Urteil des LG Aachen vom 16.10.2008

LG Aachen: vernehmung von zeugen, baustelle, schmerzensgeld, fahrbahn, kennzeichnung, beleuchtung, aufmerksamkeit, geschwindigkeit, mitverschulden, glaubwürdigkeit

Landgericht Aachen, 7 O 88/07
Datum:
16.10.2008
Gericht:
Landgericht Aachen
Spruchkörper:
7. Zivilkammer
Entscheidungsart:
Grundurteil
Aktenzeichen:
7 O 88/07
Schlagworte:
Rollerfahrer, Fräskante, Verkehrssicherungspflicht, Mitverschulden
Normen:
GG Art. 34; BGB §§ 839, 823 Abs. 1, 831; StVO § 40
Leitsätze:
Umfang der Verkehrssicherungspflicht bei Straßenbauarbeiten
Tenor:
Die Klageanträge sind dem Grunde nach gerechtfertigt
Tatbestand
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Die Klägerin nimmt die Beklagten als Gesamtschuldner wegen der behaupteten
Verletzung einer Verkehrssicherungspflicht aus abgetretenem Recht ihres Ehemannes,
des Zeugen F, auf Leistung von Schadensersatz und Schmerzensgeld in Anspruch.
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Am 20.09.2006 gegen 05:15 Uhr fuhr der Ehemann der Klägerin mit seinem
Kleinkraftroller, amtliches Kennzeichen XXX, von der Straße "Am I" nach rechts auf die
L – Straße in T auf und befuhr diese in Fahrtrichtung BStraße. Nach 30 bis 40 m, in
Höhe der Hausnummer XXX, stürzte der Ehemann der Klägerin mit seinem Roller. Er
wurde zunächst in der unfallchirurgischen Abteilung des C – Krankenhauses, T,
behandelt. Am 14.11.2006 wurde der Ehemann der Klägerin am Knie operiert. Er war
vom 20.09.2006 bis 14.01.2007 arbeitsunfähig krankgeschrieben.
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Auf dem streitgegenständlichen Straßenabschnitt hatte die Beklagte zu 2) zuvor im
Auftrag des Beklagten zu 1) als Straßenbaulastträger Fahrbahninstandsetzungsarbeiten
ausgeführt. Der Beklagte zu 3) war der verantwortliche Bauleiter der Beklagten zu 2).
Bei den Arbeiten wurde unter anderem die Fahrbahnoberfläche abgefräst. Dabei
entstand am rechten Fahrbahnrand eine etwa 4 cm hohe Fräskante, die parallel zur
Fahrbahn verlief. Die Arbeiten wurden abschnittsweise vorgenommen und die Fahrbahn
nach Abschluss der Fräsarbeiten noch vor Aufbringung eines neuen Belages für den
Verkehr wieder freigegeben. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die von der
Klägerin vorgelegten Lichtbilder verwiesen. Im Zusammenhang mit den
Baumaßnahmen erging an die Beklagte zu 2) durch die Stadt T mit Bescheid vom
12.09.2006 u. a. die Anordnung, die Baustelle gemäß den Regelplänen B I/5 bzw. B I/6
auszuschildern. Im Kreuzungsbereich Am I/L-Straße waren jedenfalls die
Verkehrszeichen 123 und 112 der Straßenverkehrsordnung angebracht.
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Die Klägerin behauptet, ihr Ehemann sei während seiner Fahrt auf L – Straße zunächst
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Die Klägerin behauptet, ihr Ehemann sei während seiner Fahrt auf L – Straße zunächst
von einem schneller fahrenden Pkw überholt worden und habe sodann im Rückspiegel
seines Rollers wahrgenommen, dass noch andere Fahrzeuge die Absicht gehabt
hätten, ihn zu überholen. Um dies zu gewährleisten sei er mit seinem Roller weiter nach
rechts gefahren. Hierbei habe er die für ihn bis dahin nicht sichtbare Fräskante
überfahren, auf der er sodann zu Fall gekommen sei. Die Klägerin vertritt die
Auffassung, die von den Beklagten vorgenommenen Sicherungsmaßnahmen seien
nicht ausreichend gewesen. Sie trägt weiter vor, bei dem Unfall habe sich ihr Ehemann
erheblich verletzt, insbesondere habe er sich eine Innenbandruptur und eine
Rissschädigung am Innenmeniskus des rechten Kniegelenks zugezogen. Seine
Krankschreibung sei unfallbedingt. Der materielle Schaden setze sich aus den Kosten
für die Reparatur seines beschädigten Rollers, dem erlittenen Verdienstausfall und einer
allgemeinen Kostenpauschale zusammen. Die Klägerin hält angesichts der erlittenen
Verletzungen ein Schmerzensgeld von 6.000,00 € für angemessen.
