, sei dies für die
Beklagte ein willkommener Vorwand gewesen, die Vertragsbeziehung zu beenden.
Nunmehr habe V den kompletten Kundenbestand des Klägers übernommen und
beliefere ihn mit den Produkten der Beklagten; diesem Vorbringen hat die Beklagte nicht
widersprochen.
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Der Kläger beantragt,
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die Beklagte zu verurteilen, an ihn 800.000,00 € nebst 8 % Zinsen über dem
Basiszinssatz hieraus seit dem 11.03.2004 zu zahlen.
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Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Sie behauptet, sie habe die jeweiligen Gesellschaften des Unternehmens des Klägers
als Großhändler zu den üblichen Konditionen beliefert. Der Kläger habe in eigener
Initiative und zur Steigerung des eigenen Umsatzes diejenigen Vermarktungsaktivitäten
entfaltet, die für einen Großhändler typisch seien. Vier bis sechs Mal jährlich habe er die
Beklagte aufgesucht und nach Kontenabgleichung den offenen Betrag gezahlt. Die
Beklagte erklärt hilfsweise die Aufrechnung mit offenen Kaufpreis- und
Nebenforderungen in Höhe von insgesamt 71.841,40 €.
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Wegen der näheren Einzelheiten des Parteivorbringens wird auf den vorgetragenen
Inhalt der zwischen den Parteien gewechselten Schriftsätze sowie auf die von ihnen
überreichten Unterlagen Bezug genommen.
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Das Urteil vom 13.08.2004, mit dem die Kammer die Klage abgewiesen hat, ist durch
Urteil des Oberlandesgerichts Köln vom 01.07.2005 (19 U 194/04)aufgehoben worden;
die Sache ist zur erneuten Verhandlung und Entscheidung auch über die Kosten des
Berufungsverfahrens zurückverwiesen worden. Die Kammer hat Beweis erhoben durch
Einholung schriftlicher Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. L2 vom 16.10.2006
und vom 29.01.2009, durch Anhörung des Sachverständigen sowie durch Vernehmung
der Zeugen C, D2, D, F1, G, G1, H, I, L, L1, E, N1, S und V1. Wegen des Ergebnisses
der Vernehmungen des Sachverständigen und der Zeugen wird auf die
Sitzungsniederschriften vom 27.02.2007, 19.10.2007, 08.02.2008 und 29.05.2009
verwiesen.
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E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
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Der Kläger hat einen durch Abtretung von F erworbenen Ausgleichsanspruch gegen
die Beklagte. Seine Höhe bedarf jedoch näherer Feststellungen, die dem weiteren
Verfahren vorzubehalten sind. Der Rechtsstreit ist, wie das Berufungsgericht in seinem
Urteil vom 01.07.2005 mit bindender Wirkung niedergelegt hat, nach türkischem Recht
zu entscheiden. Die Kammer hat die einschlägigen türkischen Rechtsnormen durch
Gutachten und Anhörungen des Sachverständigen Prof. Dr. L2 ermittelt, dessen
Sachkunde und Erfahrung außer Zweifel stehen. Danach ist der Ausgleichsanspruch
eines Handelsvertreters oder Vertriebshändlers im türkischen Handelsgesetzbuch und
in anderen türkischen Rechtsvorschriften einerseits nicht statuiert, andererseits nicht
ausgeschlossen. Diese Regelungslücke ist vom Kassationshof und anderen türkischen
Gerichten im Wege richterlicher Rechtsfortbildung geschlossen worden. Die dabei
entwickelten Grundsätze sind in Art. 122 des Entwurfs eines neuen türkischen
Handelsgesetzbuchs zusammengefasst. Danach steht einem Handelsvertreter, wenn
das Vertragsverhältnis mit dem Unternehmer wirksam gekündigt wird, ein
Ausgleichsanspruch zu, wenn folgende Voraussetzungen erfüllt sind: Dem Unternehmer
müssen aus der Geschäftsverbindung mit den vom Handelsvertreter geworbenen
Kunden auch nach Beendigung des Vertrags erhebliche Vorteile entstehen, nämlich
eine gesteigerte Aussicht auf Gewinn, die anzunehmen ist, wenn innerhalb einer
überschaubaren Frist Nachbestellungen zu erwarten sind. Der Handelsvertreter muss
infolge der Beendigung des Vertragsverhältnisses Provisionsansprüche verlieren, die er
bei dessen Fortsetzung aus bereits abgeschlossenen Verträgen, sofern die Provision
noch nicht gezahlt worden ist, oder aus zukünftigen Geschäften des Unternehmers mit
den von ihm geworbenen Kunden zu erwarten hätte. Die Zahlung des Ausgleichs muss
unter Berücksichtigung aller Umstände der Billigkeit entsprechen; dies ist der Fall, wenn
der Handelsvertreter nachweislich ausreichende Bemühungen unternommen hat, um
