Urteil des LG Aachen vom 10.06.2010

LG Aachen (amtliches kennzeichen, verfolgung, höhe, kläger, verhalten, geschwindigkeit, schaden, fahrzeug, breite, fahrbahn)

Landgericht Aachen, 10 O 59/10
Datum:
10.06.2010
Gericht:
Landgericht Aachen
Spruchkörper:
10. Zivilkammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
10 O 59/10
Tenor:
Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger
5.382,24 EUR nebst Zinsen hieraus in Höhe von fünf Prozentpunkten
über dem Basiszinssatz seit dem 2. Mai 2008 zu zahlen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits werden gegeneinander aufgeho-ben.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar, für den Kläger jedoch nur ge-gen
Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des zu vollstrek-kenden
Betrages. Ihm bleibt nachgelassen, die Zwangsvollstreckung der
Beklagten durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des hier zu
vollstreckenden Betrages oder Hinterlegung in gleicher Höhe
abzuwenden, wenn die Beklagten vor der Vollstreckung in gleicher
Höhe Sicherheit leisten.
Tatbestand
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Der Kläger nimmt die Beklagten zum einen als Fahrzeugführer, zum anderen als
Haftpflichtversicherer wegen eines Schadens in Anspruch, zu dem es in
Zusammenhang mit einer Verfolgung durch Polizeibeamte gekommen ist.
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Der Kläger ist Eigentümer des Polizeifahrzeugs VW Passat, amtliches Kennzeichen
####. Am 11. Oktober 2007 gegen 7.50 Uhr bemerkten zwei mit dem vorgenannten Pkw
in I-V fahrende Polizeibeamte den mit einem Roller und überhöhter Geschwindigkeit
fahrenden, damals noch minderjährigen Beklagten zu 1). Zu diesem Zeitpunkt herrschte
ferner Nebel. Später stellte sich zudem heraus, dass das Versicherungskennzeichen
des vom Beklagten zu 1) geführten und bei der Beklagten zu 2) haftpflichtversicherten
Roller hochgeklappt war. Jedenfalls nahmen die Polizeibeamten mit dem oben
genannten Pkw des Klägers die Verfolgung des Beklagten zu 1) auf und versuchten den
Beklagten zu 1) unter Einsatz des Blaulichts sowie des Martinshorns vergeblich zum
Anhalten zu bringen. Der Beklagte zu 1) fuhr jedoch weiter in Richtung L und hinderte
die Polizeibeamten daran, ihn mit dem Streifenwagen zu überholen, indem er in der
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Straßenmitte fuhr und die Kurven jeweils schnitt. Selbst ein über die
Lautsprecheranlage des Streifenfahrzeugs ausgebrachte Aufforderung anzuhalten
ignorierte der Beklagte zu 1). In der Ortschaft I-L zeigte der Tachometer des folgenden
Streifenwagens eine Geschwindigkeit von 80 km/h an. Schließlich veranlassten die den
Beklagten zu 1) verfolgenden Polizeibeamten die Errichtung einer Straßensperre auf
der I1 Straße. Dabei kam neben einem weiteren Streifenfahrzeug der Pkw eines
anderen Verkehrsteilnehmers zum Einsatz. Allerdings war mit den beiden Pkw nur die
Fahrbahn gesperrt. Rechts neben der Fahrbahn blieb ein ca. 1 m breiter nicht befestigter
Grünstreifen frei. Daneben wiederum befand sich ein Entwässerungsgraben. Als der
Beklagte zu 1) mit seinem Roller zu der Straßensperre kam, hielt er nicht an, sondern
versuchte, rechts an den beiden Pkw vorbeizufahren. Hierbei geriet er in den
Entwässerungsgraben und schließlich gegen eine, den Graben überspannende,
genmauerte Brücke. Die Polizeibeamten übersahen zunächst den
Entwässerungsgraben und folgten dem Beklagten zu 1) auch hier mit ihrem
Streifenwagen. Es gelang ihnen dann nicht mehr, das Fahrzeug rechtzeitig zum
Stillstand zu bringen bzw. an dem Graben vorbeizusteuern. Auch der Polizeiwagen
geriet vielmehr in den Entwässerungsgraben und kollidierte mit der gemauerten Brücke.
Hierbei entstand ein Schaden von insgesamt 10.764,48 EUR.
Mit einem Schreiben vom 27. März 2008 bezifferte der Kläger den Gesamtschaden und
forderte unter Fristsetzung bis zum 30. April 2008 vergeblich zur Zahlung auf.
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Der Kläger meint, die Beklagten hätten als Gesamtschuldner für den gesamten Schaden
einzustehen, weil der Beklagte zu 1) die Verfolgung und den dabei entstandenen
Schaden durch sein verkehrswidriges Verhalten herausgefordert habe.
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Er beantragt,
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die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an ihn 10.764,48 EUR nebst
Zinsen hieraus in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem
2. Mai 2008 zu zahlen.
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Die Beklagten beantragen,
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die Klage abzuweisen.
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Sie meinen, die sog. Herausforderungsformel finde hier schon deshalb keine
Anwendung, weil die Polizeibeamten hier ein unangemessenes Risiko eingegangen
seien. Das ergebe sich bereits daraus, dass eine hohe Fahrgeschwindigkeit nicht
gemessen, sondern lediglich vermutet worden sei. Es habe allenfalls der Verdacht einer
Verkehrsordnungswidrigkeit, also einer Bagatelle bestanden. Ferner sei offensichtlich
gewesen, dass der Streifenwagen seiner Breite nach nicht an der Straßensperre habe
vorbeifahren können. Schließlich sei die Geschwindigkeit des Polizeifahrzeugs bei der
Annäherung an die Straßensperre offenbar nicht angemessen gewesen. Die
Polizeibeamten hätten durch ihr Verhalten sowohl ihre Kollegen als auch den bereits
verunglückten Beklagten zu 1) gefährdet.