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Die Klägerin hat zunächst die Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes und
die Leistung von Schadensersatz von 488,20 € und die Erstattung nicht anrechenbarer,
außergerichtlicher Rechtsanwaltskosten verlangt. Mit Schriftsatz vom 05.06.2007 hat sie
ihre Klage erhöht.
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Die Klägerin beantragt zuletzt,
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1. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an ihn ein in das Ermessen des
Gerichts gestelltes Schmerzensgeld nebst 5 % Zinsen über dem Basiszinssatz seit
dem 21.11.2006 zu zahlen,
2. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an ihn 1.253,57 € nebst 5 %
Zinsen über dem Basissatz seit dem 21.11.2006 zu zahlen.
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Die Beklagten beantragen,
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die Klage abzuweisen.
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Sie behaupten, der Zusammenstoß sei allein schuldhaft durch den Ehemann der
Klägerin verursacht worden. Dieser sei zum einen nicht mit der gehörigen
Aufmerksamkeit gefahren, zum anderen müsse angenommen werden, dass die
Beleuchtung an dem Motorroller nicht ordnungsgemäß funktioniert habe. Die Fräskante
sei nämlich deutlich erkennbar gewesen. Darüber hinaus seien die Verkehrsteilnehmer
ausreichend auf die Gefahren hingewiesen worden. Denn neben den Verkehrszeichen
123 und 112 sei im Abstand von je 100 m das zusätzliche Verkehrszeichen "Achtung, 4
cm starke Fräskante" aufgestellt worden. Die Knieverletzung, die schließlich zu der
Operation geführt habe, sei nicht unfallbedingt, ursächlich seien vielmehr degenerative
Veränderungen, für die die Beklagten nicht einzustehen hätten. Im übrigen müsse
berücksichtigt werden, dass der Ehemann der Klägerin keine Schutzkleidung getragen
hätte. Die Beklagte zu 1) hält ihre Haftung für nicht gegeben, weil sie die Arbeiten
einschließlich der erforderlichen Sicherungsmaßnahmen der Beklagten zu 2)
übertragen hätte und die Beklagte zu 2) ihr als zuverlässig bekannt gewesen sei. Die
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Beklagten zu 2) und 3) sind der Ansicht, ihre Haftung müsse entfallen, weil sie die
Baustelle wie vorgeschrieben beschildert hätten.
Das Gericht hat Beweis durch Vernehmung von Zeugen erhoben. Wegen des
Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung
vom 14.08.2008 (Bl. 168 ff GA) Bezug genommen. Wegen des weiteren Sach- und
Streitstandes wird auf die zur Gerichtsakte gereichten Schriftsätze nebst Anlagen
verwiesen.
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Entscheidungsgründe
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Nachdem zwischen den Parteien sowohl der Anspruchsgrund als auch die
Anspruchshöhe streitig ist, die Frage der Haftung der Beklagten dem Grunde nach
jedoch – wie noch auszuführen sein wird– entscheidungsreif ist, während über die
Frage der Höhe des der Klägerin zustehenden Schadensersatz- und
Schmerzensgeldbetrages noch umfangreich Beweis zu erheben ist, unter anderem
durch Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens zu der Frage der
Unfallbedingtheit der seitens der Klägerin behaupteten Verletzungen und
Verletzungsfolgen ihres Ehemannes, erscheint der Erlass eines Grundurteils gemäß §
304 ZPO geboten.
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Die Klage ist dem Grunde nach gerechtfertigt. Der Klägerin stehen gegen die Beklagten
als Gesamtschuldner aus abgetretenem Recht dem Grunde nach Zahlungsansprüche
auf Leistung von Schadensersatz und Schmerzensgeld gemäß §§ 823 Abs. 1, 839 Abs.
1, 251, 253, 398 BGB i. V. m. Art. 34 GG wegen einer Verletzung der sämtlichen
Beklagten obliegenden Verkehrssicherungspflicht zu.