die Bekanntheit des Unternehmens und seiner Waren zu fördern und deren Absatz zu
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steigern; auf die tatsächlich erzielte Erhöhung des Absatzes kommt es nicht an. Spricht
der Handelsvertreter selbst die Kündigung aus, hat er einen Ausgleichsanspruch nur
dann, wenn er dies wegen eines Vertragsverstoßes oder eines anderen schuldhaften
Fehlverhaltens des Unternehmers tut. Umgekehrt entsteht der Ausgleichsanspruch
nicht, wenn schuldhaftes Fehlverhalten des Handelsvertreters, das die Fortsetzung des
Vertragsverhältnisses für den Unternehmer unzumutbar macht, der Grund war für die
Kündigung des Vertrags; bei dieser Prüfung sind die berechtigten Interessen beider
Vertragsteile zu berücksichtigen. Die Dauer des Vertrags, die Art seiner Durchführung,
insbesondere der Erfolg der Absatzvermittlung, das Gewicht der Vertragsverletzung und
der Grad des Verschuldens sind gegeneinander abzuwägen. Ein gewisses Maß an
Spannungen zwischen den Parteien eines Dauerschuldverhältnisses muss stets
hingenommen werden. Die Nichtbezahlung offener Forderungen über einen längeren
Zeitraum hinweg stellt nur dann ein schwerwiegendes Verschulden des
Handelsvertreters dar, wenn der geschuldete Betrag im Vergleich zum letzten
Jahresumsatz ins Gewicht fällt.
Alle diese Grundsätze gelten in gleicher Weise im Verhältnis zwischen dem
Unternehmer und einem Eigenhändler (Vertragshändler). Wer über einen längeren
Zeitraum die Produkte des Lieferanten im eigenen Namen und auf eigene Rechnung in
der Türkei verkauft, den Vertrieb ständig fördert und dabei vom Lieferanten unterstützt
wird, ist Vertragshändler; auch ohne ausdrückliche Einigung kommt zwischen ihm und
dem Lieferanten ein entsprechender Rahmenvertrag zustande. Der nachvertragliche
Ausgleichsanspruch hängt nicht davon ab, dass dem Händler der Alleinvertrieb
übertragen wurde. Der Anspruch entfällt aber, wenn der Vertragshändler dem
Unternehmer die mit seinen Produkten belieferten Kunden nicht nennt.
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Bei Anwendung dieser Grundsätze waren F und die früheren Gesellschaften, in deren
Namen der Kläger die Geschäfte abwickelte, Vertragshändler der Beklagten. Sie waren
die Abnehmer sämtlicher Waren, die die Beklagte in den Jahren 1994-2002 in die
Türkei exportierte, mit einziger Ausnahme der Lieferungen an H1 im Wert von
43.131,00 DM im Jahr 1995. Dies ergibt sich aus der von der Beklagten als Anlage BB 8
(Bl. 622 d.A.) überreichten Umsatzstatistik. Der darin ebenfalls erwähnte Importeur B ist
unstreitig in Nordzypern ansässig und wurde dort, nicht in der Türkei, beliefert. Der
Umsatz aus dem Türkeigeschäft der Beklagten stieg von 183.296,00 DM im Jahr 1994
auf 1.436.829,00 DM im Jahr 2000. Sein Rückgang auf 511.747,00 DM im Jahr 2001
ging maßgeblich auf eine Verteuerung der Erzeugnisse der Beklagten zurück,
verursacht durch gestiegene Materialkosten einerseits und die Abwertung der türkischen
Währung andererseits. Die Beklagte unterstützte den Kläger beim Vertrieb, indem sie
ihm grafische Darstellungen ihres Firmenzeichens und Werbematerial zur Verfügung
stellte, am Produkttraining für Kunden und Mitarbeitern mitwirkte und den besonders
erfolgreichen Mitarbeitern seiner Unternehmen Belobigungen aussprach, außerdem
wiederholt auf den Messeständen des Klägers Präsenz zeigte und mit ihm ausgewählte
Kunden besuchte; dies ist zwischen den Parteien unstreitig und wird bestätigt durch die
Bekundungen der Zeugen S, V1 und N1. Sämtliche vom Kläger vertretenen
Handelsgesellschaften verband als Vertragshändler mit der Beklagten ein bis 2002
nicht unterbrochener, einheitlicher Rahmenvertrag. Der Sachverständige Prof. Dr. L2 hat
dazu ausgeführt, nach türkischem Recht könne die vertragliche Stellung des
Vertriebshändlers, weil der Vertrag an keine Form gebunden sei, formlos auf eine neue
Vertragspartei übertragen werden; dies geschehe im Wege einer dreiseitigen
Vereinbarung, für deren Zustandekommen auf Seiten des Lieferanten ein tatsächliches
Verhalten genüge. Indem die Beklagte in der Zeit von 1992 bis 2002 bereitwillig die
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Geschäftsverbindung zu den geltenden Konditionen mit neuen Gesellschaften fortsetzte,
die der Kläger, ihr eigentlicher Ansprechpartner, ihr jeweils bezeichnete, bekundete sie
ihr Einverständnis mit der unveränderten Beibehaltung des Vertragsverhältnisses und
seiner Überleitung von der ausscheidenden auf die aktuelle neue Händlerfirma.