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Entscheidungsgründe
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Die Klage ist nur zur Hälfte begründet. Die Haftung der Beklagten ergibt sich aus § 7
Abs. 1, § 18 Abs. 1 S. 1 StVG sowie aus § 115 VVG.
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1.
Berücksichtigung des § 18 Abs. 1 S. 2 StVG und des § 828 Abs. 3 BGB nicht entgegen.
Denn Anhaltspunkte dafür, dass dem Beklagten zu 1) die nötige Einsicht dafür fehlte,
dass er Anordnungen von Polizeibeamten zwecks Durchführung einer Kontrolle zu
befolgen hatte und dass er sich an die Regeln der Straßenverkehrsordnung zu halten
hatte, fehlen. Ferner trifft die diesbezügliche Darlegungs- und Beweislast die Beklagten.
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2.
Insofern finden die Regeln über die Herausforderung zu selbstgefährdendem Verhalten
Anwendung.
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a)
selbstgefährdendem Verhalten herausfordert, diesem anderen dann, wenn dessen
Willensentschluss auf einer mindestens im Ansatz billigenswerten Motivation beruht,
aus unerlaubter Handlung zum Ersatz des Schadens verpflichtet sein, der infolge des
durch die Herausforderung gesteigerten Risikos entstanden ist (vgl. BGH, Urteil vom
12. März 1996 - VI ZR 12/95 -, NJW 1996, S. 1533).
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b)
Anwendung. So ist es selbst unter Berücksichtigung einer in Rede stehenden bloßen
Verkehrsordnungswidrigkeit jedenfalls im Ansatz gut nachvollziehbar gewesen, dass
die im beschädigten Polizeifahrzeug befindlichen Polizeibeamten sich nicht nur anfangs
entschieden haben, den mit dem Roller flüchtenden Beklagten zu 1) zu verfolgen,
sondern dass sie später entschieden haben, die bis dahin vergebliche Verfolgung
fortzusetzen, als sie sahen, dass der Beklagte zu 1) versuchte, die Straßensperre zu
umfahren. Daran ändert sich auch nicht allein deshalb etwas, weil der Grünstreifen
neben der Fahrbahn tatsächlich nur ca. 1 m breit war und sich daran unmittelbar ein
Entwässerungsgraben anschloss. Vielmehr hätten sich die Polizeibeamten vor der
Straßensperre und bei der Beobachtung des weiteren Fluchtversuchs des Beklagten zu
1) nur dann nicht zur Fortsetzung der Verfolgung entscheiden dürfen, wenn die genaue
Beschaffenheit der Lücke rechts neben der Straßensperre und des dort befindlichen
Geländes von ihrem Standpunkt aus ohne weiteres erkennbar gewesen wäre. Denn
dann hätten sie schon hier erkennen müssen, dass zum einen die Flucht des Beklagten
zu 1) scheitern könnte und zum anderen sie selbst mit dem Polizeifahrzeug nicht
passieren konnten. Das aber haben die Beklagten nicht hinreichend dargetan. Sie
haben vielmehr nur behauptet, es sei offensichtlich gewesen, dass der ca. 2 m breite
Streifenwagen auf dem ca. 1 m breiten Grünstreifen die Straßensperre nicht habe
passieren können. Maßgebend war aber, dass die Polizeibeamten nicht nur die Breite
des Grünstreifen erkennen konnten, sondern ebenfalls den unmittelbar anschließenden
Entwässerungsgraben als für das von ihnen benutzte Fahrzeug unüberwindliches
Hindernis.
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Auch hat sich in dem Unfall und dem Schaden das vom Beklagten zu 1) geschaffene
Risiko einer Beschädigung des zur Verfolgung eingesetzten Polizeifahrzeugs in
Zusammenhang mit den bei Verfolgungen notwendigen und zu erwartenden
besonderes riskanten Fahrmanövern verwirklicht.
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Nach dem verhältnismäßig großzügigem Maßstab der oben dargelegten
Herausforderungsformel steht der Zurechnung demnach kein Hindernis im Weg.
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3.
konkreten Fall nicht zu Lasten des Klägers auswirkt. Vielmehr ist im Rahmen der
Mitverursachung gemäß § 18 Abs. 3, § 17 StVG zu berücksichtigen, dass die
Polizeibeamten sich vor der Straßensperre für ein besonders riskantes Fahrmanöver
entschieden haben, als sie versuchten, die Verfolgung des mit einem Zweirad, also
einem sehr schmalen Fahrzeug, fahrenden Beklagten zu 1) mit dem wesentlich
breiteren Streifenwagen trotz des schmalen Randstreifens fortzusetzen, ohne zunächst
den Erfolg des Fluchtversuchs des Beklagten zu 1) abzuwarten. Hinzu kommt, dass die
Polizeibeamten dem Beklagten zu 1) hier nicht langsam gefolgt sind, sondern mit so
hoher Geschwindigkeit, dass ein weder ein Ausweichen noch ein rechtzeitiges
Abbremsen möglich war.
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Das Gericht geht mit Rücksicht auf diese besonderen Umstände von einer hälftigen
Mithaftung des Klägers aus.
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4.
Nebenentscheidungen ergeben sich aus den § 91 Abs. 1, § 709 ZPO.
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Streitwert:
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Dr. S
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