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Nach der durchgeführten Beweisaufnahme ist zunächst davon auszugehen, dass sich
der Vorfall so ereignet hat, wie ihn die Klägerin geschildert hat. Hiernach ist der
Ehemann der Klägerin, der Zeuge F, gestürzt, als er seinen Motorroller im
Baustellenbereich nach rechts gelenkt hat, um nachfolgenden Fahrzeugen das
Überholen zu ermöglichen, und dabei über die Fräskante am Fahrbahnrand gefahren
ist, wobei er sich Verletzungen - in einem aber noch nicht geklärten Umfang –
zugezogen hat. Diese Annahme folgt aus den glaubhaften Angaben des Zeugen F, der
den Unfallhergang entsprechend diesen Feststellungen für das Gericht nachvollziehbar
geschildert hat. Insbesondere kann nach der Aussage des Zeugen F ausgeschlossen
werden, dass sich der Sturz infolge einer unbeherrschten Lenkbewegung durch den
Zeugen oder wegen Rollsplitts ereignet hat, wie die Beklagten gemutmaßt haben –
allerdings ohne jegliche Anhaltspunkte für ihre Annahme zu nennen. Der Zeuge,
dessen Aussageverhalten und persönlicher Eindruck keinen Anlass bot, an seiner
Glaubwürdigkeit zu zweifeln, hat nämlich sehr lebensnah berichtet, wie das Vorderrad
seines Motorrollers an der Fräskante hängen geblieben ist.
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Ferner ist nach den von der Klägerin vorgelegten Lichtbildern und den Angaben der
Zeugen F, C1 und K davon auszugehen, dass die Baustelle in dem hier
streitgegenständlichen Bereich nur mit den Verkehrszeichen 112 und 123, nicht jedoch
– wie von den Beklagten behauptet worden ist– zusätzlich mit dem Verkehrsschild
"Achtung, 4 cm starke Fräskante" ausgeschildert war.
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Unter diesen Umständen ist eine nicht hinreichende Absicherung bzw. Kennzeichnung
der streitgegenständlichen Baustelle anzunehmen. Denn nach Einschätzung des
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Gerichts hätte eine ordnungsgemäße Absicherung und Kennzeichnung der durch die
Bausstelle geschaffene Gefahrenquelle, insbesondere der parallel zur Fahrtrichtung
verlaufenden Fräskante, einen ausdrücklichen Hinweis durch das an anderer Stelle
seitens der Beklagten zu 2) verwandte Zusatzzeichen erfordert. Die tatsächlich
aufgestellten Gefahrenzeichen 112 und 123 können hingegen nicht als ausreichend
angesehen werden. Zwar muss sich ein Verkehrsteilnehmer bei einer derartigen
Beschilderung sowohl auf Unebenheiten, die bei schneller Fahrt gefährlich werden
können, als auch auf baustellenbedingte Verschmutzungen der Fahrbahn einstellen. Mit
einer am Fahrbahnrand befindlichen bis zu 4 cm hohen Fräskante, die gerade mit einem
Zweirad auch bei nicht allzu hoher Geschwindigkeit nicht ohne weiteres zu überfahren
ist, muss ein Verkehrsteilnehmer bei der vorgenommenen Beschilderung jedoch nicht
rechnen.
Ebenso wenig kann zur Überzeugung des Gerichts angenommen werden, dass der
Unfall allein oder überwiegend auf die unaufmerksame Fahrweise des Zeugen F
zurückzuführen ist. Unabhängig davon, dass die Beklagten ihre Annahme, die
Fräskante hätte von dem Zeugen bei gehöriger Aufmerksamkeit ohne weiteres erkannt
werden müssen, nur ganz allgemein gehalten damit begründet haben, dass der gefräste
Fahrbahnbereich wesentlich dunkler ausgesehen hat als der nichtbetroffene
Fahrbahnrand, kann vorliegend nach den von der Klägerin vorgelegten Lichtbildern
nicht von einer ohne weiteres gegebenen Erkennbarkeit ausgegangen werden. Es ist
nämlich zu berücksichtigen, dass sich der Vorfall am frühen Morgen um 5:15 Uhr
ereignet hat, also zu einem Zeitpunkt, als es noch dunkel, jedenfalls aber dämmrig
gewesen ist und die Sichtverhältnisse auch bei eingeschalteter Straßenbeleuchtung
und ordnungsgemäß funktionierender Beleuchtung des Motorrollers – wie sie von dem
Zeugen F bestätigt worden ist – wesentlich schlechter waren, als zum Zeitpunkt der
Aufnahme der Lichtbilder. Hinzu kommt, dass an der streitgegenständlichen Unfallstelle
nach Schilderung des Zeugen F, die durch die vorgelegten Lichtbilder bestätigt wird,
unmittelbar hinter der Fräskante eine gestrichelte Fahrbahnbegrenzung verläuft, die ein
Erkennen der Fräskante aufgrund unterschiedlicher Fahrbahnfarbe noch erschwert hat.