Die als solche unstreitige Erklärung des Zeugen L auf der Veranstaltung am
21.12.2002, die Beklagte werde künftig ihre Produkte über V statt über F verkaufen,
konnte nicht die Rechtsfolgen einer Kündigung auslösen, weil sie nicht den für
Kündigungserklärungen unter Kaufleuten in Art. 20 Abs. 2 des türkischen
Handelsgesetzbuchs bestimmten Formerfordernissen genügte. Sie rechtfertigte aber die
Kündigung, die der Kläger seinerseits mit eingeschriebenem Anwaltsbrief vom
23.12.2002 gegenüber der Beklagten aussprach. Ein Unternehmer, der verlautbart, er
werde seinen Vertragshändler nicht mehr beliefern, verletzt damit ihm gegenüber
grundlegende vertragliche Pflichten; dies gilt um so mehr, wenn er wie hier gerade die
Abnehmer des Vertragshändlers anspricht, ihnen zugleich eine neue Bezugsquelle
nennt und damit den bisherigen Händler im Ergebnis ausschaltet. Die Ankündigung des
Zeugen L war von der Geschäftsführung der Beklagten gebilligt und ist ihr als
schwerwiegende, schuldhafte Verletzung des Händlervertrags anzulasten.
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Der Ausgleichsanspruch ist nicht wegen eines eigenen Pflichtverstoßes des Klägers
ausgeschlossen; er hat nicht durch schuldhaftes Fehlverhalten die Fortsetzung des
Vertragsverhältnisses für die Beklagte unzumutbar gemacht. Allerdings blieb nach dem
Vorbringen der Beklagten ihr der Kläger fällige Zahlungen schuldig, die zum Zeitpunkt
der Kündigung am 23.12.2002 nach dem Beklagtenvorbringen 121.692,87 € und damit
46,5 % des Vorjahresumsatzes (238.010,56 DM : 511.747,00 DM x 100) ausmachten.
Zu einem Einbehalt in dieser Höhe war der Kläger nicht berechtigt, selbst wenn ihm ein
Werbekostenzuschuss in der von ihm beanspruchten Höhe von 51.129,19 € (=
100.000,00 DM) zustand. Denn dem türkischen Recht ist, wie der Sachverständige Prof.
Dr. L2 bei seiner Anhörung am 29.05.2009 (S. 4 der Sitzungsniederschrift = Bl. 876 d.A.)
ausgeführt hat, ein Zurückbehaltungsrecht, wie es im deutschen Schuldrecht existiert,
unbekannt. Deshalb gab auch der von der Beklagten erklärte Lieferstopp dem Kläger
nicht das Recht, ausstehende Zahlungen als Druckmittel zu benutzen. Inwieweit der
Kläger gegen die Rechnungsforderungen der Beklagten hätte aufrechnen können,
bedarf keiner Erörterung, weil er nach seinem eigenen Vorbringen (S. 17 der
Berufungsbegründung vom 09.11.2004 = Bl. 236 d.A.) eine Aufrechnungserklärung nicht
abgegeben hat und auch nicht abgeben wollte.
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Gleichwohl ist der unberechtigte Einbehalt keine Pflichtverletzung von solchem
Gewicht, dass am 23.12.2002 die Fortsetzung des Vertragsverhältnisses für die
Beklagte unzumutbar war. Dies ist das Ergebnis einer Abwägung, bei der auf der
Grundlage der Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. L2 folgende
Gesichtspunkte Berücksichtigung gefunden haben:
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Die vertraglichen und geschäftlichen Beziehungen zwischen der Beklagten und den
verschiedenen vom Kläger vertretenen Handelsgesellschaften währten nahezu zehn
Jahre. Von 1992 bis 2000 steigerte sich der Export der Beklagten in die Türkei
gemessen am Umsatz in deutscher Währung auf das 7,5-fache. An dem erfolgreichen
Absatz der Produkte der Beklagten in der Türkei hatten die Verkaufsbemühungen des
Klägers unstreitig den entscheidenden Anteil. Offene Forderungen der Beklagten gegen
den Kläger in der hier fraglichen Größenordnung waren in der Geschäftsbeziehung der
Parteien nichts Ungewöhnliches. Am 02.05.2002 etwa betrug ausweislich der von der
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Beklagten als Anlage BB 11 (Bl. 717 f. d.A.) überreichten Aufstellung der Saldo fälliger
Rechnungen 181.680,82 €; darauf leistete vereinbarungsgemäß der Kläger
Teilzahlungen von 130.551,63 € erst in den Monaten Juli und September 2002. Die
Beklagte hatte sich mit Zahlungszusagen des Klägers begnügt, die den nach seiner
Auffassung ihm zustehenden Werbekostenzuschuss von 51.129,19 €
(= 100.000,00 DM) ausklammerten; dies ist der E-mail des Zeugen L vom 05.09.2002
(Anlage BB 19 in AH IV) zu entnehmen. Erst nach dem 02.05.2002 entwickelte die
Beklagten gegenüber dem Kläger ihren Standpunkt, ein Werbezuschuss stehe ihm für
2001 deshalb nicht zu, weil er nicht den im Januar 2001 angeforderten Marketingplan
vorgelegt habe. Trotz der bestehenden Meinungsverschiedenheiten nahm sie bis
Juli 2002 neue Aufträge des Klägers entgegen und bestätigte sie vorbehaltlos, zuletzt
mit Schreiben vom 07.08.2002. Der von der Beklagten ermittelte Sollstand von
121.692,87 € wurde nicht vor dem 08.11.2002 erreicht. Denn die Beklagte hatte in allen
ihren Rechnungen, ausgenommen nur die Rechnung vom 08.07.200 über 21.637,69 €,
ebenso wie in den vor der jeweiligen Lieferung ausgestellten Auftragsbestätigungen
dem Kläger eine Zahlungsfrist von vier Monaten eingeräumt, die er ausschöpfen durfte,
auch wenn er dem von ihm bestrittenen Beklagtenvorbringen zufolge bei der
Besprechung am 02.05.2002 die Bezahlung künftiger Rechnungen innerhalb von
dreißig Tagen ohne Abzug versprochen hatte. Eine formgültige Mahnung im Sinne von
Art. 20 Abs. 3 des türkischen Handelsgesetzbuchs hat die Beklagte dem Kläger zu
keinem Zeitpunkt übersandt. Ihre Forderung war gesichert durch eine vom Kläger
beigebrachte Bankgarantie. Freilich war sie nicht für seine Verbindlichkeiten bei der
Beklagten, sondern für Forderungen der Beklagten gegen die S1 in Hongkong
ausgestellt. Diese Garantie wurde aber von der Beklagten akzeptiert. Im Ergebnis bot
sie ihr die Handhabe, den Garantiegeber D1 zur Zahlung von 150.000,00 sfr zu
veranlassen.
Stehen bereits die vorgenannten Gründe der Feststellung entgegen, die Fortsetzung
des Vertragsverhältnisses sei für die Beklagte unzumutbar gewesen, so gilt dies erst
recht, wenn für die Beurteilung der Zumutbarkeit auch darauf abgehoben wird, inwieweit
die Beklagte durch eigene Pflichtverstöße zum Scheitern der Geschäftsbeziehung
beigetragen hat. Hier ist zunächst zu berücksichtigen, dass die Beklagte ihrerseits ein
nach türkischem Recht ihr nicht zustehendes Zurückbehaltungsrecht ausgeübt hat, als
sie mit E-mail vom 11.09.2002 die künftige Belieferung des Klägers von der vorherigen
vollständigen Erfüllung ihrer Forderungen abhängig gemacht hat, und zwar selbst
solcher, die wie vorstehend ausgeführt zu diesem Zeitpunkt noch nicht fällig waren.