Unter diesen Umständen ist die Einholung eines Sachverständigengutachtens zur
Frage der Erkennbarkeit der Fräskante nicht geboten gewesen. Schließlich ist nach den
Angaben des Zeugen F auch die weitere Annahme der Beklagten, dass der Zeuge
während seines Lenkmanövers nicht nach vorne sondern in den Rückspiegel geschaut
habe, nicht gerechtfertigt. Denn hiernach hat Zeuge nur vor dem Lenkmanöver in
Spiegel geschaut, währenddessen jedoch nach vorne.
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Die Haftung des Beklagten zu 1) folgt aus § 839 Abs. 1 i. V. m. Art. 34 GG. Denn als
Straßenbaulastträger hat den Beklagten zu 1) die Straßenverkehrssicherungspflicht als
Unterfall der allgemeinen Verkehrssicherungspflicht getroffen. Die Haftung der
Beklagten zu 2) und 3) folgt aus § 823 Abs. 1 BGB. Sämtliche Beklagten waren
eigenverantwortlich und unabhängig voneinander gehalten, die zur Behebung von
Gefahren, die von der streitgegenständlichen Baustelle ausgegangen sind,
erforderlichen Maßnahmen zu treffen. Konkret hätte jeder der Beklagten dafür Sorge
tragen müssen, dass an jeder Einmündung oder an anderer geeigneter Stelle ein
gesonderter Hinweis auf die parallel zur Fahrbahn verlaufende Fräskante aufgestellt
wird. Der Umstand, dass der Beklagten zu 1) die Beklagte zu 2) mit der Durchführung
der Baumaßnahmen und Kennzeichnung bzw. Sicherung der Baustelle beauftragt hat,
kann an dieser Verpflichtung ebenso wenig etwas ändern, wie der Umstand, dass die
Beklagte zu 2) den Beklagten zu 3) zum Bauführer bestellt hat. Durch diese
Maßnahmen sind nur weitere Verpflichtete hinzugetreten (vgl. BGH NJW 1982, 2187 ff,
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LG Aachen, NVwZ 1992, 394 ff und OLG Köln, VersR 1992, 335). Die Beklagte zu 2)
kann auch nicht entlasten, dass das Ordnungsamt die von ihr und ihrem Bauleiter
getroffenen Maßnahmen für ausreichend angesehen hat. Sie war nämlich zur
eigenständigen Prüfung verpflichtet.
Der Anspruch der Klägerin ist schließlich auch nicht wegen eines etwaigen
Mitverschuldens ihres Ehemannes im Hinblick auf die Unfallfolgen gemäß § 254 BGB
zu mindern. Denn der Umstand, dass der Zeuge F als Fahrer eines Kleinkraftrollers
lediglich einen Helm getragen hat, hingegen keine weitere Schutzkleidung, kann nicht
als Sorgfaltsverletzung angesehen werden. Anders als bei dem Fahrer eines
hochmotorigen Motorrollers oder Motorrades kann von einem ordentlichen und
verständigen Fahrer eines Kleinkraftrollers, der nur Geschwindigkeiten von etwa 50
km/h erreicht, nicht erwartet werden, Schutzkleidung zu tragen, um sich bei einem
etwaigen Unfall vor Schaden zu bewahren.
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Eine Kostenentscheidung ist nicht veranlasst, diese ist der Schlussentscheidung
vorbehalten.
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Streitwert
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bis zum 27.06.2007: 6.488,20 €,
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ab dann: 7.266,46 €
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(die geltend gemachten Rechtsanwaltskosten können nicht streitwerterhöhend
berücksichtigt werden, § 4 ZPO).
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