Hinzu kommt, dass die Beklagte zu Unrecht dem Kläger jeglichen
Werbekostenzuschuss für das Jahr 2001 verweigert hat. Wie der Sachverständige Prof.
Dr. L2 in seinem schriftlichen Gutachten vom 29.01.2009 (S. 4 = Bl. 805 f. d.A.)
ausgeführt hat, erwirbt nach türkischem Recht der Vertragshändler einen
Rechtsanspruch auf den Beitrag des Unternehmers zu verkaufsfördernden Maßnahmen
schon dann, wenn dieser ihn mehrere Jahre freiwillig gezahlt hat. Die Beklagte ließ
bereits im Jahr 1995 dem Kläger, als sie ihm nach ihrem eigenen Vorbringen Waren im
Wert von 593.892,00 DM verkaufte, einen Zuschuss von 44.800,00 DM zukommen. Für
das Jahr 1999 leistete sie einen Beitrag von 70.000,00 DM, für das Jahr 2000 einen
solchen von 100.000,00 DM. Dass die Beklagte derartige Zuschüsse auch für die
Jahre 1996, 1997 und 1998 gewährt hat, vermag die Kammer weder festzustellen noch
auszuschließen. Da die Beklagte ihren Beitrag zu den Werbekosten der Jahre 1999
und 2000 etwa im Verhältnis des Umsatzzuwachses gesteigert hat, entspricht es dem
nach türkischem Recht maßgeblichen billigen Ermessen, den Zuschuss für das
Jahr 2001 in demselben Verhältnis herabzusetzen, so dass er rechnerisch 17.943,50 €
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(= 35.094,43 DM, nämlich 100.000,00 DM : 1.458.206,00 DM x 511.747,00 DM) betrug.
Die unnachgiebige Haltung der Beklagten gegenüber der Forderung des Klägers, auch
wenn diese Forderung nur zum kleineren Teil berechtigt war, setzte eine entscheidende
Ursache für die Zerrüttung der langjährigen Geschäftsverbindung.
Nach Beendigung des Vertragsverhältnisses mit dem Kläger hatte die Beklagte auch für
die Zukunft Gewinn auf Grund von Nachbestellungen zu erwarten, die die vom Kläger
gewonnenen und betreuten Kunden seit Januar 2003 bei V aufgeben. Dem Kläger
entging die Marge, die ihm als Vertragshändler aus diesen Geschäften verblieben wäre.
Die Zahlung eines Ausgleichs entspricht auch der Billigkeit. Gerade durch die
erfolgreichen Bemühungen des Klägers konnte die Beklagte den Absatz ihrer Produkte
in der Türkei bedeutend steigern. Der Kläger hat der Beklagten nicht die Auskunft über
seine Abnehmer verweigert. Die Beklagte hat ihn nicht einmal um diese Auskunft
gebeten; ihrem Vorbringen ist auch nicht zu entnehmen, dass V als neue
Vertriebshändlerin auf Informationen des Klägers angewiesen war. In Anbetracht der
Umsatzentwicklung während der Laufzeit des Vertragsverhältnisses zwischen den
Parteien ist nicht zweifelhaft, dass auch unter Berücksichtigung der Einwendungen der
Beklagten der geltend gemachte Anspruch in einer allerdings noch ungewissen Höhe
besteht. Diese richtet sich, wie der Sachverständige Prof. Dr. L2 in seinem schriftlichen
Gutachten vom 16.10.2006 (S. 16 = Bl. 477 ff. d.A.) ausgeführt hat, nach denselben
Grundsätzen, die der Regelung in § 89b des deutschen Handelsgesetzbuchs zugrunde
liegen. Entscheidend kommt es demnach auf den Verdienst des Vertriebshändlers in
den letzten Vertragsjahren an. Die Beklagte hat die Angaben des Klägers über seinen in
den Jahren 1999-2002 erzielten Gewinn (S. 17 des Schriftsatzes des Klägers vom
27.07.2004 = Bl. 152 d.A.) bestritten, so dass es hierzu weiterer Beweiserhebungen
bedarf. Die Kammer erachtet es für angemessen, über den Grund des Klageanspruchs
vorab zu entscheiden (§ 304 ZPO).
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C2
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